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Rechtsschutz am Erfüllungsort im grenzüberschreitenden Warenhandel nach Lugano-Übereinkommen und Haager Übereinkommen 2019, in: Seitz, C., Straub, R. M., and Weyeneth, R. (eds.) Rechtsschutz in Theorie und Praxis: Festschrift für Stephan Breitenmoser, Basel: Helbing Lichtenhahn Verlag, pp. 497–508

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Rechtsschutz am Erfüllungsort
imgrenzüberschreitenden Warenhandel
nachLugano-Übereinkommen und
Haager Übereinkommen 2019
Ulrich G. Schroeter
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung 497
II. Gerichtsstand am autonom bestimmten Erfüllungsort
im Lugano-Übereinkommen 498
1. Gerichtsstand am Erfüllungsort nach Brüsseler Übereinkommen (1968)
und dem aufgehobenen Lugano-Übereinkommen 498
2. Kritik der Erfüllungsortsbestimmung nach lex causae 499
3. Reform: Übergang zum autonom bestimmten Erfüllungsort
in Brüssel I-VO und Lugano-Übereinkommen 500
III. Gerichtsstand am Erfüllungsort nach lex causae im Haager
Über einkommen 2019 504
1. «Rückkehr» zur lex causae-Bestimmung im globalen Einheitsrecht 504
2. Vorrang von Parteiabreden zum Erfüllungsort 505
3. Ausnahme: Eindeutiges Fehlen einer zielgerichteten und
substantiellen Verbindung der Beklagtentätigkeit zum
Erfüllungsortstaat 506
IV. Bewertung und Schluss 507
I. Einführung
Der Gerichtsstand am Erfüllungsort vertraglicher Verpflichtungen ist die prak-
tisch wichtigste besondere Zuständigkeit, die das Lugano-Übereinkommen über
die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Ent-
scheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007 (nachfolgend
Lugano Übereinkommen resp. LugÜ) vorsieht.1 Als Gründe für diese Zustän-
digkeitsregel werden üblicherweise das Ziel der räumlichen Nähe2 und die enge
1 acoceLLa DoM en ic o, in: Schnyder Anton K. (Hrsg.), Lugano-Übereinkommen zum internatio-
nalen Zivilverfahrensrecht (LugÜ), Kommentar, Zürich/St. Gallen 2011, Art. 5– Nr. 1 bis 3, N9;
KroP ho LL er Ja n/vo n hein Jan , Europäisches Zivilprozessrecht, 9. Aufl., Frankfurt 2011, Art. 5
EuGVVO N 37; LeiBL e s Te fan , in: Rauscher Thomas (Hrsg.), EuZPR/EuIPR, Kommentar,
5. Aufl., Köln 2021, Art. 7 Brüssel Ia-vO N7; sTa DL er as Tri D, in: Musielak Hans-Joachim/Voit
Wolfgang (Hrsg.), Kommentar zur ZPO, 18. Aufl., München 2021, Art. 7 EuGVVO N1.
2 EuGH, Color Drack GmbH/Lexx International Vertriebs GmbH, Urt. v. 3.5.2007, C-386/05,
ECLI:EU:C:2007:262, Rn. 35; Wood Floor Solutions Andreas Domberger GmbH/Silva Trade SA,
Urt. v. 11.3.2010, C-19/09, ECLI:EU:C:2010:137, Rn. 39, 41; BGE 140 III 115, 121, E.6.
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Verknüpfung von Vertrag und zur Entscheidung berufenem Gericht3 genannt.
Diese
Gesichtspunkte stehen seit jeher in einem Spannungsfeld zu weiteren
Rechtsschutzaspekten, wie etwa der Vermeidung unerwünschter Klägerge-
richtsstände, dem Bestreben nach Vorhersehbarkeit für die Streitparteien und
der Bewahrung der Parteiautonomie im prozess- wie materiellrechtlichen Kon-
text. Der vorliegende Beitrag untersucht am Beispiel internationaler Waren-
kaufverträge, wie diese Kriterien im Lugano-Übereinkommen einerseits und im
Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländi-
scher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 2. Juli 2019 (nachfol-
gend Haager Übereinkommen 2019) andererseits unterschiedlich ausbalanciert
werden, und arbeitet den gemeinsamen Kern von europäischem und globalem
Regelungsansatz heraus.
II. Gerichtsstand am autonom bestimmten Erfüllungsort
im Lugano-Übereinkommen
1. Gerichtsstand am Erfüllungsort nach Brüsseler Übereinkommen (1968)
und dem aufgehobenen Lugano-Übereinkommen
Die geltende Regelung im Lugano-Übereinkommen ist nur vor dem historischen
Hintergrund der Rechtslage unter dem Brüsseler Übereinkommen (1968) (EuG-
VÜ)4 verständlich. Dieses sah in seinem noch deutlich einfacher formulierten
Art. 5 Nr. 1 vor, dass eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines
EuGVÜ-Vertragsstaats hat, in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden
kann, «wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des
Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt
worden ist oder zu erfüllen wäre.» Da die Vorschrift selbst nicht sagte, wie dieser
Erfüllungsort zu bestimmen war, wurde diese Frage schon sehr bald nach
Inkrafttreten des EuGVÜ dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Dieser ent-
schied in der RechtssacheTessili– seinem ersten Entscheid zur EuGVÜ– dass
der gerichtsstandsbegründende Erfüllungsort i.S. des Art. 5 Nr. 1 sich «nach dem
Recht [bestimme], das nach den Kollisionsnormen des mit dem Rechtsstreit be -
faßten Gerichts für die streitige Verpflichtung maßgebend ist»,5 also nach der lex
causae. Im de Bloos-Entscheid vom selben Tag konkretisierte der Europäische
Gerichtshof, dass der Erfüllungsort nicht einheitlich für den gesamten Vertrag,
sondern für jede Vertragspflicht separat zu bestimmen sei.6 An dieser Rechtspre-
chung hat der Europäische Gerichtshof auch später dauerhaft festgehalten.7 Als
3 EuGH, Color Drack GmbH/Lexx International Vertriebs GmbH, Urt. v. 3.5.2007, C-386/05,
ECLI:EU:C:2007:262, Rn. 22.
