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Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum in Schillers romantischer Tragödie Die Jungfrau von Orleans

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1 Schillers Drama wird innerhalb des fortlaufenden Textes mit Versangabe zitiert
nach: Friedrich Schiller: Maria Stuart. Die Jungfrau von Orleans. Hg. v. Benno
von Wiese u. Lieselotte Blumenthal. Weimar 1983 [Unveränd. fotomechan.
Nachd. der Ausg. 1948] (= Schillers Werke 9), S. 165315. Die Neuedition des
Textes als Bd. 9.2 der Nationalausgabe (= NA) lag bei Redaktionsschluss noch
nicht vor.
2 Vgl. Gerd Krumeich: Jeanne d’Arc in der Geschichte. Sigmaringen 1989 und Ders.:
Jeanne d’Arc. Die Jungfrau von Orleans. München 2006, S. 51–53. Die Befreiungs-
kriege sind freilich in der allgemeinen Wahrnehmung innerhalb der deutschen
Literatur erst das Thema von Heinrich von Kleist.
3 Vgl. Sigrid Weigel: »Souverän, Märtyrer und ›gerechte Kriege‹ jenseits des Jus
Publicum Europaeum. Zum Dilemma Politischer Theologie, diskutiert mit Carl
Schmitt und Wa lter Benjamin«. In: Daniel Weidner (Hg.): Figuren des Europäi-
schen. München u. a. 2006, S. 101–128.
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HANS-GEORG POTT
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum in Schillers
romantischer Tragödie Die Jungfrau von Orleans
Der Himmel ist für Frankreich. Seine Engel,
Du siehst sie nicht, sie fechten für den König,
Sie alle sind mit Lilien geschmückt,
Lichtweiß wie diese Fahn ist unsre Sache,
Die reine Jungfrau ist ihr keusches Sinnbild.
(V. 1767-1771)1
Johanna, die am Ende oder besser nach dem Ende der romantischen
Tragödie selbst zum Sinnbild wird, führt einen Heiligen Krieg. »Ich
bin die Kriegerin des höchsten Gottes.« (V. 2203) Ihr Krieg gegen
die Engländer ist kein dynastischer Krieg, was der 100jährige Krieg,
an dessen Ende wir uns historisch gesehen befinden, ›in Wirklich-
keit‹ war, sondern ein ›moderner‹ Volkskrieg, wie es von Seiten
der Franzosen die Revolutionskriege seit 1792 und dann die Befrei-
ungskriege waren. Aus den dynastischen Kämpfen eines internatio-
nalen Rittertums wird ein nationaler ›heiliger Krieg‹.2
Heilige Kriege unterscheiden sich von den eingehegten des Jus
Publicum Europaeum3durch die Diffamierung der Gegner als Un-
gläubige, Verbrecher, Erzfeinde oder Teufel aus dem Reich des
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
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Hans-Georg Pott
Bösen. Sie werden besonders brutal und erbarmungslos geführt.
Das macht Schiller in der mörderischen Szene der Begegnung mit
dem jungen englischen Freiwilligen Montgomery deutlich. Gnade
wird nicht gegeben. Darin handelt Johanna vollkommen unchrist-
lich, und man fragt sich, wie die Heilige Jungfrau das decken kann.
Wenn du der Löwenmutter junge Brut geraubt,
Du könntest Mitleid finden und Barmherzigkeit,
Doch tödlich ists, der Jungfrau zu begegnen. (V. 1597–1599)
Der Krieg der Johanna von Orleans erfüllt alle Merkmale eines Hei-
ligen Krieges. Da ist erstens die göttliche Legitimation, die aller-
dings in ihrer Ambivalenz noch genauer zu betrachten ist. Sie beruft
sich auf einen »furchtbar bindende[n] Vertrag« der Erwähltheit
mit der Nation Frankreich, der alle menschlichen Bande durch-
schneidet und ewig Freund und Feind trennt:
Ihr Toren! Frankreichs königliches Wappen hängt
Am Throne Gottes, eher rißt ihr einen Stern
Vom Himmelwagen, als ein Dorf aus diesem Reich,
Dem unzertrennlich ewig einigen! – Der Tag
Der Rache ist gekommen, nicht lebendig mehr
Zurücke messen werdet ihr das heilge Meer,
Das Gott zur Länderscheide zwischen euch und uns
Gesetzt, und das ihr frevelnd überschritten habt.
(V. 1644–1651)
Zweitens handelt es sich um einen gerechten Krieg; deshalb verkör-
pern die Gegner jeweils das Reich des Bösen:
Du nennst mich eine Zauberin, gibst mir Künste
Der Hölle schuld – Ist Frieden stiften, Haß
Versöhnen ein Geschäft der Hölle? Kommt
Die Eintracht aus dem ewgen Pfuhl hervor?
Was ist unschuldig, heilig, menschlich gut,
Wenn es der Kampf nicht ist ums Vaterland?
Seit wann ist die Natur so mit sich selbst
4 Zitiert bei Krumeich: Jeanne d’Arc in der Geschichte (s. Anm. 2), S. 12.
5 Seit des großen französischen Historikers Michelets Jeanne d’Arc (1840) gibt es
die Erzählung des einfachen Mädchens aus dem Volk, aus deren Taten und Leiden
der französische Patriotismus geboren worden ist. Krumeich: Jeanne d’Arc in der
Geschichte (s. Anm. 2), S. 12 ff.
6 Nach Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Aufl. Tübingen 1980, S. 124,
140, 245 f.
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Im Streite, daß der Himmel die gerechte Sache
Verläßt, und daß die Teufel sie beschützen? (V. 17781786)
Seit den Kreuzzügen dienen in Europa religiöse Motive und deren
säkularisierte Erbmasse aus dem Repertoire des Nationalismus und
des Rassismus, was deren Funktion betrifft, zur ideologischen Le-
gitimation und Motivation von ›heiligen‹ Kriegen. Johanna führt
in einem genauen Sinn einen heiligen Krieg, der natürlich ein Krieg
für die gerechte Sache ist.
Johanna von Orleans wird zur Märtyrerin, als sie ihrer mensch-
lichen Bestimmung, die in ihrer Liebe zum Feinde Lionel ihren
höchsten Ausdruck findet, entsagt. Als »Märtyrerin für ihr Vater-
land«, dessen Blut für uns vergossen wurde: »du sang qu’elle a
donné pour nous«,4fügt sie Michelet in die narrative Logik einer
säkularisierten imitatio christi ein. Damit steht sie in der Tradition
einer politischen Funktionalisierung der christlichen Märtyrerin-
nen, wie sie etwa Gryphius in seiner Katharina von Georgien (1657)
gestaltet hat, die heute wieder oder noch immer als die National-
heilige in Georgien verehrt wird.
Johanna ist kein reines Opfer, zu der sie die französische Ge-
schichtsschreibung des 19. Jahrhunderts macht,5sondern ein selbst-
bestimmtes Opfer. Sie entsagt der Liebe und der menschlichen
Gemeinschaft nicht, weil Lionel ein Feind ist, sondern weil ihre
menschliche, liebende Natur zum Feind ihrer göttlichen Berufung
wird. Wollte man die Thematik benennen, die über die zeitlich-ge-
schichtlichen Belange hinausweist, so wäre es diese: die Tragik des
erhöhten, erwählten, außeralltäglichen, heiligen, heldenhaften,
kurzum charismatischen Charakters.6Diese Tragik wiederum
gründet in der menschlichen Freiheit als Problem. Damit stellt sich
auch die Frage nach der Schuld.
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
7 Schiller spricht im Brief an Goethe vom 27. März 1801 von der »dunkle[n] To-
talIdee«, die es ins Bewusstsein zu heben gelte. Friedrich Schiller: Schillers Briefe.
Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Fritz Jonas. Stuttgart 1895, S. 242.
8 Mythos wird hier verstanden als Form elementarer Narration. Vgl. Jürgen
Link/Wulf Wülfling: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität.
Stuttgart 1991, S. 11. In einem Brief von Fritz von Stein an Charlotte von Schiller
ist von einer »dramatisierten Epopöe« die Rede: Schillers Werke. Hg. v. Julius
Petersen. Weimar 1948, Bd. 9, S. 440. Im Folgenden wird dieser Band unter der
Sigle NA 9 angeführt.
9 Vgl. dazu vor allem Albrecht Koschorke: »Schillers Jungf rau von Orleans und die
Geschlechterpolitik der Französischen Revolution«. In: Walter Hinderer (Hg.):
Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 243–259.
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Hans-Georg Pott
Um die komplexe Thematik herauszuarbeiten, ist (1) von der
›tragischen Idee‹7Schillers auszugehen, um in einem zweiten
Schritt (2) Johanna als charismatischen Charakter zu bestimmen
und schließlich (3) die Tragik von ›Schicksal und Charakter‹ zu
entfalten.
1. Der Gründungsmythos des Protonationalismus
Als ›tragische Idee‹ von Schillers ›romantischer Tragödie‹ lässt
sich die Legendenbildung für einen Gründungmythos des Pro-
tonationalismus erkennen.8Wenn Schiller sie eine ›romantische‹
nennt, liegt darin angesichts der bekannten Gegnerschaft zu den
›Romantikern‹ eine Provokation: okkupiert er doch ihr Terrain in
der künstlerischen Produktion von ›neuen‹ Mythen, der Anver-
wandlung von Legenden, Geistererscheinungen, Wundern und
Mysterien. Eine Verbindung zum Gedanken einer ›Neuen Mytho-
logie‹ des ›Ältesten Systemprogramms‹, was das poetologische Pro-
gramm anbetrifft, liegt durchaus nahe: das ›Volk‹ soll erreicht
werden. Es geht um emotionale Gemeinschaftsbildung als ›nation
building‹9unter charismatischer Führung. Im historischen Archiv
fand sich die Figur der Märtyrerin dazu geeignet, die notwendigen
Gefühle zu mobilisieren und zu konzentrieren.
