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Portrait. Ursula Reutner

Authors:
Romanistik in Geschichte und Gegenwart 17,1 (2011) © Helmut Buske Verlag, Hamburg
Portrait
Ursula Reutner
Mein Interesse an der italienischen Sprache und Kultur
wurde im Richard-Wagner-Gymnasium in Bayreuth
geweckt. Es war die erste Sprache, die noch niemand in
meiner Umgebung gelernt hatte, und das motivierte
mich ungemein. Hinzu kamen als Motivatoren enga-
gierte Lehrer, die u.a. Austauschprogramme mit La
Spezia und Palermo organisierten und damit schöne
Freundschaften ermöglichten. Die so geweckte Begeis-
terung ließ mich als zweites Leistungskursfach neben
Mathematik Italienisch wählen und wurde durch ver-
schiedene Preise nur noch gestärkt. Doch niemals hätte
ich daran gedacht, diese Neigung jemals in einen attraktiven Beruf einbringen
zu können.
Nach dem Abitur ging ich zunächst als Au-pair nach Destin/Florida und
kümmerte mich um einen kleinen Jungen, der mir mindestens genauso viel bei-
brachte wie ich ihm. Im Rahmen der Bayerischen Begabtenförderung begann
ich dann „Europäische Betriebswirtschaft“ an der Universität Bamberg zu stu-
dieren. Nebenbei besuchte ich Kurse in anderen Disziplinen und spätestens nach
einem besonders ansprechenden Lyrik-Seminar war mir klar, dass ich die Philo-
logie vertiefen wollte. Immer noch konnte ich mir nicht vorstellen, damit einmal
Geld verdienen zu können, und war überzeugt, das Ganze später noch durch et-
was Handfesteres ergänzen zu müssen aber gerade in dieser Haltung konnte
ich meinen kleinen „Luxus“ sehr genießen und legte am Ende die Magister-
Prüfung in italienischer, spanischer und englischer Philologie ab.
Ganz ließ sich die Frage nach dem „Was dann?“ natürlich nie ausblenden.
So dolmetschte ich auf internationalen Messen und absolvierte Praktika im In-
und Ausland, von denen mich v.a. diejenigen an der Deutschen Botschaft in
Quito, Ecuador, und am Goethe-Institut in Chennai, Indien, nachhaltig prägten.
Für meine heutige Tätigkeit wegweisend waren ein Postgraduierten-Studium der
Französischen Sprachwissenschaft und Kunstgeschichte an der Université Paris
IV-Sorbonne und danach ein Stipendium der Rotary Foundation, das es mir er-
möglichte, in Salvador de Bahia, Brasilien, Portugiesisch zu lernen.
In Bamberg hatte ich mich nach meiner Begeisterung für Lyrik und Theater
immer mehr der Sprachwissenschaft zugewandt. Die Vorlesungen bei Annegret
Bollée und ihr persönlicher Einsatz für die Studierenden zogen mich wie viele
andere stark an. Sie war es auch, die mich bereits bei einer Exkursion im zwei-
ten Semester darauf ansprach, den vermeintlich „vernünftigen“ Berufszielen
vielleicht ja noch eine Promotion voranzusetzen. Als sich dann die Möglichkeit
ergab, an der Universität Augsburg eine volle Assistentenstelle am Lehrstuhl für
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„Romanische Sprachwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Fran-
zösischen“ zu vertreten, sagte ich zu. Denn es gab ein aktuelles Thema, das
mich wirklich brennend interessierte: In Frankreich wurden im Jahre 2000
Kreolsprachen als Regionalsprachen anerkannt und 2001 wurde ein CAPES de
créole eingeführt. Welche Auswirkungen hatten diese Aufwertungsbestrebun-
gen? Wie konfliktreich ist die Zweisprachigkeit Kreolisch/Französisch an der
Schwelle zum 21. Jahrhundert? Dem wollte ich nachgehen.