4 Übereinkommen von Brüssel von 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstre-
ckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssache, OJ L 299 v. 31.12.1972, 32 ff.
5 EuGH, Industrie Tessili Italiana Como/Dunlop AG, Urt. v. 6.10.1976, C-12/76.
6 EuGH, Éts. A. de Bloos SPRL/Société en commandite par actions Bouyer, Urt. v. 6.10.1976,
C-14/76, Rn. 9 ff.
7 EuGH, Custom Made Commercial Ltd/Stawa Metallbau GmbH, Urt. v. 29.6.1994, C-288/92,
Rn. 23, 26; GIE Groupe Concorde u.a./Kapitän des Schiffes «Suhadiwarno Panjan» u.a., Urt. v.
28.9.1999, C-440/97, Rn. 29.
Rechtsschutz am Erfüllungsort imgrenzüberschreitenden Warenhandel ... 499
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1988 das Lugano-Übereinkommen geschlossen wurde, lag diese Auslegung damit
bereits vor und wurde für die Parallelvorschrift des Lugano-Übereinkommens
übernommen.
2. Kritik der Erfüllungsortsbestimmung nach lex causae
a) Rechtspolitische Kritikpunkte
Die beschriebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wurde bald in
mehrerlei Hinsicht kritisiert: Zum einen bewirke sie ein unerfreuliches Zustän-
digkeitssplitting für die verschiedenen, aus demselben Vertrag entstammenden
Ansprüche (Kritik an «de Bloos»);8 zum anderen– und wohl: vor allem– führe die
Anknüpfung an die lex causae nicht selten zu Klägergerichtsständen, wenn der
Erfüllungsort für Kaufpreiszahlungen (wie nach Art. 57 Abs. 1 lit. a CISG, aber
auch nach Art. 74 Abs. 2 Ziff. 1 OR) am Verkäufersitz liege,9 was eine übermässige
Privilegierung des Gläubigers der Geldforderung bedeute10 (Kritik an «Tessili»).
b) Kritik der Kritik
Über die Berechtigung dieser Kritik kann man freilich unterschiedlicher Mei-
nung sein. Denn es ist daran zu erinnern, dass dem Gerichtsstand am vertragli-
chen Erfüllungsort überhaupt nur dann eigenständige Bedeutung zukommt,
wenn dieser nicht am Wohnsitz des Beklagten liegt, weil dort ohnehin der allge-
meine Gerichtsstand nach Art. 2 LugÜ eröffnet ist (actor sequitur forum rei). In
der Theorie ist natürlich denkbar, dass der Erfüllungsortsgerichtsstand weder
am Beklagten- noch am Klägerwohnsitz, sondern an einem dritten Ort belegen
ist, etwa am Ort der Übergabe der Kaufsache an ein Transportunternehmen, ihrer
Verbringung an Bord eines Schiffes, ihrer Übergabe an eine als Lieferadressatin
designierte Abnehmerin des Käufers oder Ähnliches. Es ist aber bezeichnend,
dass solche dritten Orte in der Praxis keinerlei Rolle zu spielen scheinen, soweit
es um die Klageerhebung vor dortigen Gerichten geht.11 Aus der Perspektive prak-
tischer Kläger aus Warenkaufverträgen scheint die Wahl vielmehr schlicht eine
binäre zu sein: Man klagt vorzugsweise am eigenen Heimatgericht, und wenn
dessen Zuständigkeit auch über den Erfüllungsort nicht begründbar ist, findet
man sich mit dem Beklagtengerichtsstand ab.12
8 sTaDLe r, a.a.O., Art. 7 EuGVVO N6.
9 sTaDLe r, a.a.O., Art. 7 EuGVVO N6; weLL er MaTThias, The Jurisdictional Filters of the HCCH
2019 Judgments Convention, YB PIL 2019/2020, 277, 296.
10 acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N21.
11 So die Auswertung der europäischen Gerichtspraxis durch Droz georges a.L., Delendum est
forum contractus?, Dalloz1997, 351, 355.
12 schr oe Te r ULrich g., Internationales UN-Kaufrecht, 7. Aufl., Tübingen 2022, Rz. 628.