Die Quellen zur Wirkungsgeschichte von Schillers Johanna, so-
weit sie die Schiller-Forschung aufdecken konnte, bezeugen eine
begeisterte Aufnahme der ersten Aufführungen in Leipzig 1801,
10 Vgl. die in der NA 9 gesammelten Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Ein Blick
auf die Interpretationen der Jungfrau von Orleans nach 1945 vermittelt weitge-
hend den Eindruck von Hilflosigkeit und einem wenig konkreten Verständnis.
Man behilft sich mit allgemeinen Bezügen zu Ideen des Tragischen, der theoreti-
schen Schriften Schillers, der Transzendenz oder der dramaturgischen Virtuosität
einer zweckfreien opernhaften Kunstwelt. (Vgl. Gerhard Storz, NA 9, S. 431,
Kommentar zu V. 2091 ff.) Einzig die Schiller-Forschung der DDR bildet eine
Ausnahme, insofern sie immerhin den Zeitbezug zu den Befreiungskriegen (Wi-
derstand gegen Napoleon) herstellt, wenn sie auch mit dem metaphysisch-reli-
giösen Bereich nichts anfangen kann. (Vgl. die Forschungsüberblicke bei Rüdiger
Zymner: Friedrich Schiller. Dramen. Berlin 2002, S. 114–129 und Gerhard Sau-
der: »Die Jungfrau von Orleans«. In: Walter Hinderer (Hg.): Schillers Dramen.
Stuttgart 1979, S. 217–241.) Sauder (ebd., S. 219) stellt fest: »Kaum eine Inter-
pretation wagt eine Wertung, die sich mit der enthusiastischen Aufnahme des
Stückes nach 1801 in Verbindung bringen ließe.« Diese Feststellung gilt nicht
für die ältere Schiller-Literatur, vor allem die vor dem Ersten Weltkrieg, die der
›tragischen Idee‹ weitaus näher kam, weil das Thema ›Nationalismus‹ sehr viel
virulenter war. Die heute unerträglich hohle und pathetische Rhetorik beiseite
gesetzt lesen wir beispielsweise bei Karl Berger: »Wir sollen erleben, wie eine Na-
tion aus tiefster Not zu vollem Selbstbewusstsein erwacht und heranreift.« (Schil-
ler. Sein Leben und seine Werke. 2 Bde. 8. Aufl. München 1916, Bd. 2, S. 535.) Erst
in jüngster Zeit haben Albrecht Koschorke, Rüdiger Safranski und Peter André Alt
den Bezug zur Zeitgeschichte wiederhergestellt. Nur so lässt sich meines Erachtens
auch wieder ein Bezug zu unserer heutigen Zeit herstellen. Vgl. Peter André Alt: Schil-
ler. Leben – Werk – Zeit. 2 Bde. München 2000. Koschorke: »Schillers Jungfrau von
Orleans und die Geschlechterpolitik der Französischen Revolution« (s. Anm. 9).
Rüdiger Safranski: Friedrich Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus.
München 2004. Die Wiederaufnahme des Jeanne-d’Arc-Kultes in Frankreich im Ver-
lauf der Französischen Revolution erklärt, warum Schillers Drama schon 1802 ins
Französische übersetzt wurde (NA 9, S. 438). Aber erklärt sie auch die begeisterte
Aufnahme in Deutschland? Die überlieferten Zeugnisse der Wirkungsgeschichte
zeigen keinerlei patriotisches Verständnis. Die Begeisterung bleibt unkommentiert.
Das gilt auch für die Aufnahme bei den Romantikern bis zu Friedrich Hebbel. Der
Widerspruch ist bis heute unaufgeklärt. Die Nationalausgabe konstatiert: »Die Ur-
teile der Zeitgenossen sind überhaupt vorwiegend von rein persönlichen Beweggrün-
den bestimmt und dringen nicht zu einem charakterisierenden Verständnis vor
(NA 9, S. 440) Selbst Goethe hat die Schillersche Johanna nicht angemessen verstan-
den, wenn er den ›sentimentalischen‹ Bruch und die Liebe zu Lionel für einen
»Hauptfehler« hält. Vgl. dazu sehr richtig Alt: Schiller. Leben – Werk – Z eit, S. 524.
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die auf patriotische Gefühle und den Zeitgeist der Befreiungskriege
schließen lassen, was sich in den gelehrten Kommentaren und Re-
zensionen erstaunlicherweise nicht widerspiegelt. Erst das späte 19.
Jahrhundert deutet sie im Sinn einer Retterin von Volk, Vaterland
und Nation.10 Schiller, Goethe, Jean Paul, aber auch die jungen Ro-
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
11 Z. B. Schiller: »Brief an Körner vom 13. Juli 1800« In: Schillers Briefe. Kritische
Gesamtausgabe (s. Anm. 7), Bd. 6, S. 172.
12 Friedrich Schiller: Das Mädchen von Orleans. In: NA 2,1, S. 139.
13 Peter André Alt: Schiller. Leben – Werk –Zeit (s. Anm. 10), erkennt in der
Betonung des Gefühls eine »literaturpolitische Strategie« (S. 510), um diese
aber neben das religiöse Motiv zu stellen. Es bildet aber ihren Kern, wie Alt
aus dem klugen Hinweis auf David Humes The Natural History of Religion
(1757) selbst hätte folgern können und müssen: Die Ursprünge des Glaubens
bilden innere Gefühle, die Kräfte, Affekte und Einbildungen freisetzen; ebd.,
S. 519.
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Hans-Georg Pott
mantiker lassen sich um 1800 nicht auf einen deutschen Protonatio-
nalismus festlegen. Wenig später, nach 1806, werden ihn Kleist,
Fichte, Arndt und andere formulieren. Dennoch: die Begeisterung
will erklärt sein. Gefühle werden erweckt, die auf eine Stimmung
im Volk treffen, in deren Bannkreis auch Hölderlin stehen muss,
wenn er seine große vaterländische Hymne Germanien (1801)
schreibt, um mit der Priesterin Germania eine Kultfigur zu schaffen.
Schiller war sich sicher, dass sein neues Stück durch einen Stoff,
der »eben das Herz interessiert« große Resonanz erfahren würde.
In seinen Briefen betont er des Öfteren, wie sehr ihm die Johanna
eine Herzensangelegenheit sei.11 In seinem Gedicht Das Mädchen
von Orleans von 1802 bildet ›Herz‹ die Zentralmetapher: »Dich
schuf das Herz, du wirst unsterblich leben.«12 Schiller kannte das
Volk. Er wusste, dass man es nicht mit Maximen der Aufklärung und
republikanischen Ideen, und seien es die der Menschenrechte, auf-
rütteln kann. Um es für eine Republik und Nation zu begeistern, be-
darf es eines Appells an das Herz, die Gefühle. Was wäre hierzu
geeigneter denn religiöse Impulse? Sie treten nicht neben das politi-
sche Motiv, sondern bilden dessen innersten Kern.13 Darin kommt
zum Ausdruck, was Schiller mit seiner »romantischen Tragödie« dar-
stellt: dass auch Deutschland keine Nation werden kann, ohne Mythos
und Magie, ohne sinnlich-sichtbare Zeichen und Symbole, in denen
das Volk sich als Einheit erkennen und mit denen es sich identifizieren
kann. Es geht ja hier nicht um einige aufgeklärte Intellektuelle vom
Schlage Voltaires, der die Jungfrau in seiner Pucelle nur lächerlich ma-
chen konnte und der das ganze ›katholische‹ Theater abgeschmackt
fand. Schiller hat das Volk, sein Volk ernstgenommen und war sich
dessen bewusst, dass ohne das Volk keine Nation zu bilden ist.
14 Das Wunderbare, das man dem aufgeklärten Schiller zu Recht nicht ›naiv‹ zu-
traut (oder pseudonaiv, wie bei den Romantikern), wird in der Forschung als Ȋs-
thetische Allegorie« gedeutet (NA 9, Kommentar, S. 428); aber sehr
problematisch als »Allegorie der Freiheit«. Das ›idealistische‹ Freiheitspathos
weiter Teile der älteren Schiller-Forschung bedarf dringend der Revision, die im-
plizit von Alt schon begonnen wurde. Alt spricht vom »zeichenhaften Charak-
ter«, »symbolische[n] Bilder[n]« in der Darstellung des Wunderbaren, die
Konsequenzen für den Einzelnen wie das Kollektiv zeitigen. Da Schiller aber Klas-
siker bleiben muss, scheut Alt die Konsequenz, ihn ganz auf die Seite der Roman-
tiker hinüber zu setzen. Freilich handelt es sich um eine »mythopoetische«
Erzeugung und nicht nur um eine »psychologische Dimension«. Zu Einzelhei-
ten der Verbindung und Differenz zur Romantik vgl. Alt: Schiller. Leben – Werk
– Zeit (s. Anm. 10), S. 515 f.
15 Safranski: Friedrich Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus (s. Anm. 10),
S. 485. Vgl. Koschorke: »Schillers Jungfrau von Orleans und die Geschlechterpolitik
der Französischen Revolution« (s. Anm. 9): »Es zählt zu den Merkwürdigkeiten
von Schillers dramatischem Werk, dass es Beiträge nur zur französischen und
schweizerischen, nicht zur deutschen Nationalmythologie liefert.«
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Das Volk braucht sichtbare Zeichen und Wunder. Die Jungfrau
ist ein Gefühlsdrama, in dem Zeichen und Wunder geschehen.14
Mit gekonnter Rhetorik (»Und einen Donnerkeil führ ich im
Munde.«) unterwirft sie sich den Herzog von Burgund und zieht
ihn auf ihre Seite. Religion und Nationalismus, Patriotismus sind,
ohne dass dies als Kritik zu verstehen wäre, in erster Linie Sache des
Herzens und nicht der Vernunft. Sie folgen einer Logik großer Ge-
fühle wie Liebe und Hass. Folglich muss ihre Rede eine Rhetorik
des Herzens sein. Wir alle, so richtet sich die Rede Johannas an Bur-
gund, sind Söhne und Töchter eines Vaterlandes, in unseren Adern
fließt französisches Blut. ›Blut‹ ist die Zentralmetapher ethnisch-
rassistischer Abgrenzungen, aber natürlich auch dynastischer Legi-
timationsmythologie. Und dieses Vaterland, dieses Blut sind Erwählte
des Himmels.