So übernahm ich 2001 einen Lehrauftrag an der Universität Bayreuth, trat
die Stelle einer Wissenschaftlichen Mitarbeiterin an der Universität Augsburg
an und begann mit der Promotion. Mit einem Stipendium des DAAD konnte ich
die für die Dissertation notwendige Feldforschung durchführen. 2004 wurde ich
in Französischer Sprachwissenschaft promoviert; 2005 erschien die Dissertation
mit dem Titel Sprache und Identität einer postkolonialen Gesellschaft im Zeital-
ter der Globalisierung. Eine Studie zu den französischen Antillen Guadeloupe
und Martinique in der Reihe Kreolische Bibliothek. Sie gilt einerseits dem
Sprachbewusstsein der (zukünftigen) Elite beider Inseln, andererseits Fragen der
Sprachplanung in dieser spezifischen Situation von Zweisprachigkeit sowie
Modalitäten ihres Funktionierens. 2005 wurde die Arbeit mit dem Elise-Richter-
Preis ausgezeichnet und 2006 mit dem Prix Germaine de Staël.
Mit einer von Annegret Bollée begleiteten Dissertation arbeitete ich also am
Lehrstuhl von Lothar Wolf. Natürlich war ich meinem Chef dankbar, dass er das
Thema akzeptierte, und wollte mich gleichzeitig auch in seine eigenen Schwer-
punkte einarbeiten. Hierzu gehörte neben der Mehrsprachigkeit in verschiede-
nen Regionen des Hexagons und der Sprachgeographie v.a. die Kanadistik, die
mit dem Institut für Kanada-Studien in Augsburg sehr attraktiv war und ver-
schiedene Anknüpfungspunkte an die Kreolistik zuließ. Neben Fragestellungen
der Sprachgeographie und Normenfindung bewegte mich auch wieder das
sprachpolitische und alltägliche Funktionieren der Zweisprachigkeit. Mit einem
Stipendium der kanadischen Regierung konnte ich 2005 hierzu vor Ort forschen
(cf. u.a. 400 Jahre Québec. Kulturkontakte zwischen Konfrontation und Koope-
ration, ed. 2009). Bei der Lehre in Augsburg ging es hingegen v.a. um eine op-
timale Vorbereitung der Studierenden auf das zentrale Bayerische Staatsexa-
men, an dessen Anforderungen sich Kurse zu Phonetik und Phonologie,
Morphologie und Syntax, Varietäten des Französischen/Italienischen ausrichte-
ten.
Angesichts anfänglich prekärer Arbeitsverhältnisse mit einer Reihe von Ver-
trägen, die jeweils nur auf einige Monate befristet sein konnten, versuchte ich
meinen Arbeitseinsatz zu maximieren und gleichzeitig den Blick auf außeruni-
versitäre Berufsmöglichkeiten zu richten. Wann auch immer ich mich der Al-
tersgrenze für ein bestimmtes Auswahlverfahren näherte, stand die Frage im
Raum, ob ich es mir leisten wollte, die entsprechende Türe für immer zuschla-
gen zu sehen. Diese Situation veränderte sich, als mich die neue Lehrstuhlinha-
berin Sabine Schwarze als ihre Assistentin übernahm. Der entsprechende Drei-
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Jahres-Vertrag gab mir Planungssicherheit und ermöglichte so den Beginn der
Habilitation.
Schon länger interessierte mich die Frage, wer worüber wann mit wem nicht
direkt reden darf oder will. Ihr ging ich am Beispiel von Euphemismen nach, die
ja bekanntlich Reaktionen auf sprachliche Tabuisierungen sind. Basierend auf
einem französischen und einem italienischen Korpus lexikographisch ausgewie-
sener Euphemismen habe ich versucht, die Entstehung und Entwicklung zentra-
ler Euphemismusbereiche beider Sprachen diachronisch zu erklären. Dabei
ergaben sich neben deutlichen Mängeln in der Lexikographie kulturelle Unter-
schiede in der Euphemisierung und eine umfassende Definition des Phänomens
Euphemismus. 2007 wurde mir die Venia legendi für „Romanische Philologie“
erteilt; 2009 erschien die Arbeit unter dem Titel Sprache und Tabu. Interpreta-
tionen zu französischen und italienischen Euphemismen in den Beiheften zur
Zeitschrift für romanische Philologie. Das Thema sprachlicher Tabuisierung be-
schäftigt mich bis heute. Zusammen mit Elmar Schafroth organisiere ich derzeit
eine Sektion zum Thema Politische Korrektheit in der Romania für den nächs-
ten Romanistentag in Berlin.