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3. Reform: Übergang zum autonom bestimmten Erfüllungsort in Brüssel I-VO
und Lugano-Übereinkommen
a) «Autonom» zu bestimmender, vertragseinheitlicher Erfüllungsort
Die EU-Kommission erachtete die beschriebene Kritik gleichwohl als überzeu-
gend und reagierte mit einer grundsätzlichen Reform des Erfüllungsortsge-
richtsstandes, die zunächst zum neu gefassten Art. 5 Nr. 1 Brüssel I-VO
13
führte
und später wortgleich in Art. 5 Nr. 1 LugÜ übernommen wurde. Die Neuformu-
lierung gestaltete die Vorschrift grundsätzlich um, deren Wortlaut nunmehr–
nicht unähnlich der Struktur eines Sandwichs– zwischen lit. a und lit. c der
Norm, die den bisherigen Rechtszustand fortführen,
14
in lit. b zwei Spezialrege-
lungen
15
enthält, die den Erfüllungsort beim Verkauf beweglicher Sachen (erster
Spiegelstrich) und der Erbringung von Dienstleistungen (zweiter Spiegelstrich)
gesondert definieren. Beide Spezialregelungen weichen in zweierlei Hinsicht
von der vormaligen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ab: Sie sol-
len den massgeblichen Erfüllungsort nicht durch Rückgriff auf die lex causae,
sondern «autonom» bestimmen (Abkehr von «Tessili»),
16
und sie bestimmen die-
sen Ort nicht separat für jede streitbehaftete Forderung, sondern einheitlich mit
Wirkung für alle Klagen aus ein und demselben Vertrag
17
(Abkehr von «de Bloos»).
Man erwartete sich von dieser Neufassung einen besseren Ausgleich der Inter-
essen von Vertragsgläubigern und -schuldnern;
18
als Hauptziel gilt das Bestre-
ben nach Vorhersehbarkeit.
19
13 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit
und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, OJ
L 12 v. 16.1.20001, 1 ff.
14 BGE 140 III 115, 119, E.4; acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N65; hofM an n Di eT er a./KU nz
oLiv er M., Kommentierung zu Art. 5 LugÜ, in: Oetiker Christian/Weibel Thomas (Hrsg.), Bas-
ler Kommentar, Lugano Übereinkommen, 2. Aufl., Basel 2016, Art. 5 N170, 275; ManDanis iris,
Zur Revision des Lugano-Übereinkommens im Bereich der direkten Zuständigkeit, SZZP 2007,
309, 312 f.; oBerhaMMer PaUL, Kommentierung zu Art. 5 LugÜ, in: Dasser Felix/Oberhammer
Paul (Hrsg.), Lugano-Übereinkommen (LugÜ), Kommentar, 3. Aufl., Bern 2021, Art. 5 N27 f.
15 acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N64.
16 EuGH, Color Drack GmbH/Lexx International Vertriebs GmbH, Urt. v. 3.5.2007, C-386/05,
ECLI:EU:C:2007:262, Rn. 26; Car Trim GmbH/KeySafety Systems Srl, Urt. v. 25.2.2010,
C-381/08, ECLI:EU:C:2010:90, Rn. 49; acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N83.
17 EuGH, Color Drack GmbH/Lexx International Vertriebs GmbH, Urt. v. 3.5.2007, C-386/05,
ECLI:EU:C:2007:262, Rn. 26; BGE 140 III 115, 120, E.4; 140 III 418, 419, E.3.2; hofMa nn /KU nz ,
a.a.O., Art. 5 N175, 216.
18 acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N26.
19 EuGH, Color Drack GmbH/Lexx International Vertriebs GmbH, Urt. v. 3.5.2007, C-386/05,
ECLI:EU:C:2007:262, Rn. 24; Car Trim GmbH/KeySafety Systems Srl, Urt. v. 25.2.2010,
C-381/08, ECLI:EU:C:2010:90, Rn. 49; BGE 140 III 115, 121, E.6; 140 III 418, 420, E.4.1.
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b) Verortung des autonomen Erfüllungsortes im Warenhandel
Die «pragmatische Bestimmung» des unter Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ massgeblichen
autonomen Erfüllungsorts soll nach der einschlägigen Kommissionsbegründung
auf einem rein faktischen Kriterium beruhen,20 ohne dass man freilich spezifi-
zierte, was dieses rein faktische Kriterium nun sei.21 In der Rechtssache Car Trim
entschied der Europäische Gerichtshof, dass der «Lieferort» i.S.d. Art. 5 Nr. 1
lit. b erster Gedankenstrich Brüssel I-VO der endgültige Bestimmungsort sei, an
dem die Waren dem Käufer körperlich übergeben wurden oder hätten übergeben
werden müssen,22 weil dies der Entstehungsgeschichte, den Zielen und der Syste-
matik der Brüssel I-VO am besten entspreche.23
Ob das autonom-einheitliche Abstellen auf die Übergabe an den Käufer sach-
näher und vorhersehbarer ist als der Rückgriff auf die rechtlichen Erfüllungs-
orte der leges causae erscheint dabei als ebenso zweifelhaft wie die Frage, ob
dieser Ort für jeden Liefervorgang passt. (Sind die Übergabe an einen Transport-
unternehmer oder an einen Abnehmer des Käufers nicht ebenfalls «rein fakti-
sche» Kriterien?24) Vor allem aber verschafft der so bestimmte, «autonome» Lie-
ferort nunmehr dem Käufer einen regelmässigen Klägergerichtsstand,25 sodass
ein zentraler Reformzweck verfehlt wurde– es profitiert nunmehr lediglich die
andere Vertragspartei einseitig, was eine grosszügige Anerkennung von Partei-
vereinbarungen als dringliche Remedur erscheinen lässt.
c) Vorrang von Parteiabreden zum Erfüllungsort
aa) Allgemeines
Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ räumt nämlich Parteiabreden über den Erfüllungsort
explizit Vorrang vor der «autonomen» Erfüllungsortsbestimmung ein, was im
Normwortlaut gleich an zwei Stellen ausgedrückt wird:26 So statuiert zum einen
die Anfangspassage von lit. b einen dahingehenden Vorbehalt («– und sofern
nichts anderes vereinbart worden ist–»), bevor zum anderen in jedem der beiden
Spiegelstriche auf den Ort abgestellt wird, an dem die Lieferung bzw. die Dienst-
leistung «nach dem Vertrag» hätte erfolgen müssen. Der Europäische Gerichtshof
20 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag für eine Verordnung (EG) des
Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Ent-
scheidungen in Zivil- und Handelssachen, KOM(1999) 348 endg., 15.