Eine charismatische Gestalt der Zeit war mit Napoleon gegeben.
Damit sei nicht behauptet, dass Schiller bewusst die Schaubühne
zur patriotischen Anstalt hätten machen wollen. Eine derartige Hy-
pothese lässt sich durch die Quellen nicht belegen. Das Stück traf
auf eine patriotische Zeitstimmung und auf ein Nationalgefühl für
eine Nation, die es in deutschen Landen noch nicht gab. Inwieweit
das bewusst zu kalkulieren war, mag dahingestellt bleiben. Johanna
wird zu Recht eine Schwester Wilhelm Tells genannt.15 Es geht um
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
16 Hans Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700–1815. Vom Feudalismus
des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära. München 1987,
Bd. 1, S. 516.
17 Vgl. hierzu instruktiv Link/Wülfling : Nationale Mythen und Symbole in der zwei-
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts (s. Anm. 8) und Thomas Frank/Albrecht Ko-
schorke u. a.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der
Geschichte Europas. Frankfurt a. M. 2007.
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die Bildung einer ganz neuen Nation und Republik und eine geis-
tige Mobilmachung gegen das alte, feudale Europa der Könige, des
Adels und des Klerus; denn der ›Geist der Freiheit‹ hatte mit der
Französischen Revolution unwiderruflich in Europa Einzug gehal-
ten. Zahlreiche Quellen belegen, dass sich mancher einen deutschen
Napoleon wünschte, der »den nationalen Einheitsstaat mit harter
Hand schaffen würde«.16
Indem Schillers Drama auf das ›nation building‹ Frankreichs
nach 1792 zielt, kann es auch als höchst ambivalentes Vorbild für
eine zukünftig zu bildende deutsche Nation aufgefasst worden sein,
jedenfalls in der begeisterten ersten Rezeptionsphase. Es kann nicht
ausgeschlossen werden, dass Schiller für einen Protonationalismus
vereinnahmt worden ist. Auch die französische Revolution selbst
hatte ja in deutschen Landen einen höchst ambivalenten Vorbild-
charakter, eine Ambivalenz, die sich ebenso in der Beurteilung der
Person Napoleons erweist.
Das alte »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« hatte
einen deutlich sichtbaren Repräsentanten, den Kaiser, der zugleich
der sakral legitimierte Souverän war. Aus dem Zusammenbruch der
Ordnung des ›alten Europa‹ konnte nur dann eine neue Einheit
entstehen, in der das Volk eine maßgebliche Rolle spielt, sofern Ri-
tuale und Helden verfügbar waren, die diese Einheit verkörperten,17
denn die Repräsentation des neuen Souveräns, des Volks, war im
Aufgang seiner Herrschaft nicht zu erkennen. ›Repräsentations-
Körperschaften‹ wie politische Verbände, Parteien, Parlamente,
mussten erst entstehen, und das ›Volk‹ musste erst lernen, sie als
ihre Repräsentanten anzuerkennen.
Johanna von Orleans erfüllt genau diese Funktion. Sie repräsen-
tiert die Macht des Volkes und will es unmittelbar, also nicht ver-
mittelt durch Klerus und Adel, mit dem König kurzschließen, wie
18 Frank/Koschorke: Der fiktive Staat (s. Anm. 17), S. 261.
19 Vgl. Pierre Lantz: »Krise der Politik und Krise des Symbols«. In: Link/Wülfing:
Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts
(s. Anm. 8), S. 72–83, hier: S. 79.
20 Zit. Frank/Koschorke: Der fiktive Staat (s. Anm. 17), S. 276 u. 259.
21 Vgl. Krumeich: Jeanne d’Arc. Die Jungfrau von Orleans (s. Anm. 2), S. 14, sowie
Frank/Koschorke: Der fiktive Staat (s. Anm. 17), S. 276.
22 Krumeich: Jeanne d’Arc in der Geschichte (s. Anm. 2), S. 11; Ders.: Jeanne dArc.
Die Jungfrau von Orleans (s. Anm. 2), S. 119.
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ja auch die Revolutionäre von 1789 zunächst in der Verfassung von
1791 den König durchaus als Repräsentanten der Nation neben der
Nationalversammlung anerkennen wollten. Das widerspricht aller-
dings der Auffassung von Sieyès, dass der Dritte Stand die vollstän-
dige Nation (»un tout«) bilde und alle Privilegierten von ihr
ausgeschlossen seien.18
Um den Begriff einer Republik und Nation zu einem allgemei-
nen Selbstverständnis zu erheben, waren also Änderungen in der
Wahrnehmungsweise des Staates und seiner Repräsentationskultur
notwendig. Das konnte sich nicht ohne Anleihen beim ›alten‹
Feudalsystem vollziehen, da keine neue ›republikanische‹ Mytho-
logie aus dem Boden gestampft werden kann, die ja noch Gegen-
stand laufender Debatten ist. Deshalb der Rückgriff auf Roland und
Jeanne d’Arc.19 Mona Ozouf spricht sehr passend von einem »Sa-
kraltransfer«, einer »feindlichen Übernahme« und einer »kollek-
tiven Retrofiktion«.20
Der Protonationalismus transformiert den Königsmythos vom
Hl. Ludwig und die dynastisch-sakrale Legende vom Hl. Michael
in den Mythos von Frankreich als einem corpus mysticum, wobei
das Element des Sakralen verwandelt (also säkularisiert) und das
Element des Dynastischen abgestoßen wird.21 Für die liberal-repu-
blikanischen Romantiker wird dann Johanna zum schlichten
»Sinnbild des peuple, des einfachen Volkes«.22 Erst infolge dieser
semantischen Transformationen konnte das Volk begreifen, dass
alle Macht auf Erden von ihm ausgeht und nicht von Gott.
In Johannas Vision von ihrer Nation ist Frankreich das schönste
und von Gott bevorzugte Land, das sich nicht in erster Linie dy-
nastisch, sondern religiös legitimiert, vom heiligen Ludwig und sei-
nem heiligen Krieg her:
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Dies Reich soll fallen? Dieses Land des Ruhms,
Das schönste, das die ewge Sonne sieht
In ihrem Lauf, das Paradies der Länder,
Das Gott liebt, wie den Apfel seines Auges,
Die Fesseln tragen eines fremden Volks!
– Hier scheiterte der Heiden Macht. Hier war
Das erste Kreuz, das Gnadenbild erhöht,
Hier ruht der Staub des heilgen Ludewig.
Von hier aus ward Jerusalem erobert. (V. 332340)
Zum Nationalismus gehört nicht nur die Vorliebe für das eigene
Land, sondern auch seine Glorifizierung. Aber dabei bleibt Johanna
nicht stehen. Ihre Königsvision ist die eines Volksherrschers, der
keine Vorrechte des Adels, keine ständischen Privilegien und sozia-
len Unterschiede kennt.
Wir sollen keine eigne Könige
Mehr haben, keinen eingebornen Herrn –
Der König, der nie stirbt, soll aus der Welt
Verschwinden – der den heilgen Pflug beschützt,
Der die Trift beschützt und fruchtbar macht die Erde,
Der die Leibeignen in die Freiheit führt,
Der die Städte freudig stellt um seinen Thron –
Der dem Schwachen beisteht und den Bösen schreckt,
Der den Neid nicht kennet, denn er ist der Größte,
Der ein Mensch ist und ein Engel der Erbarmung
Auf der feindselgen Erde. – Denn der Thron
Der Könige, der von Golde schimmert, ist
Das Obdach der Verlassenen – hier steht
Die Macht und die Barmherzigkeit – es zittert
Der Schuldige, vertrauend naht sich der Gerechte,
Und scherzet mit den Löwen um den Thron! (V. 344 359)
Diese Vision vom Himmelskönig, vom Thron Gottes, der auch die
geblütsrechtliche Herrschaft ursprünglich legitimierte, ist gewis-
sermaßen Schillers Utopie. Das konnte keine Huldigung an ein ge-
kröntes Oberhaupt in Geschichte und Gegenwart sein. Auch im
23 Zum Paternalismus vgl. Andreas Suter: »Protonationalismus – Konstrukt und ge-
sellschaftlich-politische Wirklichkeit«. In: Marco Bellabarba/Reinhard Stauber
(Hg.): Te rritoriale Identität und politische Kultur in der Frühen Neuzeit. Berlin 1998,
S. 301–322, hier: S. 315, Anm. 32.
24 Zitiert bei Frank/Koschorke: Der fiktive Staat (s. Anm. 17), S. 10 u. 228.
25 Vgl. ebd., S. 226.
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Wilhelm Tell bleibt der Kaiser in seiner idealen kaiserlichen Funk-
tion unangefochten, und nur die dynastischen Interessen werden
verurteilt. Gleichzeitig klingt die Möglichkeit einer Reform von
oben an, wie sie schrittweise mit der Aufhebung der Leibeigenschaft
in einigen deutschen Fürstentümern und später in Preußen unter
dem Freiherrn vom Stein betrieben wurde. Auch Schiller war ein
gebranntes Kind der Revolution und sein durchaus antifeudalisti-
scher politischer Entwurf beinhaltet ein durch und durch paterna-
listisches Konzept. Mit Blick auf den Wilhelm Tell könnte man von
einem Brüderlichkeits-Paternalismus sprechen.23
In Schillers Johanna ist der Platz des Souveräns leer und wartet
auf eine Neueinschreibung, wie sie Schillers ›Vision‹ vornimmt.
König Karl begegnet uns im Ersten Aufzug gar nicht königlich, son-
dern als ein Mann, der nicht weiß, was es heißt, ein König zu sein.
Nicht als Majestät und Souverän tritt er auf, sondern eher als ein
wunderlicher Romantiker, der sich mit »König René« Schäferspie-
len im »Liebeshof« nach dem Vorbild der großen Minnezeit des
Mittelalters hingeben möchte. Es handelt sich aber um eine falsche
Romantik, wie ihn der Graf Dunois belehrt; denn das Rittertum in
den alten Büchern verbindet die Liebe stets mit »hoher Rittertat«.