Noch vor Abschluss des Habilitationsverfahrens machte mir Alf Monjour
das Angebot, ab dem Sommersemester 2007 den Lehrstuhl von Bernd Spillner
an der Universität Duisburg-Essen zu vertreten. Den Gedanken, nach einer aka-
demischen Sozialisation in Bayern die Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen
kennenlernen zu dürfen, fand ich verlockend. Auch war es reizvoll, endlich ei-
gene Hauptseminare und Vorlesungen anzubieten und wieder verstärkt das Spa-
nische zu berücksichtigen, das in Augsburg nur durch die Nähe zu den Redak-
teuren iberoamerikanischer Wörterbücher am Lehrstuhl von Reinhold Werner
gepflegt werden konnte. Das veränderte Augenmerk auf die Hispanistik beein-
flusste nicht nur meine Lehre, sondern ließ auch meine Forschung zu Tabus und
Euphemismen auf das Spanische ausweiten. Während ich zuvor durch Annegret
Bollée Vertreter der internationalen Kreolistik kennenlernen durfte, dank Lothar
Wolf Wissenschaftler aus Frankreich und Kanada sowie durch Sabine Schwarze
Philologen aus Italien, kamen nun immer mehr Kontakte zu Kollegen aus Spa-
nien hinzu.
Je mehr wissenschaftliche Texte entstanden, umso drängender wurde die
Frage, „Was ist denn eigentlich guter wissenschaftlicher Schreibstil?“. Ist die
Konzentration des Autors auf Lesbarkeit wirklich unwissenschaftlich? Darf ich
meinen Text nun mit Metaphern schmücken oder nicht? Ist das „ich“ prinzipiell
durch unpersönliche Konstruktionen zu ersetzen? Von verschiedenen Seiten
kamen widersprüchliche Ratschläge, und auch die Lektüre der Texte meiner
Lehrer gab unterschiedliche Richtungen vor. Angetrieben von den offenen Fra-
gen startete ich mit Sabine Schwarze ein Forschungsprojekt zur Wissenschafts-
sprache, das auch den sprach- und kulturspezifischen Unterschieden nachgeht
(cf. u.a. Le style, c’est l’homme. Unité et pluralité des langages scientifiques, ed.
2007). Bislang habe ich vergleichende Untersuchungen zum metalinguistischen
Bewusstsein in Spanien, Frankreich und Italien durchgeführt und ausgewertet.
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Meine erste Lebenszeitstelle erhielt ich 2009 in Passau, wo ich als einzige
Professorin für Romanische Sprach- und Kulturwissenschaft seither vier roma-
nische Sprachen vertrete. Außer in Madrid und der Passauer Partnerstadt Mála-
ga bin ich nun viel in Buenos Aires tätig, um mit der dortigen Universidad del
Salvador ein neues Doppelabschlussprogramm aufzubauen. Inhaltlich neue
Schwerpunkte betreffen besonders die Mediensprache, der ich mich als Mitglied
des Instituts für interdisziplinäre Medienforschung verstärkt widme. Einerseits
weckten die Synchronfassungen ausländischer Filme mein Interesse dafür, wie
Kultureme in der Übersetzung adäquat wiedergegeben werden können. Ande-
rerseits beschäftige ich mich mit der Sprache der digitalen Medien und insbe-
sondere mit der Überlegung, was passiert, wenn unterschiedliche Diskurstraditi-
onen im Netz aufeinandertreffen. Der konkreten Frage, Von der digitalen zur
interkulturellen Revolution?, widme ich im Sommer ein Kolloquium.