21 hof Man n/ KU nz , a.a.O., Art. 5 N229.
22 EuGH, Car Trim GmbH/KeySafety Systems Srl, Urt. v. 25.2.2010, C-381/08, ECLI:EU:C:2010:90,
Rn. 60; Electrosteel Europe SA/Edil Centro SpA, Urt. v. 9.6.2011, C-87/10, ECLI:EU:C:2011:375,
Rn. 26; BGE 140 III 418, 430, E.6.2.1.
23 EuGH, Car Trim GmbH/KeySafety Systems Srl, Urt. v. 25.2.2010, C-381/08, ECLI:EU:C:2010:90,
Rn. 60.
24 Nach
oBerhaMMer, a.a.O., Art. 5 N58 soll es gleichwohl auch bei solchen Lieferkonstellatio-
nen auf den Sitz des Käufers ankommen.
25 gei Mer , a.a.O., Art. 7 EuGVVO N113; sch roe Te r, a.a.O., Rz. 628. Anders liegt die Sache freilich
in «Holschuld»-Fällen; siehe dazu BGer, 27.1.2022, 4A_449/2021, E.4.3.2.
26 In diesem Sinne auch Bono Mi an Dr ea , in: Bucher Andreas (Hrsg.), Commentaire romand, Loi
sur le droit international privé, Convention de Lugano, Basel 2011, Art. 5 CL N53; hofM an n/
KUnz , a.a.O., Art. 5 N230.
502 Ulrich G. Schroeter
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bestätigte in der Rechtssache Electrosteel, dass bei Versendungskäufen folglich
der Ort, an den die beweglichen Sachen nach dem Vertrag geliefert worden sind
oder hätten geliefert werden müssen, auf der Grundlage der Bestimmungen die-
ses Vertrags zu bestimmen ist.27 Hierbei sind auch vereinbarte INCOTERMS zu
berücksichtigen.28
Die damit anerkannte Relevanz vertraglicher Erfüllungsortsvereinbarungen
für die Gerichtsstandsbestimmung ist in der Praxis deshalb bedeutsam, weil sol-
che Vereinbarungen nicht den strengen Formvorgaben des Art. 23 Abs. 1 LugÜ für
Gerichtsstandsvereinbarungen unterliegen.29 Da Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ weder für
das Zustandekommen noch für die Form von Erfüllungsortsvereinbarungen
autonome Vorgaben aufstellt, greift insoweit die lex causae ein;30 ein Erfüllungs-
ort kann daher auch formlos vereinbart werden, sofern die anwendbare lex cau-
sae dies zulässt.31 Eine blosse Rechtswahlklausel allein ist freilich nicht als hin-
reichende (gleichsam indirekte) Erfüllungsortsabrede zu werten, weil eine solche
Abrede die Ermittlung des Lieferorts ermöglichen muss, «ohne auf das auf den
Vertrag anwendbare materielle Recht Bezug zu nehmen».32
bb) «Abstrakte» Erfüllungsortsvereinbarung ungenügend
Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung sind Erfüllungsortsvereinbarungen
zudem nur gerichtsstandsrelevant, wenn sie einen Bezug zur Vertragswirklichkeit
haben, d.h. die Leistung auch tatsächlich an dem vereinbarten Ort stattfindet oder
stattfinden soll. Rein prozessual ausgerichtete, «abstrakte» Erfüllungsortsverein-
barungen haben im Rahmen von Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ dagegen keine zuständig-
keitsbegründende Wirkung.
33
Da es sich bei ihnen um verkappte Gerichtsstands-
vereinbarungen handelt, werden sie vielmehr an Art. 23 Abs. 1 LugÜ und den
dortigen Formvorgaben gemessen.
34
Die Literatur stimmt dem zu Recht zu.
35
Eine lediglich «abstrakte» Erfüllungsortsvereinbarung kann etwa vorliegen,
wenn die Parteien die Lieferung der Ware am Ort des Käufers vereinbaren, im
27 EuGH, Electrosteel Europe SA/Edil Centro SpA, Urt. v. 9.6.2011, C-87/10, ECLI:EU:C:2011:375,
Rn. 27 (zu Art. 5 Nr. 1 lit. b erster Gedankenstrich Brüssel I-VO).
28 EuGH, Electrosteel Europe SA/Edil Centro SpA, Urt. v. 9.6.2011, C-87/10, ECLI:EU:C:2011:375,
Rn. 26.
29 gei Mer reinhoLD, in: Geimer Reinhold/Schütze Rolf A., Europäisches Zivilverfahrensrecht,
4. Aufl., München 2020, Art. 7 EuGVVO N174; hofM an n/KU nz , a.a.O., Art. 5 N231.
30 Für Fragen des Zustandekommens, Willensmängel, Geschäftsfähigkeit und Stellvertretung
acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N152; LeiB Le , a.a.O., Art. 7 Brüssel Ia-VO N97; oBer ha M-
Mer , a.a.O., Art. 5 N52; für Formfragen sTaD Ler , a.a.O., Art. 7 EuGVVO N15.
31 acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N77; ebenso zu Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ: EuGH, Zelger/Salinitri,
Urt. v. 17.1.1980, 56/79, ECLI:EU:C:1980:15, Rn. 5.
32 EuGH, Car Trim GmbH/KeySafety Systems Srl, Urt. v. 25.2.2010, C-381/08, ECLI:EU:C:2010:90,
Rn. 55 f.