Zudem ist er pleite, sein Reich ist verpfändet, er kann seine Solda-
teska nicht mehr bezahlen. Nichts markiert deutlicher, dass wir uns
im Zeitalter Louis XVI. befinden, von dem Edmund Burke 1793
schrieb: »nichts weiter als ein Mann«.24 Die Zeit der Könige ist
vorbei, und wenn sie im 19. Jahrhundert wiederkehren, so nur als
»Phantome auf Zeit« (Jean Jaurès).25 In der Rede Dunois’ lässt sich
die Situation in Frankreich zwischen 1789 und 1799 erkennen, die
Zeit des Bürgerkriegs, der Bauernaufstände (vor allem in der Vendée):
DUNOIS
Wie Sire? Ist das die Sprache eines Königs?
Gibt man so eine Krone auf? Es setzt
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
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Hans-Georg Pott
Der Schlechtste deines Volkes Gut und Blut
An seine Meinung, seinen Haß und Liebe,
Partei wird alles, wenn das blutge Zeichen
Des Bürgerkrieges ausgehangen ist.
Der Ackersmann verläßt den Pflug, das Weib
Den Rocken, Kinder, Greise waffnen sich,
Der Bürger zündet seine Stadt, der Landmann
Mit eignen Händen seine Saaten an,
Um dir zu schaden oder wohlzutun
Und seines Herzens Wollen zu behaupten. (V. 825836)
Der vielsagende Auftritt der königlichen Geliebten Agnes Sorel,
mit der in diesem Drama eine weitere der starken Frauen Schillers
begegnet, könnte kontrastreicher nicht ausfallen. Sie ist der Johanna
durchaus ebenbürtig, nur fehlt ihr die Erwähltheit, das Charisma der
göttlichen Berufung. Als Karl sie wie ein verliebter Romantiker an-
spricht: »O meine Agnes! Mein geliebtes Leben!« – entgegnet sie:
»Mein treuer König!« Agnes weiß, was Königtum bedeutet, wäh-
rend Karl sich in eine bürgerliche Privatsphäre zurückziehen möchte.
König sein heißt, das eigene menschliche Begehren zu transzendieren,
die persönlichen Bedürfnisse zurückzustecken und das Reich zu re-
präsentieren. Ihre Losung heißt: alles Gold zu Eisen und ran an den
Feind. In der Wortwahl erweist sie sich als eine Schwester Johannas:
Komm! Komm! Wir teilen Mangel und Gefahr!
Das kriegerische Roß laß uns besteigen,
Den zarten Leib dem glühenden Pfeil der Sonne
Preisgeben, die Gewölke über uns
Zur Decke nehmen, und den Stein zum Pfühl. (V. 643647)
Ihre Größe liegt auch darin, dass sie ihren Karl trotz des fundamen-
talen Gegensatzes liebt, selbst auf eine romantische Art. Auch das
gehört eher ins bürgerliche als ins feudale Zeitalter.
Karl ist, bis auf wenige Getreue, vom Volk und vom Parlament
verlassen. Auch darin ähnelt die Situation der des XVI. Ludwig vor
dem Konvent. Die »Stimme der Gerechtigkeit«
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[...] ist verstummt vor der Parteien Wut.
Ein Schluß des Parlaments erklärte dich
Des Throns verlustig, dich und dein Geschlecht. (V. 699–701)
Zugleich sind Adelsfehden eingearbeitet, die dann doch wieder ins
15. Jahrhundert zurückweisen. Historischer Stoff und dramatische
Form sind eben nicht bruchlos zu vermitteln. Das Volk jubelt dem
»engelländischen« König zu, dem jungen Harry Lancaster, der sich
frech auf den königlichen Stuhl in Saint Denis setzt. Da erröten
selbst die mit ihnen paktierenden Burgunder vor Scham. Die Bür-
ger von Orleans bitten Karl um Hilfe für die belagerte Stadt, die
Karl aufgeben möchte. Der folgende Dialog mit Agnes Sorel ist äu-
ßerst aufschlussreich, sind die Argumente Karls, menschlich be-
trachtet, doch sympathisch und vernünftig, und die kriegerische
Sorel ist wiederum nah an Johanna, da sie sich auch als Prophetin
und Visionärin bewährt:
KARL.
[…]
Das Haus des sechsten Karls soll untergehn.
SOREL.
In dir wird es sich neuverjüngt erheben!
Hab Glauben an dich selbst. – O! nicht umsonst
Hat dich ein gnädig Schicksal aufgespart
Von deinen Brüdern allen, dich den jüngsten
Gerufen auf den ungehofften Thron.
In deiner sanften Seele hat der Himmel
Den Arzt für alle Wunden sich bereitet,
Die der Parteien Wut dem Lande schlug.
Des Bürgerkrieges Flammen wirst du löschen,
Mir sagts das Herz, den Frieden wirst du pflanzen,
Des Frankenreiches neuer Stifter sein. (V. 784795)
Karl entgegnet, wie ein König nicht reden darf:
Ist denn die Krone ein so einzig Gut?
Ist es so bitter schwer, davon zu scheiden?
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
26 Vgl. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700–1815 (s. Anm. 16), Bd. 1,
S. 227 f.
124
Hans-Georg Pott
Ich kenne was noch schwerer sich erträgt.
Von diesen trotzig herrischen Gemütern
Sich meistern lassen, von der Gnade leben
Hochsinnig eigenwilliger Vasallen,
Das ist das Harte für ein edles Herz,
Und bittrer als dem Schicksal unterliegen! (V. 875882)
Hier klingt bereits das Autonomiebestreben des bürgerlichen Indi-
viduums an und nicht das Souveränitätsverständnis eines Feudal-
herrschers; dieser wusste sich durchaus abhängig von seinen
adeligen »trotzig herrischen Gemütern«, ohne dass seine Majestät
darunter gelitten hätte.26
Karl steht vor uns, den Zuschauern von Schillers Tragödie, als
ein bürgerlicher Humanist und Romantiker, der leider den König
spielen muss.
KARL ihre Hand fassend.
Sei nicht traurig, meine Agnes.
Auch jenseits der Loire liegt noch ein Frankreich,
Wir gehen in ein glücklicheres Land.
Da lacht ein milder niebewölkter Himmel
Und leichtre Lüfte wehn, und sanftre Sitten
Empfangen uns, da wohnen die Gesänge
Und schöner blüht das Leben und die Liebe. (V. 905911)
2. Das Charisma der Johanna von Orleans
Der Prolog gestaltet die außeralltägliche Szenerie, in der sich das
Charisma zeigen kann. »Eine ländliche Gegend. Vorn zur Rechten
ein Heiligenbild in einer Kapelle; zur Linken eine hohe Eiche.«
Heiligkeit und Heldenkraft verleihen die Heilige Jungfrau Maria
und der Druidenbaum – ein heidnisch-heiliges Doppel, wie es im
Volksglauben des Vaters zum Ausdruck kommt.
27 »Kein Konzilsbeschluß, der die ›Anbetung‹ Gottes von der ›Verehrung‹ von
Heiligenbildern als bloßen Mitteln der Andacht scheidet, hat gehindert, dass der
Südeuropäer noch heute das Heiligenbild selbst verantwortlich macht und aus-
spuckt, wenn trotz der üblichen Manipulationen der beanspruchte Erfolg aus-
bleibt.« Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (s. Anm. 6), S. 246. Max Weber lebte
doch sehr im protestantischen Milieu.
125
Ich kann nichts tun als warnen, für sie beten!
Doch warnen muß ich – Fliehe diesen Baum,
Bleib nicht allein, und grabe keine Wurzeln
Um Mitternacht, bereite keine Tränke,
Und schreibe keine Zeichen in den Sand –
Leicht aufzuritzen ist das Reich der Geister,
Sie liegen wartend unter dünner Decke,
Und leise hörend stürmen sie herauf.
Bleib nicht allein, denn in der Wüste trat
Der Satansengel selbst zum Herrn des Himmels. (V. 147156)
In diesen Worten verbindet sich ein naturmagischer Aberglaube
mit christlichen Versatzstücken. Was aufgeklärte Menschen Aber-
glaube nennen, ist ja kulturgeschichtlich unser aller archaisches
Erbe: die Vermutung nämlich, dass Dingen, einer Heiligenfigur,
einem Baum, einer schwarzen Katze oder einem Donnerschlag, wie
er im letzten Akt mit Macht ertönt, eine schicksalhafte, weil schi-
ckende Kraft innewohnt, an die man appellieren, die helfen oder
zerstören kann. Die Menschen, nicht nur Südeuropäer, sind bis
heute vom Glauben der Naturvölker nicht sehr weit entfernt.27
Johanna erscheint schon im Prolog hoheitlich. Als solche ver-
körpert sie für den Vater »eine schwere Irrung der Natur«, weil sie
sich im Lenz nicht paarungsbereit zeigt. Sie wohnt
[…] auf den Bergen,
Und von der freien Heide fürchtet sie
Herabzusteigen in das niedre Dach
Der Menschen, wo die engen Sorgen wohnen.
Oft seh ich ihr aus tiefem Tal mit stillem
Erstaunen zu, wenn sie auf hoher Trift
In Mitte ihrer Herde ragend steht,
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
28 Kalender auf das Jahr 1802. Den Kopf nach der Replik einer Kamee hatte Schiller
selbst aus Goethes Sammlung besorgt und an Unger empfohlen. Vgl. NA 9, S. 405.
Die von Johann Heinrich Meyer angefertigte Vorlage für den Kupferstich verlieblicht
die originale Gemme. Die Ausgabe von Unger in Berlin, die ich im Goethe-Museum
Düsseldorf einsehen konnte, enthält auch einen französischen Revolutionskalender
und eine 74 Seiten lange Genealogie europäischer Adelsgeschlechter. Das sind die
Widersprüche der Zeit. Mit Dank an Volkmar Hansen und Winfried Woesler.
