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Rezension: Wjatscheslaw Daschitschew: Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik. 2002

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Oft schon war die größte Machtentfaltung eines Reiches der Moment kurz vor dem Abstieg. Napoleon stand in Moskau, Britannien umspannte die halbe Erde, Hitlers Truppen standen vor Stalingrad und El Alamein, die Sowjetunion hatte Südostasien, Angola, Nikaragua und Afghanistan zu ihrem Einflußbereich addiert. Doch die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Mutterlandes standen mit den militärischen Belastungen schon lange nicht mehr in Einklang. Die Verbündeten werden zu Hilfeleistungen genötigt, die nicht in ihrem Eigeninteresse sind, und damit verprellt. Eigentlich hat sich die Geschichte seit Athen und Sparta schon so oft wiederholt, daß man sich fragen muß, ob die Mächtigen nicht fähig sind, daraus zu lernen. Warum wiederholt sich dieser Kreislauf, den Paul Kennedy in seinem Buch "Aufstieg und Fall der großen Mächte" (das man als Hintergrund zu Daschitschew unbedingt kennen sollte) analysiert hat, immer wieder? Mit dem Rückzug aus Vietnam hatten die USA die richtige Lehre gezogen. Aber für wie lange? Der Bildungs-und Erfahrungshintergrund von Daschitschew ist eindrucksvoll. Der Frontsoldat des 2. Weltkrieges kennt nicht nur Clausewitz im Original, sondern auch Kant und die Denkschriften des deutschen Generalstabschefs Beck, der Hitler rechtzeitig, aber vergeblich, davor zu warnen versucht, daß sich jeder europäische Krieg wieder zu einem Weltkrieg entwickeln wird, den Deutschland schließlich verlieren wird. Durch die Analyse der deutschen Politik und Niederlage in den beiden Weltkriegen begann Daschitschew das Prinzip der "reflektierenden Rückwirkung" zu begreifen. Machtfülle, Überrüstung und militärischer Erfolg einer Großmacht führen stets dazu, daß sich Schritt für Schritt die anderen Mächte gegen eine Supermacht verbünden. Daschitschew bemerkt mit Schrecken: Stalins Politik und die seiner Nachfolger war eine derartige Großmachtpolitik, die zum Präventivkrieg herausforderte und die "reflektierende Rückwirkung" des Kalten Krieges zwangsläufig auf sich zog.
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Rezension: Wjatscheslaw Daschitschew: Moskaus
Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte
hegemonialer Politik. Mittler und Sohn 2002, 530 Seiten
Volkmar Weiss
Ob es Condoleeza Rice gelesen hat?
Reviewed in Germany on 8 October 2003
Oft schon war die größte Machtentfaltung eines Reiches der Moment kurz vor dem
Abstieg. Napoleon stand in Moskau, Britannien umspannte die halbe Erde, Hitlers
Truppen standen vor Stalingrad und El Alamein, die Sowjetunion hatte Südostasien,
Angola, Nikaragua und Afghanistan zu ihrem Einflußbereich addiert. Doch die
wirtschaftlichen Möglichkeiten des Mutterlandes standen mit den militärischen
Belastungen schon lange nicht mehr in Einklang. Die Verbündeten werden zu
Hilfeleistungen genötigt, die nicht in ihrem Eigeninteresse sind, und damit verprellt.
Eigentlich hat sich die Geschichte seit Athen und Sparta schon so oft wiederholt, daß
man sich fragen muß, ob die Mächtigen nicht fähig sind, daraus zu lernen. Warum
wiederholt sich dieser Kreislauf, den Paul Kennedy in seinem Buch „Aufstieg und Fall
der großen Mächte" (das man als Hintergrund zu Daschitschew unbedingt kennen
sollte) analysiert hat, immer wieder? Mit dem Rückzug aus Vietnam hatten die USA die
richtige Lehre gezogen. Aber für wie lange?
Der Bildungs- und Erfahrungshintergrund von Daschitschew ist eindrucksvoll. Der
Frontsoldat des 2. Weltkrieges kennt nicht nur Clausewitz im Original, sondern auch
Kant und die Denkschriften des deutschen Generalstabschefs Beck, der Hitler
rechtzeitig, aber vergeblich, davor zu warnen versucht, daß sich jeder europäische
Krieg wieder zu einem Weltkrieg entwickeln wird, den Deutschland schließlich verlieren
wird. Durch die Analyse der deutschen Politik und Niederlage in den beiden
Weltkriegen begann Daschitschew das Prinzip der „reflektierenden Rückwirkung" zu
begreifen. Machtfülle, Überrüstung und militärischer Erfolg einer Großmacht führen
stets dazu, daß sich Schritt für Schritt die anderen Mächte gegen eine Supermacht
verbünden. Daschitschew bemerkt mit Schrecken: Stalins Politik und die seiner
Nachfolger war eine derartige Großmachtpolitik, die zum Präventivkrieg herausforderte
und die „reflektierende Rückwirkung" des Kalten Krieges zwangsläufig auf sich zog. Auf
der Grundlage derartiger Analysen und Einsichten - und auch sehr beeindruckt von der
Feindschaft Chinas, dem nationale Interessen bald wichtiger waren als der Kampf
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gegen den angeblichen gemeinsamen Klassenfeind - kam Daschitschew als
außenpolitischer Berater des Kremls Anfang der siebziger Jahr zu dem Schluß, daß die
innerlich wirtschaftlich schwache Sowjetunion, die nach außen auf dem Höhepunkt
ihrer Macht stand, vor dem drohenden Absturz steht, und er versuchte, die Mächtigen
im Kreml zu einer Umorientierung ihrer Außenpolitik und zum Stoppen ihrer
Überrüstung zu bewegen.
Die in dem Buch wiedergegebenen Denkschriften und ihre Begründungen sind eine so
erstklassige und zeitlose Lektüre, daß sie jeder Politiker und Historiker kennen sollte.
Sie belegen nämlich auch, d Politiker dazu neigen, die Meinungen ihrer
wissenschaftlichen Berater zu ignorieren (wenn diese nicht sogar entlassen oder
eingesperrt werden). Die Ignoranz herrschte auch im Kreml. Als Daschitschews
Mahnungen endlich bei Gorbatschow auf fruchtbaren Boden fallen, ist es schon zu
spät. Der geistige Triumph des Beraters Daschitschew besteht in dem, was er
vorhergesagt hat, aber eigentlich verhindern wollte: Die Sowjetunion und ihr
Herrschaftsbereich zerfällt.
Es ist dasselbe Verhältnis, in der sich angesichts der gegenwärtigen Situation der
Renten- und Sozialkassen die Berater der deutschen Politik etwa seit 1970 befinden,
vgl. Herwig Birg „Die demographische Zeitenwende". Ist in Massengesellschaften, die
der inneren Schwerkraft der Entscheidungsverzögerung folgen, vielleicht gar keine
andere Entwicklung als das Durchschreiten der tiefen Talsohle möglich? - Das Wunder
der Person Daschitschew besteht darin, daß es sie überhaupt gegeben hat. Denn
zumeist umgeben sich die Spitzenpolitiker mit Beratern und Mitarbeitern, die ihnen das
raten, was sie sowieso gern hören möchten. „Die Renten sind sicher" - wer erinnert sich
nicht.
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