33 BGE 140 III 170, 172, E.2.2.2; 122 III 249, 251, E.3.b.aa (zu Art. 5 Nr. 1 lit. b aLugÜ); sTaDL er ,
a.a.O., Art. 7 EuGVVO N15.
34 EuGH, Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG)/Les Gravières Rhénanes SARL, Urt. v.
20.2.1997, C-106/95, ECLI:EU:C:1997:70, Rn. 35; BGE 140 III 170, 172, E.2.2.2.
35 acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N80; Bono Mi , a.a.O., Art. 5 CL N56, 70; Droz , a.a.O., 352;
KroP ho LL er /von hein, a.a.O., Art. 5 EuGVO N51; oBerhaMMer, a.a.O., Art. 5 N35.
Rechtsschutz am Erfüllungsort imgrenzüberschreitenden Warenhandel ... 503
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Vertrag jedoch gleichzeitig den Sitz der Verkäuferin als formellen Erfüllungsort
festhalten.36 Sofern eine bewiesene Erfüllungsortsabrede vorliegt, sollte aller-
dings diejenige Partei die Beweislast für deren lediglich «abstrakte» Natur tra-
gen, die sich auf den mangelnden Bezug zur Vertragswirklichkeit beruft.37
cc) Sonstige Einschränkungen für Parteiabreden?
Darüber hinaus werden in Rechtsprechung und Lehre noch weitere (unge-
schriebene) Einschränkungen für Erfüllungsortsabreden vertreten. So meint
das Bundesgericht, dass im Rahmen von Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ allein ein für
die vertrags
charakteristische Verpflichtung gewählter Leistungsort zuständig-
keitsbegründende Wirkung entfalten könne, der für alle Vertragspflichten ein-
heitlich gilt;38 eine hiervon abweichende Vereinbarung eines Zahlungsortes soll
dagegen generell nicht gerichtsstandsrelevant sein.39 Begründet wird dies mit
der Sach- und Beweisnähe (nur) des tatsächlichen Erbringungsorts der charakte-
ristischen Leistung40 sowie dem Regelungsziel, eine Konzentration verschiedener
Ansprüche aus demselben Vertrag bei den Gerichten eines Staates zu erreichen.41
Die beschriebenen Einschränkungen für gerichtsstandsbegründende Erfül-
lungsortsvereinbarungen finden in Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ jedoch keinerlei Stütze
und sind daher abzulehnen. Sie sind mit dem Wortlaut der Norm schon deshalb
unvereinbar, weil deren einleitender Vorbehalt («– und sofern nichts anderes ver-
einbart worden ist–») systematisch gerade vor die vertragseinheitliche Bezug-
nahme auf den Lieferort platziert wurde, von der als blosse Auffangregelung
daher in jeder Hinsicht parteiautonom abgewichen werden kann. Da die (angeb-
lich allein zulässige) Vereinbarung eines Lieferorts schon durch die «nach dem
Vertrag»-Klausel innerhalb des ersten Spiegelstrichs abgedeckt ist, würde das
Normverständnis des Bundesgerichts den einleitenden Vorbehalt jedes Aussage-
gehalts berauben. Schon deshalb muss unter Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ auch die Ver-
einbarung verschiedener Erfüllungsorte unter ein und demselben Vertrag42 oder
eines Erfüllungsorts nur für Geldzahlungen43 zulässig sein.
Und auch in der Sache spricht letztlich nichts dafür, die gerichtsstands-
be
gründende Wirkung vereinbarter Erfüllungsorte einzuschränken. So ist die
angebliche Sach- und Beweisnähe beim Lieferort vielfach ohne wirkliche Rele-
36 BGE 140 III 170, 172, E.2.2.2 im Anschluss an MarK Us aL ex an De r r., Tendenzen beim mate-
riellrechtlichen Vertragserfüllungsort im internationalen Zivilverfahrensrecht, Basel 2009,
171.
37 gei Mer , a.a.O., Art. 7 EuGVVO N176; a.M. acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N81; möglicher-
weise auch BGE 122 III 249, 251, E.3.b.aa.
38 BGE 140 III 170, 173, E.2.2.3; Le iBL e, a.a.O., Art. 7 Brüssel Ia-VO N95; Mar KU s, a.a.O., 173;
sTaD Le r, a.a.O., Art. 7 EuGVVO N15.
39 BGE 140 III 170, 173, E.2.2.3; Bono Mi , a.a.O., Art. 5 CL N 64; ho fM an n/KUn z, a.a.O., Art. 5
N235; im Ergebnis zustimmend oBerhaMMer, a.a.O., Art. 5 N66.
40 BGE 140 III 170, 173, E.2.2.3.
41 sTaD Le r, a.a.O., Art. 7 EuGVVO N15.
42 acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N153; geiM er , a.a.O., Art. 7 EuGVVO N141; KroP ho LL er /
von hein, a.a.O., Art. 5 EuGVO N51.
43 acoceLLa, a.a.O., Art. 5– Nr. 1 bis 3 N153.
504 Ulrich G. Schroeter
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vanz, weil Gerichte bei Streitigkeiten aus Warenkaufverträgen selten oder nie
durch Inaugenscheinnahme der Kaufsache Beweis erheben; bei den von Art. 5
Nr. 1 lit. b LugÜ erfassten Verkäufen beweglicher Sachen ist der Lieferort daher
häufig nicht beweisnäher als der Zahlungsort, zumal die Kaufsache sich zum
Zeitpunkt des Gerichtsverfahrens in vielen Fällen ohnehin nicht mehr am Liefer-
ort befinden wird oder sich, wie in Fällen der Nichtlieferung («hätten geliefert
werden müssen»), nie dort befand. Eine Vereinbarung unterschiedlicher Erfül-
lungsorte für unterschiedliche Pflichten sollte schliesslich auch deshalb nicht
ausgeschlossen werden, weil sie es den Parteien ermöglicht, gegen die Konzent-
ration der Erfüllungsortszuständigkeit am Sitz einer der Parteien zu optieren.