29 Vgl. Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München
1988, S. 117–155.
126
Hans-Georg Pott
Mit edelm Leibe, und den ernsten Blick
Herabsenkt auf der Erde kleine Länder.
Da scheint sie mir was Höhres zu bedeuten,
Und dünkt mirs oft, sie stamm aus andern Zeiten. (V. 6979)
Aus andern Zeiten: Das Titelkupfer der ersten Buchausgabe von
Schillers Jung frau zeigt ein Bild der Pallas Athene / Minerva.28 Spä-
ter wird im Stück Agnes Sorel zu Johanna sagen: »Mein liebend
Herz flieht scheu vor dir zurück, / Solange du der strengen Pallas
gleichst.« (V. 2638 f.) Das ist ein eindeutiger Hinweis, worum es
in diesem Stück geht, verkörpert die Pallas Athene doch die Polis
Athen, die Gemeinschaft der freien Bürger Athens, wie sie im Areo-
pag repräsentiert ist, und sie Aischylos im dritten Teil der Orestie,
den Eumeniden, darstellt, und die Minerva, mit der sie früh iden-
tifiziert wurde, die Stadt Rom, d. h. die römische Republik.29 Wie
Pallas Athene aus dem Haupt des Zeus entspringt Johanna im Pro-
log einem Text, der die fertige Legendengestalt schon vor Augen
hat. So sieht sie auch der Vater schon im Prolog »in Träumen« und
»ängstlichen Gesichten« in ihrer Vollendungsgestalt:
Zu dreien Malen hab ich sie gesehn
Zu Reims auf unsrer Könige Stuhle sitzen,
Ein funkelnd Diadem von sieben Sternen
Auf ihrem Haupt, das Szepter in der Hand,
Aus dem drei weiße Lilien entsprangen,
Und ich, ihr Vater, ihre beiden Schwestern
Und alle Fürsten, Grafen, Erzbischöfe,
Der König selber, neigten sich vor ihr.
Wie kommt mir solcher Glanz in meine Hütte? (V. 114122)
30 Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (s. Anm. 6), S. 246.
31 Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen
Theologie des Mittelalters. München 1990 (The King’s Two Bodies, 1957).
127
Der Vater deutet seine Visionen als Warnung vor eitlem Trachten.
Johanna bleibt für ihn bis zum Schluss eine natürliche Tochter, die
auf Abwege gerät. Er (an)erkennt keinen Heiligenschein; auch
nicht Bertrand, der einst ihr Freier war. Zur Anerkennung der cha-
rismatischen Persönlichkeit gehört eine persönliche Distanz, die
beide nicht haben.
Zum Aufbau des Charisma gehört ein gewisser magischer Zau-
bereibetrieb.30 Schiller inszeniert ihn um das Auftauchen des
Helms. Eine Zigeunerin, in europäischer topologischer Tradition
der Zauber- und Wahrsagekünste immer schon verdächtig, ein
»braun Bohemerweib«, drängt ihn unter obskuren Umständen
auf einem Trödelmarkt dem Landsmann Bertrand auf. Johannas
erste Worte im Stück lauten: »Gebt mir den Helm!« Und: »Mein
ist der Helm und mir gehört er zu.« (V. 191/V. 194) Man könnte
vielleicht spekulieren, es sei der Helm der Pallas, der »von alters he
zu ihr gelangt und auf ihrem Kopf sein geschichtliches ›Telos‹ findet.
Schiller vollendet die Charismatisierung der Jungfrau auf eine
›wunderbare‹, sprachlich höchst ambivalente Weise:
Es geschehn noch Wunder – Ein weiße Taube
Wird fliegen und mit Adlerskühnheit diese Geier
Anfallen, die das Vaterland zerreißen.
[...]
Der Herr wird mit ihr sein, der Schlachten Gott.
Sein zitterndes Geschöpf wird er erwählen,
Durch eine zarte Jungfrau wird er sich
Verherrlichen, denn er ist der Allmächtge! (V. 315327)
Zu vereinigen und vereinbaren sind Taube und Adler, Löwe und
Hirte, »zarte Jungfrau« und »der Schlachten Gott«, Symbole
mithin, die nicht zusammen passen. Die Synthese erfolgt wie bei
den Königen, auf deren Lehre von den zwei Körpern des Königs sie
auch sogleich anspielt: »Der König, der nie stirbt, soll aus der Welt
/ Verschwinden […].« (V. 346)31 Seit Gott Mensch geworden war,
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
32 Vgl. den Kommentar der NA 9, S. 435.
128
Hans-Georg Pott
konnte man von den Theologen lernen, wie man mit derartigen Pa-
radoxien und Ambivalenzen umgeht. Der eine, der natürliche Leib,
verliebt sich später in den Engländer Lionel. Ihr anderer Teil, gleich-
sam ihr charismatischer Leib, bedarf zur Erweckung und Sichtbar-
keit durchaus des materiellen Zauberhelmes – wie alle Heiligen
ihres sichtbaren Scheines.
THIBAUT.
Was für ein Geist ergreift die Dirn?
RAIMOND.
Es ist
Der Helm, der sie so kriegerisch beseelt.
Seht Eure Tochter an. Ihr Auge blitzt,
Und glühend Feuer sprühen ihre Wangen! (V. 328331)
Der zweite, unsterbliche Körper des Königs wurde durch die Sal-
bung und den sakramentalen Krönungsakt zu Reims hergestellt.
Ähnlich wie der Helm war in der Realgeschichte das Salböl, mit
dem König Chlodwig gesalbt wurde, wunderbarer Weise, nämlich
durch eine Taube vom Himmel, in die Hände des heiligen Remigius
gelangt.32 Und allein das ist Johannas Ziel: eine unsterbliche fran-
zösische Nation, die im König verkörpert ist, der damit einen zweiten,
unsterblichen Körper erhält, bevor dann juristische Körperschaften
die Funktion im Staat übernehmen konnten.
Es gehört zur Logik der Legitimation dynastischer Herrschaft,
einen Gründungsmythos zu erzählen, der voll des Wunderbaren,
des Supranatürlichen ist. Der Heilige Ludwig ist so eine mythische
legendenbildende Figur. Das heißt: schon die Legitimation geblüts-
rechtlicher Herrschaft ist sowohl genealogisch wie transzendent
imaginär. Diese Legitimationsfigur wird hier reproduziert. Johanna
von Orleans erzählt ihren eigenen Mythos, um die Gründung einer
neuen Nation zu legitimieren. Sie verkörpert die ›Hoheit‹, die dem
›Bürger‹ Karl fehlt. Ihr Auftritt vor ihm ist voller Zeichen und Wun-
der. Sie erkennt den König, obwohl sie ihn nie gesehen und Dunois
den Platz des Königs eingenommen hat, sie kennt seine geheimsten
drei Gebete, die er allein für sich gesprochen hat. Ihre Berufung er-
129
folgt in direkter Offenbarung durch die Gottesmutter, die, erst als
Schäferin verkleidet, dann als Himmelskönigin erstrahlend, vor ihr er-
scheint. Ihre Erwählung gilt dem Volk, dessen Repräsentant der König
ist, dessen es allerdings (noch) bedarf. Hier erwählt kein Vatergott sein
Volk, was schon einmal vorkam, sondern eine Muttergottheit das ihre:
die Franken. Damit geht bei Schiller kein Matriarchat einher. Er weist
seine starken Frauen wieder in ihre angestammten Plätze und Rollen
oder lässt sie sterben, wenn sie ihre Mission erfüllt haben.
Johanna selbst ist vertraut mit allen Techniken der Narration und
Symbolbildung, um des Frankenlandes neuer Stifter sein zu können.
JOHANNA.
Sende nach der alten Stadt
Fierboys, dort, auf Sankt Kathrinens Kirchhof
Ist ein Gewölb, wo vieles Eisen liegt,
Von alter Siegesbeute aufgehäuft.
Das Schwert ist drunter, das mir dienen soll.
An dreien goldnen Lilien ists zu kennen,
Die auf der Klinge eingeschlagen sind,
Dies Schwert laß holen, denn durch dieses wirst du siegen.
KARL.
Man sende hin und tue, wie sie sagt.
JOHANNA.
Und eine weiße Fahne laß mich tragen,
Mit einem Saum von Purpur eingefaßt.
Auf dieser Fahne sei die Himmelskönigin
Zu sehen mit dem schönen Jesusknaben,
Die über einer Erdenkugel schwebt,
Denn also zeigte mirs die heilge Mutter.
KARL.
Es sei so, wie du sagst. (V. 11481162)
Karl hat nur zu gehorchen. Bemerkenswert bleibt, dass die Zeichen
des Reichs weiblich sind. Das neue Reich wird ja von Frauen ge-
schaffen: Johanna, Agnes Sorel, die Gottesmutter, starke Frauen al-
lesamt. Am Anfang eines neuen Reichs steht kein männlicher
Kriegsheld, kein dynastischer Gründungsvater, sondern dort stehen
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
33 Zur Tradition der Einordnung Johannas in den Amazonenmythos vgl. Dieter
Borchmeyer: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen. Frankfurt a. M. 2002,
S. 365. Jungfrauen, die außerhalb der familialen Ordnung stehen müssen, begrün-
den seit den jungfräulichen Gottheiten der Antike neue heilige Ordnungen:
Aphrodite, Artemis, Ishtar, Astarte etc. pp. Vgl. dazu vor allem Koschorke:
»Schillers Jungfrau von Orleans und die Geschlechterpolitik der Französischen
Revolution« (s. Anm. 11) und Frank/Koschorke: Der fiktive Staat (s. Anm. 17),
S. 277 ff., zu den weiblichen Allegorien.
130
Hans-Georg Pott
zwei Frauen, die an den Amazonen-Mythos erinnern. Diesen My-
thos wird wenig später Kleist aufgreifen in seiner ›Penthesilea‹. In
der französischen Revolution hatten sich auch die Frauen auf eine
neue, vorher nicht gekannte Art und Weise zu Wort gemeldet. Es
wurde sogar für kurze Zeit ein Amazonenregiment gegründet.33
3. Schicksal und Charakter
Schiller als Dramatiker zeigt die Kräfte und Mächte, die menschli-
ches Handeln bewegen. Als Aufklärer weiß er, dass menschliche
Kollektive nicht in erster Linie nach Vernunftmaximen handeln.