Entsprechend dem Profil der Universität Passau mit Studiengängen wie dem
Kulturwirt rückt die Aussagekraft der Sprache für die Kultur besonders ins
Zentrum. Eine besondere Herausforderung ist es daher, ausgehend von den
sprachlichen Fakten solide Ergebnisse zu kulturell divergierenden Verhaltens-
mustern und Interaktionsstilen zu ermitteln. Als Direktorin des Instituts für
interkulturelle Kommunikation wecken Unterschiede zwischen den einzelnen
Kulturen noch einmal meine besondere Aufmerksamkeit. Gleichzeitig ermög-
licht mir das Institut, Theorie und Praxis optimal zu verbinden. Denn sein Ziel
ist es, das an der Universität Passau erforschte und unterrichtete interkulturelle
Wissen in die Gesellschaft zu tragen. Wie machen wir das? Einerseits in Form
von Beratung für die Wirtschaft, wobei sich z.B. schon die Wahl der Unterneh-
menssprache immer wieder als ernsthaftes Problem multinational agierender
Konzerne erweist. Andererseits evaluieren wir interkulturelle Projekte und Trai-
nings, die auf dem Markt angeboten werden, und entwickeln selbst Bildungsan-
gebote für Firmen und Bildungseinrichtungen. Mehrmals im Jahr führen wir
z.B. interkulturelle Sensibilisierungstrainings an Schulen durch. Nach solchen
Ausflügen in die Unternehmenswirklichkeit und den Schulalltag reizt es mich
dann immer wieder besonders, auch Themen nachzugehen, die nicht direkt pra-
xisrelevant sind. Gerade untersuche ich z.B. die historische und aktuelle Ver-
breitung der Aussprachen [we] und [wa] im français populaire Kanadas, um
damit die Sozialgeschichte und sprachliche Standardisierungsprozesse zu be-
leuchten.
Rückblickend erwies es sich also als richtig, den eigenen Neigungen zu fol-
gen. Sie führten mich zu einem Beruf, der mir zahlreiche Gestaltungs- und Ent-
faltungsmöglichkeiten bietet. Die Professur erlaubt, zwischen konzentrierter Ar-
beit im Stillen und Kontakt mit Studierenden und Kollegen wechseln zu können.
Die Sprachwissenschaft bietet die Chance, Sprache als ein Attribut des Men-
schen zu betrachten, das Zugang zu den unterschiedlichsten Bereichen des
menschlichen Daseins eröffnet. Da sich im spezifischen Sprachverhalten nicht
nur individuelle Eigenarten des Sprechers spiegeln, sondern insbesondere auch
gesellschaftliche Entwicklungen, ist Sprachwissenschaft in ihren Interessen und
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Erkenntnissen ufig interdisziplinär angelegt. Wenn es nun einmal nur ein ein-
ziger Beruf ist, für den man sich entscheiden muss, dann habe ich ganz sicher
den richtigen gewählt. Kein anderer würde es mir ermöglichen, so viele unter-
schiedliche Facetten meiner Interessen und Möglichkeiten sinnvoll einzubrin-
gen.
Passau Ursula Reutner
Universität Passau, Romanische Sprach- und Kulturwissenschaft, 94032 Passau, [Ursu-
la.Reutner@uni-passau.de]
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Wenn es nun einmal nur ein einziger Beruf ist, für den man sich entscheiden muss, dann habe ich ganz sicher den richtigen gewählt. Kein anderer würde es mir ermöglichen, so viele unterschiedliche Facetten meiner Interessen und Möglichkeiten sinnvoll einzubringen
  • Erkenntnissen
Erkenntnissen häufig interdisziplinär angelegt. Wenn es nun einmal nur ein einziger Beruf ist, für den man sich entscheiden muss, dann habe ich ganz sicher den richtigen gewählt. Kein anderer würde es mir ermöglichen, so viele unterschiedliche Facetten meiner Interessen und Möglichkeiten sinnvoll einzubringen.