Alleinige Grenze unter Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ sollten daher «abstrakte» Erfül-
lungsortabreden44 sein.
III. Gerichtsstand am Erfüllungsort nach lex causae im Haager Übereinkommen
2019
In jüngerer Zeit ist die sachgerechte Regelung des Gerichtsstands am Erfül-
lungsort in einem weiteren internationalen Kontext erneut diskutiert worden,
nämlich während der Vorbereitungen zum Haager Übereinkommen 2019. Da die-
ses Übereinkommen, das Staaten über die Grenzen Europas hinaus zum Beitritt
offensteht und daher globales Einheitsrecht darstellt, die Anerkennung und
Vollstre
ckung von Urteilen regelt, betrifft es die gerichtliche Zuständigkeit am
Erfüllungsort zwar nur indirekt. Es enthält allerdings in seinem Art. 5 (dem
«Herzstück» des Übereinkommens45) eine abschliessende Liste von Zuständig-
keitsvoraussetzungen für die Urteilsanerkennung (sogenannte «jurisdictional
filters»),46 die bei Lichte betrachtet Gerichtsstände darstellen47 und auch einen
Gerichtsstand am Erfüllungsort umfassen.
1. «Rückkehr» zur lex causae-Bestimmung im globalen Einheitsrecht
Vor dem Hintergrund der Entwicklung in den Brüssel- und Lugano-Regelwerken
mag es aus europäischer Sicht überraschen, dass gemäss Art. 5 Abs. 1 lit. g Haa-
ger Übereinkommen 2019 eine Entscheidung anerkennungs- und vollstreckungs-
fähig ist, wenn sie eine vertragliche Verpflichtung betrifft und von einem Gericht
des Staates erlassen wurde, «in dem diese Verpflichtung nach a) der Vereinbarung
der Parteien oder b) dem auf den Vertrag anzuwendenden Recht, falls der Erfül-
lungsort nicht vereinbart wurde, erfüllt wurde oder hätte erfüllt werden sollen, es
44 Dazu schon II.3.c.bb.
45 soLoMon Dennis, Das Haager Anerkennungs- und Vollstreckungsübereinkommen von 2019
und die internationale Anerkennungszuständigkeit, in: Gebauer Martin/Klötzel Thomas/
Schütze Rolf A. (Hrsg.), Festschrift für Roderich C. Thümmel zum 65. Geburtstag am
23.10.2020, Berlin 2020, 873 ff., 874; weLL er , a.a.O., 282.
46 garc iM ar n francisco/saU Mi er geneviève, Explanatory Report on the Convention of
2.7.2019 on the Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Civil or Commercial
Matters (HCCH 2019 Judgments Convention), Den Haag 2020, Rz. 134; weLLe r, a.a.O., 281.
47 fUch s feLi x, Das Haager Übereinkommen vom 2.7.2019 über die Anerkennung und Vollstre-
ckung ausländischer Urteile in Zivil- oder Handelssachen, GWR 2019, 395 ff., 397.
Rechtsschutz am Erfüllungsort imgrenzüberschreitenden Warenhandel ... 505
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sei denn, die mit dem Geschäft verbundenen Tätigkeiten des Beklagten hatten
eindeutig keine zielgerichtete und substantielle Verbindung zu diesem Staat».
Dass die geographisch global zusammengesetzten Delegierten der Haager Konfe-
renz sich damit erkennbar für eine pflichtenspezifische Erfüllungsortsbestim-
mung nach der lex causae entschieden haben, mag aus westeuropäischer Pers-
pektive wie eine Rückkehr zu einem bereits überwundenen Ansatz erscheinen.
48
Fragt man nach den Gründen für die Regelung in Art. 5 Abs. 1 lit. g Haager
Übereinkommen 2019, so stellen die Materialien zum Übereinkommen klar, dass
es sich um eine Kompromissvorschrift handelt.49 In der Tat ist kaum vorstellbar,
dass die EU-Kommission, die bei den Verhandlungen zum Übereinkommen eine
prominente Rolle spielte,50 die mutmasslichen Vorteile des Regelungsansatzes
von Art. 7 Abs. 1 Brüssel Ia-VO51 nicht nachdrücklich aufgezeigt haben wird. Dass
Art. 5 Abs. 1 lit. g Haager Übereinkommen 2019 durch sein Abstellen auf die
streitbehaftete Verpflichtung von dem vertragseinheitlichen Erfüllungsort sowie
seinen lex causae-Ansatz gleich mehrfach von der geltenden Brüssel Ia- und
Lugano-Lösung abweicht, war daher kein Versehen,52 sondern geht auf eine
bewusste Entscheidung der Übereinkommensverfasser zurück. Sie konnten sich
dabei auf die sorgfältige Prüfung53 der Sachfrage stützen, die während der wech-
selhaften Vorarbeiten zum Schwesterübereinkommen von 2005 (dem Haager
Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen vom 30.6.2005) erfolgt war.