Das hatte er auch in seinen Ästhetischen Briefen formuliert, wenn
er dort fragt, warum wir im Zeitalter der Vernunft noch Barbaren
sind. Um die Menschen zum Handeln zu motivieren, braucht es
Ideale und sichtbare, vorzeigbare Symbole.
Johanna von Orleans stellt einen Beitrag zu einer Dialektik der
Aufklärung dar. Harte Gegensätze einer mentalen Weltanschauung
treffen aufeinander, wie überhaupt dieses Drama eines der harten
Fügungen ist. Hier der Glaube an eine charismatische göttliche Er-
scheinung, auf der Seite der Feinde der Glaube an ein Teufelsbünd-
nis; dort ein Einzelner, der all das für Ausgeburten menschlicher
Narrheit hält. Aber worin könnte die Vermittlung der Gegensätze
liegen? Im zweiten Aufzug begegnen wir auf der Bühne dem eng-
ländischen Feldherrn Talbot, dem einzig ›Vernünftigen‹ im Stück.
Er hält die Erscheinung der Johanna für die Ausgeburt eines närri-
schen Aberglaubens. Er selbst verkörpert die Vernunft:
Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.
Erhabene Vernunft, lichthelle Tochter
131
Des göttlichen Hauptes, weise Gründerin
Des Weltgebäudes, Führerin der Sterne,
Wer bist du denn, wenn du dem tollen Roß
Des Aberwitzes an den Schweif gebunden,
Ohnmächtig rufend, mit dem Trunkenen
Dich sehend in den Abgrund stürzen mußt!
Verflucht sei, wer sein Leben an das Große
Und Würdge wendet und bedachte Plane
Mit weisem Geist entwirft! Dem Narrenkönig
Gehört die Welt – (V. 23192330)
In der Johanna stirbt die Stimme der Vernunft. Man könnte mei-
nen, dass auch der Glaube an die Nation ein närrischer Aberglaube
ist. Der Vernünftige, der aufgeklärte Mensch glaubt an nichts, er
wird zum Nihilisten:
TALBOT.
Bald ists vorüber und der Erde geb ich,
Der ewgen Sonne die Atome wieder,
Die sich zu Schmerz und Lust in mir gefügt –
Und von dem mächtgen Talbot, der die Welt
Mit seinem Kriegsruhm füllte, bleibt nichts übrig,
Als eine Handvoll leichten Staubs. – So geht
Der Mensch zu Ende – und die einzige
Ausbeute, die wir aus dem Kampf des Lebens
Wegtragen, ist die Einsicht in das Nichts,
Und herzliche Verachtung alles dessen,
Was uns erhaben schien und wünschenswert –
(V. 23462356)
Johanna erscheint demgegenüber in ihrem Körperpanzer wie ein
Automat und (Frankensteins) Monster der Romantik, ein fernge-
steuerter Kampfroboter. Sie tritt als Kriegsfurie auf, mit der Fahne
stürmt sie voran, schön und schrecklich zugleich. »Ein Schlachten
wars, nicht eine Schlacht zu nennen!« So der Bericht des Boten.
Und vor allem: »Ihr glaubt das Volk und dürstet nach Gefechten.«
(V. 992)
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
132
Hans-Georg Pott
JOHANNA.
Nicht mein Geschlecht beschwöre! Nenne mich nicht Weib.
Gleichwie die körperlosen Geister, die nicht frein
Auf irdsche Weise, schließ ich mich an kein Geschlecht
Der Menschen an, und dieser Panzer deckt kein Herz.
(V. 16081611)
Johanna repräsentiert dieses Ungeheuer in ihrem Körperpanzer,
dem das Herz fehlt, und das einem »körperlosen Geist« gleicht,
einem Gespenst. Zugleich bleibt sie nicht nur für Montgomery in
ihrer menschlichen Gestalt sichtbar. Nachdem sie ihn getötet hat,
enthüllt sich ihr die nahezu schizoide Unversöhnlichkeit von Seele
und Geist:
Erhabne Jungfrau, du wirkst Mächtiges in mir!
Du rüstest den unkriegerischen Arm mit Kraft,
Dies Herz mit Unerbittlichkeit bewaffnest du.
In Mitleid schmilzt die Seele und die Hand erbebt,
Als bräche sie in eines Tempels heilgen Bau,
Den blühenden Leib des Gegners zu verletzen,
Schon vor des Eisens blanker Schneide schaudert mir,
Doch wenn es not tut, alsbald ist die Kraft mir da,
Und nimmer irrend in der zitternden Hand regiert
Das Schwert sich selbst, als wär es ein lebendger Geist.
(V. 16771686; Herv. H.-G. P.)
Es ist der ›Geist‹, der sie steuert:
Denn dem Geisterreich, dem strengen, unverletzlichen,
Verpflichtet mich der furchtbar bindende Vertrag,
Mit dem Schwert zu töten alles Lebende, das mir
Der Schlachten Gott verhängnisvoll entgegenschickt.
(V. 15991602)
Was für ein Vertrag? Es ist ein gespenstischer Vertrag mit einem
Geisterreich. Sie verweigert sich dem Menschlichen, weil sie geist-
gesteuert ist. Vom Geisterhält sie ihre Anweisungen. Schiller
133
wechselt zwischen den Namen ihrer Befehlsgeber: ›Himmlische
Jungfrau‹, ›Gott‹ und ›Geist‹. Nie sagt er ›Heiliger Geist‹. In
der Mehrzahl beruft Johanna sich auf den Geist. Will Schiller damit
andeuten, dass es sich hier um einen vorchristlichen Geisterglauben
handelt, der sich in der Berufung auf die Heilige Jungfrau gleichsam
fetischistisch fortsetzt? Ihr Glaube an die Sterne, auf die sie sich
ebenfalls des Öfteren beruft, hat etwa Archaisches und – aus der
Sicht des christlichen Glaubens – Abergläubisches, darin ihrem
Vater ähnlich.
Ein Satz wie: »Ich bin die Kriegerin des höchsten Gottes«
(V. 2203) könnte auch eine islamistische Terroristin sprechen – oder
in männlicher Form ein Ritter der Kreuzzüge. Wir dürfen vor diesen
Verbindungen nicht die Ohren und Augen verschließen. Dunois, La
Hire, die sie heiraten wollen, der Erzbischof, der das unterstützt, der
König, der sie in den Adelsstand erheben will: sie alle wollen sie in
die menschliche Gemeinschaft zurückholen und eingliedern, und ihr
Seelenheil retten – nicht ohne einen machtpolitischen Hintersinn.
Die Politik, das gilt auch für die Zeit nach 1800, soll eine Männer-
domäne bleiben. Aber die Gotteskriegerin verweigert sich:
Des Himmels Herrlichkeit umleuchtet euch,
Vor eurem Aug enthüllt er seine Wunder,
Und ihr erblickt in mir nichts als ein Weib. (V. 22522254)
Schiller macht aus ihr nicht ein naiv-gläubiges Bauernmädchen, das
Visionen der himmlischen Jungfrau hat und dem man eine Pilger-
stätte hätte weihen können wie in Lourdes. Ihre Pilgerstätte ist
Frankreich. Sie ist naiv und sentimentalisch, gefühlsgesteuert und
verstandesreflektiert zugleich. Auf der einen Seite ist sie im magi-
schen Denken befangen, wenn sie das Abbild der Himmelskönigin
auf der Fahne für diese selbst hält, also Sein und Zeichen nicht un-
terscheidet. Agnes Sorel spricht das ganz klar aus (Johanna hat sich
inzwischen in den Engländer Lionel verliebt):
SOREL.
O sie ist außer sich! Komm zu dir selbst!
Erkenne dich, du siehst nichts Wirkliches!
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
im Grundrisse. Teil II I ( Werke in zwanzig Bänden, Bd. 10). Frankfurt a. M. 1970,
S. 198.
134
Hans-Georg Pott
Das ist ihr irdisch nachgeahmtes Bild,
Sie selber wandelt in des Himmels Chören!
JOHANNA.
Furchtbare, kommst du dein Geschöpf zu strafen?
Verderbe, strafe mich, nimm deine Blitze,
Und laß sie fallen auf mein schuldig Haupt.
Gebrochen hab ich meinen Bund, entweiht,
Gelästert hab ich deinen heilgen Namen! (V. 27382746)
Auf der anderen Seite, in ihrem innersten Selbst, ihrer nicht ›vom
Geist‹ ferngesteuerten Seele, weiß sie, dass sie Schuld auf sich gela-
den hat und zwar doppelt: gegenüber dem ›Geist‹ und gegenüber
der menschlichen Natur. Sie verliebt sich in den Engländer Lionel,
den sie, anders als den walisischen Jüngling Montgomery, verschont.
Nachdem sie das Völkerfest in Reims zur Königskrönung erkämpft
hat, ist sie auf sich selbst verwiesen und fragt nach ihrem Ich, dem
Bewusstsein ihrer selbst.
Wer? Ich? Ich eines Mannes Bild
In meinem reinen Busen tragen?
Dies Herz, von Himmels Glanz erfüllt,
Darf einer irdschen Liebe schlagen?
Ich meines Landes Retterin,
Des höchsten Gottes Kriegerin,
Für meines Landes Feind entbrennen!
Darf ichs der keuschen Sonne nennen,
Und mich vernichtet nicht die Scham! (V. 25422550)
Das Ich, sagt Hegel, ist »der durch die Naturseele schlagende und
ihre Natürlichkeit verzehrende Blitz«.34 Die Folgen sind der Zwei-
fel und die Zerstörung des Charismas. Im langen Monolog zu Be-
ginn des vierten Aufzugs kommt ihre menschliche Seite, ihr Ich,
zum Vorschein. Hier stehen die ungeheuren Verse Schillers:
35 Die Nationalausgabe versteht das blinde Handeln als dämonische Freiheit: NA 9,
S. 430. Vgl. meine Bemerkung zu ›Freiheit‹ in Anm. 13.
36 Vgl. Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit (s. Anm. 10), S. 519.
37 So Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit (s. Anm. 10), S. 522, dem ich gegenüber all den
Deutungen des schwarzen Ritters als Figur des Bösen nachdrücklich zustimme.
38 Ebd., S. 524.
39 NA 9, S. 449 f.
135
JOHANNA.
Mit deinem Blick fing dein Verbrechen an,
Unglückliche! Ein blindes Werkzeug fodert Gott,
Mit blinden Augen mußtest dus vollbringen!
Sobald du sahst, verließ dich Gottes Schild,
Ergriffen dich der Hölle Schlingen! (V. 25772581)
Warum ungeheure Verse? Ungeheuer ist das zwielichtige »dei-
nem/dein« des ersten Verses: »Mit deinem Blick fing dein Verbre-
chen an.« Spricht sie die Heilige Jungfrau oder sich selbst an? Oder
beide? Was Schiller hier ausspricht, lautet in Prosa übersetzt: Wo
Menschen sich in ihrem Handeln auf Göttliches berufen, handeln
sie blind und verbrecherisch.35 Johanna ist ein fremdgesteuertes Me-
dium mystischer Empfängnis.36 Ein Es treibt sie an, das mit einem
göttlichen Vater-Überich kurzgeschlossen ist. Der schwarze Ritter
ließe sich dann als Einspruch ihres Ichs begreifen, einer vernünfti-
gen Skepsis, die im Spiel geschichtlicher Kräfte und Mächte un-
wirksam verhallt.37 Ein Augen-Blick (Lionels) lässt sie erstarren:
Subversion des Medusenblicks, der Durchbruch zu eigenen Gefüh-
len. Darin liegt ihre Tragik, die Tragik charismatischer Gestalten,
die ihre Menschlichkeit verlieren müssen, weil sie sich dem Spielfeld
blinder Mächte, Politik und Geschichte, überantworten. Sie werden
verehrt oder gehasst, aber – außerhalb der Dichtung – nicht in ihrer
menschlichen Tragik erkannt. Die Frage stellt sich, ob Johanna eine
Wahl gehabt hätte. Sie ist keine somnambule Träumerin.38 Und ge-
rade ihren sentimentalischen Charakter kritisierten Goethe und
Hebbel.39 Beide verkennen, worum es geht: um die Tragik der Un-
verfügbarkeit des politisch handelnden Menschen. Ihr Ich aus lie-
bendem Gefühl und Verstand gewinnt keine Macht über das
Andere ihres Selbst. Sie macht sich zum Opfer, zur Märtyrerin für
das Vaterland – aus eigenem Entschluss? Im Brief an Goethe vom
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
40 Schiller: Schillers Briefe (s. Anm. 9), S. 266.
41 Alle Zitate Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
III (s. Anm. 34), S. 131.
42 Ebd., S. 132.
136
Hans-Georg Pott
3. April 1801 hatte Schiller geschrieben, gerade im letzten Akt zeige
sich ihre »Selbstständigkeit und ihr Charakteranspruch auf die
Prophetenrolle«.40 Johannas Charakter ist in gewisser Weise ihr
Schicksal. Die Frage nach Freiheit und Notwendigkeit ihres Han-
delns lässt sich aus Hegels Anthropologie heraus verstehen, aus der
»Weise, wie die menschliche Seele zum Gefühl ihrer Totalität
kommt«. Dazu ist das »Verhältnis des Individuums zu seinem Ge-
nius« zu betrachten. »Unter dem Genius haben wir die in allen
Lagen und Verhältnissen des Menschen über dessen Tun und
Schicksal entscheidende Besonderheit desselben zu verstehen.« Was
ist der Genius Johannas? Es ist die Besonderheit des Charakters:
»Diese Besonderheit meines Inneren macht mein Verhängnis aus,
denn sie ist das Orakel, von dessen Ausspruch alle Entschließungen
des Individuums abhängen; sie bildet das Objektive, welches sich
von dem Inneren des Charakters heraus geltend macht.«41 Es ist
das, was sich fühlend geltend macht, das intuitiv Unbewusste im Un-
terschied zum reflexiven Selbstbewusstsein, das ebenso wesentlich zur
Person gehört und sie mit der Außenwelt vermittelt. Aber selbst
das wache, verständige, in allgemeinen Bestimmungen sich
bewegende Bewußtsein wird folglich von seinem Genius auf
eine so übermächtige Weise bestimmt, daß dabei das Indivi-
duum in einem Verhältnis der Unselbständigkeit erscheint,
welches mit der Abhängigkeit des Fötus von der Seele der
Mutter oder mit der passiven Art verglichen werden kann,
wie im Träumen die Seele zur Vorstellung ihrer individuellen
Welt gelangt.42
Damit wird die Verstrickung von Charakter und Schicksal deutlich.
Die Tragik Johannas liegt darin begründet, dass ihr Genius sie nicht
zur Identität von inneren Stimmen und Auftrag vermittelt, sondern
sie entzweit und unter sein Joch zwingt. Ihr Gefühlsleben wird im
Augen-Blick der Begegnung mit Lionel gespalten, und sie gerät in
43 Hegel kommt in diesem Zusammenhang auch auf Jeanne d’Arc zu sprechen, al-
lerdings auf die historische, nicht auf Schillers gebrochen naiv-sentimentalische.
Daher versteht er jene nur in Verbindung mit dem damals gerade entdeckten
»animalischen Magnetismus«. »Das merkwürdigste Beispiel solcher Exaltation
ist aber die berühmte Jeanne dArc, in welcher einerseits die patriotische Begeis-
terung einer ganz reinen, einfachen Seele, andererseits eine Art von magnetischem
Zustande sichtbar wird.« Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
im Grundrisse III (s. Anm. 34), S. 140.
44 Friedrich Schiller: Der Antritt des neuen Jahrhunderts. In: NA 2,1 (s. Anm. 12),
S. 363.
137
Widerspruch zum Auftrag der Stimme des Geistes, des Genius.43
Sie sieht plötzlich, wohingegen sie der Stimme des Anderen blind
folgt. Sie wird sehend und erkennend, was sie aber verwirft, um
ihrem magischen (›genialen‹) Charakter zu folgen. Freiheit gibt
es, folgen wir Hegel, auf der Ebene der »fühlenden Seele in ihrer
Unmittelbarkeit« nicht. Zwar erhebt Schiller seine Johanna darü-
ber hinaus, aber nicht uneingeschränkt in die Sphäre des »freien
Geistes« (in Hegels Terminologie). Insofern bleibt sie im irdischen
Leben ganz und gar ein menschliches Wesen. Überaus pessimistisch
heißt es in Schillers Gedicht Der Antritt des neuen Jahrhunderts:
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
Und das Schöne blüht nur im Gesang.44
Im fünften Aufzug irrt sie als Verbannte mit ihrem Landsmann Rai-
mond, der als einziger zu ihr steht, sie allerdings für eine Zauberin
hält, durch die Gegend. Nunmehr befindet sie sich ganz in Bann
ihrer gepanzerten Identität. Sie weigert sich, ihren Helm abzulegen
und überlässt sich dem, was sie Schicksal nennt: dem Walten der
Götter. (vgl. V. 31893192) Wie alles naturmagische Denken leug-
net sie den Zufall. Zwischen der Bezeichnung als Zauberin und Hei-
liger besteht nur ein winziger, vielleicht gar kein Unterschied. Ihre
Unterwerfung hat aber einen Namen, den des Vaters, der zwischen
dem irdischen und dem himmlischen ununterscheidbar ist:
JOHANNA.
Ich unterwarf mich schweigend dem Geschick,
Das Gott, mein Meister, über mich verhängte.
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
45 Das Zitat stellt Walter Benjamin seinem Wahlverwandtschaften-Essay voran. (Wal-
ter Benjamin: »Goethes Wahlverwandtschaften«. In: Ders.: Gesammelte Werke.
Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 2. Aufl. Frankfurt a. M.
1978, Bd. II/1, S. 123–201, hier: S. 125.
138
Hans-Georg Pott
RAIMOND.
Ihr konntet Eurem Vater nichts erwidern!
JOHANNA.
Weil es vom Vater kam, so kams von Gott,
[…] (V. 31473150)
Als sie ihren Vater am Krönungsfest erblickt, schreit sie auf: »Gott!
mein Vater!« Die Unterwerfung unter den Namen des Vaters ist
zugleich eine unter das Vaterland, den neuen Gott des Nationalis-
mus. Als sie Lionel wieder begegnet, ist dieser nur der Feind, »der
verhaßte, meines Volks«. Man könnte aus Schillers Darstellung die
Einsicht gewinnen, dass ›Vaterland‹ der Name für einen neuen
Gott ist. Die beiden Völker müssen ›ewig‹ geschieden sein in
Freund und Feind. »Führe deine Heere / Hinweg von meines Va-
terlandes Boden«. (V. 33533354) Das klang natürlich 1801 wie
Musik in den Ohren der Deutschen.
Johannas Identifikation mit der Himmlischen Jungfrau ist stär-
ker als die eigene Stimme des Herzens. Ihre schlussendliche Unter-
werfung unter ihren göttlichen Auftrag erzwingt den Tod für das
Vaterland. Sie stirbt nicht versöhnt sondern verzweifelt, wenn sie
in den Himmel der toten Identität von Individuum und Gemein-
schaft erhoben wird. Wie alle Heiligen leuchtet sie fortan denen,
die an sie glauben.
Schiller beendet die Szene mit einem heidnischen Theaterdon-
ner. Johanna verweigert das Wort gegen die Anschuldigungen des
Vaters, der sie der Gotteslästerung anklagt. Statt dessen donnert es,
als ob Wotan oder Zeus das Wort ergriffen hätten. Von Klopstock
stammt das Wort: »Wer blind wählet, dem schlägt Opferdampf /
In die Augen.«45 Johanna opfert sich blind für das Vaterland, das
erste Opfer der Millionen nachfolgenden Toten der Nationen.