2. Vorrang von Parteiabreden zum Erfüllungsort
Bezeichnend ist, dass auch Art. 5 Abs. 1 lit. g (i) Haager Übereinkommen 2019
erfüllungsortsbezogene Parteivereinbarungen als gerichtsstandsbegründend
anerkennt, und zwar noch klarer als Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ: Zum einen stellt die
Positionierung der diesbezüglichen Regelung in (i) des Art. 5 Abs. 1 lit. g Haager
Übereinkommen 2019 systematisch deren Vorrang vor der lex causae-Auffangre-
gel in (ii) sicher, und zum anderen vermeidet die separate und einschränkungs-
lose Formulierung des (i) die Unsicherheiten, die aus der zweifachen Einflech-
tung der Parteiautonomie innerhalb des Wortlauts von Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ
entstanden sind.
Ob eine Parteiabrede über einen oder mehrere Erfüllungsorte zustande
gekommen ist, bestimmt sich auch unter Art. 5 Abs. 1 lit. g (i) Haager Überein-
kommen 2019 nach der anwendbaren lex causae.54 Die von der h.M. unter Art. 5
Nr. 1 lit. b LugÜ vertretenen Einschränkungen, die schon dort als nicht überzeu-
48 In diesem Sinne soLoMon, a.a.O., 878.
49 gar ciM ar n/saU Mi er , a.a.O., Rz. 180.
50 Vgl.
wiLD er sP in Mi ch ae L/v ys oK a LenK a, The 2019 Hague Judgments Convention through
European lenses, NIPR 2020, 34, 35 ff.
51 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung
von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, OJ L 351 v. 20.12.2012, 1 ff.
52 Vgl.
garc iM ar n/s aU Mi er , a.a.O., Rz. 181.
53 So
Mar KUs , a.a.O., 112.
54 weLL er , a.a.O., 296.
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www.claudia-wild.de: Festschrift_Breitenmoser__004_[Druck-PDF]/29.11.2022/Seite 506
gend identifiziert wurden,55 lassen sich nicht auf das Haager Übereinkommen
2019 übertragen; INCOTERMS kommen demgegenüber auch hier nach Massgabe
des einschlägigen Vertragsrechts als Lieferortabreden in Frage. Eine blosse
Rechtswahlklausel stellt dagegen nach Sinn und Zweck auch unter dem neuen
Übereinkommen keine hinreichende Erfüllungsortsabrede dar.56
«Abstrakten» Erfüllungsortsvereinbarungen wohnt– ebenso wie unter Art. 5
Nr. 1 LugÜ57 – auch unter dem Haager Übereinkommen 2019 grundsätzlich die
Gefahr einer Umgehung strengerer Formanforderungen für Gerichtsstandsver-
einbarungen inne. Allerdings ist der Umgang mit dieser Gefahr unter dem neuen
Übereinkommen methodisch komplexer: Während die Rechtsprechung unter
EuGVÜ und Lugano-Übereinkommen einfach auf das «System des Übereinkom-
mens» verweisen konnte, um abstrakten Erfüllungsortsabreden eine gerichts-
standsbegründende Wirkung zu versagen,58 trägt dieses Argument unter dem
Haager Übereinkommen 2019 so nicht, weil dieses Übereinkommen in Art. 5
Abs. 1 lit. m überhaupt nur nicht ausschliessliche Gerichtsstandsvereinbarun-
gen erfasst, bei denen definitionsgemäss keine Umgehung droht. Man müsste
daher mit einer übereinkommensübergreifend-systematischen Auslegung arbei-
ten, will man die Formanforderungen für ausschliessliche Gerichtsstandsverein-
barungen in Art. 23 lit. c des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsver-
einbarungen vom 30.6.2005 schützen, wofür Art. 23 Abs. 1 Haager Übereinkommen
2019 eine gewisse Grundlage bietet.
3. Ausnahme: Eindeutiges Fehlen einer zielgerichteten und substantiellen
Verbindung der Beklagtentätigkeit zum Erfüllungsortstaat
Art. 5 Abs. 1 lit. g in fine Haager Übereinkommen 2019 verlangt zudem eine hin-
reichende Verbindung der Beklagtentätigkeit zum Staat des Erfüllungsorts,
deren Fehlen den dortigen Gerichtsstand entfallen lässt («es sei denn, die mit
dem Geschäft verbundenen Tätigkeiten des Beklagten hatten eindeutig keine
zielgerichtete und substantielle Verbindung zu diesem Staat»). Dieses separate
Kriterium hat kein Gegenstück im europäischen Gerichtsstandsrecht, sondern
wurde der Voraussetzung des «purposeful availment» des US-amerikanischen
Zuständigkeitsrechts nachgebildet, das man dort wiederum aus dem verfas-
sungsrechtlichen «due process»-Gebot ableitet:59 Danach kann eine Person nur
dann in einem US-Bundesstaat oder ausländischen Staat verklagt werden, wenn
sie hinreichende Kontakte zu diesem Staat aufweist.60 Das kanadische Recht ver-
langt eine ähnliche Verbindung.61 Die Aufnahme eines entsprechenden Kriteriums
55 Vgl. II.3c.cc.
56 gar ciM ar n/saU Mi er , a.a.O., Rz. 183; weLL er , a.a.O., 297.
57 Dazu schon II.3.c.bb.
58 EuGH, Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG)/Les Gravières Rhénanes SARL, Urt. v.
20.2.1997, C-106/95, ECLI:EU:C:1997:70, Rn. 31.
59 van Loon, a.a.O., 13; soLoMon, a.a.O., 879.
60 International Shoe Co./Washington, 326 U.S. 310, 316 ff. (1945); World-Wide Volkswagen
Corp./Woodson, 444 U.S. 286, 291 ff. (1980).