Am Ende des Dramas kämpft das Volk den letzten siegreichen
Kampf gegen die Engländer. Johannas Untergang, zugleich ihre
Auferstehung, wird überaus theatralisch inszeniert. Schiller bemüht
139
die Anspielung auf Golgatha: »Gott! Gott! So sehr wirst du mich
nicht verlassen!« ruft sie aus. Und so vollzieht sich ihre Apotheose:
KÖNIG mit abgewandtem Gesicht.
Gebt ihr die Fahne!
Man reicht sie ihr. Sie steht ganz frei aufgerichtet, die Fahne
in der Hand – Der Himmel ist von einem rosigten Schein
beleuchtet.
JOHANNA.
Seht ihr den Regenbogen in der Luft?
Der Himmel öffnet seine goldnen Tore,
Im Chor der Engel steht sie glänzend da,
Sie hält den ewgen Sohn an ihrer Brust,
Die Arme streckt sie lächelnd mir entgegen.
Wie wird mir – Leichte Wolken heben mich –
Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide.
Hinauf – hinauf – Die Erde flieht zurück –
Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!
Die Fahne entfällt ihr, sie sinkt tot darauf nieder – Alle ste-
hen lange in sprachloser Rührung Auf einen leisen Wink
des Königs werden alle Fahnen sanft auf sie niedergelassen,
daß sie ganz davon bedeckt wird. (V. 35353544)
Ihre Individualität wird gelöscht, sie wird zu einem Kollektivkörper.
Sie aufersteht als Denkmal, welches das Volk zur Einheit einer Na-
tion verfügt.
Auch hier lässt sich der historische Stoff nicht bruchlos mit der
dramatischen Form vermitteln. Die Fahne, die sie bedeckt, macht
sie zugleich unschädlich. Ihre Apotheose verdeckt die Restitution
der alten Ordnung: »Es lebe der König!«
4. Abschließende ungesicherte Überlegungen
We r ist Johanna von Orleans? Die historische Johanna, also die Jo-
hanna der Historiker, hat im Laufe der Jahrhunderte die verschie-
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
46 Vgl. Lantz: »Krise der Politik und Krise des Symbols« (s. Anm. 19), S. 72–83,
hier: S. 75. Ferner Wulf Wülfing/Karin Bruns/Rolf Parr: Historische Mythologie
der Deutschen 1798–1918. München 1991, S. 1–17 (Einleitung).
47 Dazu ausführlich Frank/Koschorke: Der fiktive Staat (s. Anm. 17), S. 241–246
u. 268.
140
HHans-Georg Pott
densten Deutungen erfahren, ebenso wie die Johanna Schillers. Sie
wird als starke Frau glorifiziert und als manisch-depressive Psycho-
tikerin abgestempelt. Mich hat in erster Linie der Vorgang der Cha-
rismatisierung und dessen politische Funktion im Gründungsmythos
des Protonationalismus interessiert.
Kunst und Literatur haben stets an nationalen Symbolen und
Mythen mitgewirkt. Der Anteil des Fiktiven und Imaginären am
Politischen kann kaum unterschätzt werden und findet in der For-
schung zunehmend Beachtung. Insbesondere anhand der Symbolpo-
litik der Französischen Revolution sind die Zeichen, Embleme, Feste
und Aktionen (wilde Maibaumpflanzungen) untersucht worden.46
Mag seine Wirkung auch heute verblasst sein, so muss man die Funk-
tionsweise im Zusammenhang mit Ritus, Kultus und Liturgie
sehen. Als Kultobjekt ist Johanna ein Ding-Symbol (tote Identität)
wie etwa der Heilige Gral, wobei nicht das ›Ding‹ das Entschei-
dende ist, sondern der soziale Prozess, in dessen Mittelpunkt es
steht. Solche Prozesse dienen der Integration sozialer Verbände, wie
groß oder klein sie auch immer sein mögen.
Im historischen (Rück-)Blick konnte das Kollektiv der Nation
nicht einfach an die Stelle des Monarchen treten. Dazu ist es zu
abstrakt-allgemein. Zudem war der Platz des Souveräns zunächst
leer. Der Begriff des Gesetzes, die Verfassung, konnte ihn in der
Wahrnehmung des Volks nicht einnehmen. Das erklärt die Sym-
bolpolitik der Französischen Revolution und vielleicht auch heute
noch die Inszenierung von Politik in den Massenmedien.47
Rational rekonstruierbar ist Johanna von Orleans als eine im na-
turmagischen und religiös-christlichen Glauben verhaftete junge
Frau, die Visionen hatte und eine charismatische Heerführerin
wurde. Das ist schon rätselhaft genug, auch wenn in jener Zeit und
bis heute religiöser Fanatismus und charismatische Führerpersön-
lichkeiten enorme kollektive Energien zu mobilisieren in der Lage
sind. Als solche eignet sie sich für die Produktion von Gründungs-
48 Vgl. hierzu instruktiv am Beispiel des schweizerischen Bauernkrieges von 1635
Suter: »Protonationalismus – Konstrukt und gesellschaftlich-politische Wirk-
lichkeit« (s. Anm. 23), S. 301–322.
49 Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt a. M. 1980, S. 314.
141
mythen, die eine interpretierende und eine legitimierende Funktion
von Krisenlagen und Konflikten haben, die ansonsten für die Zeit-
genossen undurchschaubar sind.48
Man kann nicht sagen, dass Schiller den kommenden, gespens-
tischen Nationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ver-
harmlost habe. Unter dem Einfluss eines Glaubens an himmlische
Mächte, die sich unmittelbar, ohne die Vermittlungsinstanz der Kir-
che, offenbaren, was für den Klerus immer gefährlich ist, mutiert
eine junge Frau zu einer Kampf- und Tötungsmaschine (»ein
Schlachten wars und keine Schlacht«), die einen Auftrag zu erfül-
len hat, der letztlich von einer väterlich-göttlichen, absoluten Au-
torität ergeht.
Schiller stellt Johanna als durchaus gespaltene Persönlichkeit
dar. Das könnte wie eine Paranoia aussehen, ist aber der ganz nor-
male Wahnsinn von Menschen, die sich ihrer Selbstbestimmung
entäußern und Führerbefehlen blindlings folgen. Elias Canetti hat
hierzu in seinem Werk Masse und Macht bedeutsame Ausführun-
gen gemacht.49 So zeigt er den Umschlag von religiöser Hingabe in
religiösen Wahn:
Jeder Gottgläubige steht immer in Gottes Macht und hat
sich auf seine Weise damit abgefunden. Aber manchen ist
das nicht genug. Sie warten auf seinen scharfen Eingriff,
einen unmittelbaren Akt der göttlichen Gewalt, die sie als
solche erkennen und fühlen können. Sie befinden sich im
Zustand der Befehlserwartung, Gott hat für sie die krasseren
Züge des Herrschers. Sein aktiver Wille, ihre aktive Unter-
werfung in jedem einzelnen Falle, in jeder Äußerung wird
ihnen zum Kernstück des Glaubens. Religionen dieser Art
neigen zur Betonung der göttlichen Prädestination; ihre An-
hänger haben dadurch Gelegenheit, alles, was ihnen ge-
schieht, als unmittelbaren Ausdruck des göttlichen Willens
Heiliger Krieg, Charisma und Märtyrertum
50 Ebd.
142
Hans-Georg Pott
zu fühlen. [...] Es ist, als lebten sie schon in Gottes Mund,
der sie im nächsten Augenblick zermalmen wird.50
Nur weil die Ideen Volk und Nation historisch eine Zeit lang Er-
folgsmodelle waren, konnte Johanna in einer späteren Zeit zum Na-
tionalsymbol und zur Nationalheldin werden. Sie wurde 1920 von
Papst Benedikt XV. heiliggesprochen. In ihrer Zeit wurde sie als
Ketzerin verbrannt.
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Jeanne d' Arc. Die Jungfrau von Orleans (s. Anm. 2), S. 14, sowie Frank/Koschorke: Der fiktive Staat (s
  • Vgl
  • Krumeich
Vgl. Krumeich: Jeanne d' Arc. Die Jungfrau von Orleans (s. Anm. 2), S. 14, sowie Frank/Koschorke: Der fiktive Staat (s. Anm. 17), S. 276.
Ihr konntet Eurem Vater nichts erwidern! JOHANNA. Weil es vom Vater kam, so kams von Gott
  • Raimond
RAIMOND. Ihr konntet Eurem Vater nichts erwidern! JOHANNA. Weil es vom Vater kam, so kams von Gott, […] (V. 3147-3150)
Auch hier lässt sich der historische Stoff nicht bruchlos mit der dramatischen Form vermitteln. Die Fahne, die sie bedeckt, macht sie zugleich unschädlich. Ihre Apotheose verdeckt die Restitution der alten Ordnung: »Es lebe der König!« 4
  • Ihre Individualität Wird Gelöscht
  • Kollektivkörper
Ihre Individualität wird gelöscht, sie wird zu einem Kollektivkörper. Sie aufersteht als Denkmal, welches das Volk zur Einheit einer Nation verfügt. Auch hier lässt sich der historische Stoff nicht bruchlos mit der dramatischen Form vermitteln. Die Fahne, die sie bedeckt, macht sie zugleich unschädlich. Ihre Apotheose verdeckt die Restitution der alten Ordnung: »Es lebe der König!« 4. Abschließende ungesicherte Überlegungen Wer ist Johanna von Orleans? Die historische Johanna, also die Johanna der Historiker, hat im Laufe der Jahrhunderte die verschie-
Ferner Wulf Wülfing/Karin Bruns/Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918
  • Vgl
  • Lantz
Vgl. Lantz: »Krise der Politik und Krise des Symbols« (s. Anm. 19), S. 72-83, hier: S. 75. Ferner Wulf Wülfing/Karin Bruns/Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918. München 1991, S. 1-17 (Einleitung).