61 wiLD er sP in /vys oKa , a.a.O., 42 f.
Rechtsschutz am Erfüllungsort imgrenzüberschreitenden Warenhandel ... 507
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in Art. 5 Abs. 1 lit. g Haager Übereinkommen 2019 sollte daher Bedenken von
nordamerikanischer Seite Rechnung tragen, das blosse Abstellen auf den Konnex
von Gericht und Rechtsstreit (wie in Art. 5 Nr. 1 LugÜ) könne allein zu niedrig-
schwellig sein.62
In welchen Fällen diese Einschränkung konkret zum Tragen kommen soll, ist
indes unklar,63 was die Vorhersehbarkeit der Normanwendung beeinträchtigt.64
Ihre Auslegung kann nicht einfach das US- oder kanadische Recht spiegeln, weil
Art. 20 Haager Übereinkommen 2019 eine autonome Übereinkommensinterpreta-
tion verlangt. Die systematische Stellung der Einschränkung als separater,
abschliessender Halbsatz der Norm spricht dafür, dass sie sich nicht nur auf die
Erfüllungsortsbestimmung nach der lex causae (ii), sondern auch auf diesbezüg-
liche Parteiabreden (i) bezieht.65 Allerdings sollte man annehmen, dass eine ver-
tragliche Erfüllungsortsabrede immer eine «zielgerichtete und substantielle Ver-
bindung» des Beklagten zum vereinbarten Staat darstellt, sodass eine solche
Vereinbarung die Beseitigung der drohenden Rechtsunsicherheit erlaubt. Dies
dürfte zugleich den Bedenken aus US-Perspektive Rechnung tragen, weil ein aus-
drücklicher oder impliziter Konsens des Beklagten auch dort «due process»
sichert.66
IV. Bewertung und Schluss
Wie vorstehend aufgezeigt, wirft die sachgerechte Regelung des internationalen
Gerichtsstands am Erfüllungsort erhebliche Schwierigkeiten auf, die gerade im
Kontext des grenzüberschreitenden Warenhandels sichtbar werden. Das Abstel-
len auf einen autonom bestimmten Erfüllungsort in Art. 5 Nr. 1 lit. b LugÜ wird
verbreitet als unklar kritisiert67 und hat auch die unter der Vorgängerregelung
beklagte Entstehung eines Klägergerichtsstands nicht behoben, sondern ledig-
lich den unter leges causae häufigen Klägergerichtsstand des Verkäufers durch
einen solchen des Käufers ersetzt. Da die bezweckte Sach- und Beweisnähe von
Erfüllungsorten beim internationalen Kauf beweglicher Sachen ohnehin sehr
bescheiden ist68 und, anders als etwa bei Verträgen über Bauwerke oder bei
Arbeitsverträgen, allenfalls zufällig besteht,69 überrascht es nicht gänzlich, dass
im neueren Art. 5 Abs. 1 lit. g (ii) Haager Übereinkommen 2019 nunmehr wieder
an die lex causae angeknüpft wird. Weniger geeignet als der geltende Ansatz des
62 van Loon h ans, Towards a global Hague Convention on the Recognition and Enforcement of
Foreign Judgments in Civil or Commercial Matters, NIPR 2020, 4 ff., 12; Poesen Mic hi eL , Is
specific jurisdiction dead and did we murder it? An appraisal of the Brussels Ia Regulation
in the globalizing context of the HCCH 2019 Judgments Convention, Unif. L. Rev. 2021, 1 ff.,
10 f.
63 soLoMon, a.a.O., 880.
64 Poesen, a.a.O., 11; van Loon, a.a.O., 13; weLLe r, a.a.O., 296.
65 A.A.
weLL er , a.a.O., 295.
66 Ins. Co. of Ireland/Compagnie des Bauxites, 456 U.S. 694, 703 f. (1982).
67 hofM an n/KU nz , a.a.O., Art. 5 N267; oBerhaMMer, a.a.O., Art. 5 N59.
68 Vgl.
Lei BLe , a.a.O., Art. 7 Brüssel Ia-VO Rn. 9, 80; oBerhaMMer, a.a.O., Art. 5 N14; auch BonoM i,
a.a.O., Art. 5 CL N37.
69 sTaD Le r, a.a.O., Art. 7 EuGVVO N1.
508 Ulrich G. Schroeter
www.claudia-wild.de: Festschrift_Breitenmoser__004_[Druck-PDF]/29.11.2022/Seite 508
Lugano-Übereinkommens dürfte das traditionelle Abstellen auf Erfüllungsorte
des materiellen Kaufrechts im Ergebnis jedenfalls kaum sein.70
Einen gemeinsamen Kern haben die Erfüllungsortsgerichtstände von Lugano-
Übereinkommen und Haager Übereinkommen 2019 immerhin im Vorrang ver-
traglicher Erfüllungsortabreden. Viel spricht dafür, auch die Reichweite dieses
Vorrangs in beiden Regelwerken kongruent zu verstehen und weiterzuentwi-
ckeln, um der Parteiautonomie nicht grundlos unterschiedliche zivilverfahrens-
rechtliche Grenzen zu setzen, soweit der innereuropäische Warenhandel einer-
seits und der Warenaustausch mit aussereuropäischen Partnern andererseits in
Rede steht.
70 A.A. soLoMon, a.a.O., 881; weLL er , a.a.O., 299.
Helbing Lichtenhahn
Herausgegeben von
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Ralf Michael Straub
Robert Weyeneth
Festschrift für
Stephan Breitenmoser
Rechtsschutz in
Theorie und Praxis
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  • Eugh
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