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Psychoanalyse des Wünschens

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Die psychoanalytische Theorie des Wünschens ist zwar über hundert Jahre alt, sie hat aber Ent-wicklungschancen. Das Denken in Wunschperspektive oder die desiderative Mentalität ist eine wohlbekannte und alltägliche Erscheinung, aber sie entgeht der systematischen Aufmerksam-keit. Wer in der Perspektive des Wünschens denkt, sieht biographische Ereignisse und Heraus-forderungen im Bezug von Appetenz und Aversion, beurteilt sie zwischen Happy End und Kata-strophe, folgt einer naiven Moral der Präferenz und lebt in einer Welt voll Sinn und Bedeutung. Das Denken in Wunschperspektive unterscheidet sich vom praktischen Sinn des Werkzeug-und Kompetenzgebrauchs, vom Beobachten, Explorieren und Reflektieren. Die desiderative Menta-lität spielt für die Regulierung des Befindens, das Spiel der Beziehungen und die gesellschaftli-che Kultivierung der Imagination eine Schlüsselrolle. Wunschäußerungen im Alltag In der politischen Morgensendung des Deutschlandfunks vom 5.2.2009, 8.40 Uhr, wurde der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, zu ei-nem Thema interviewt, das für öffentliche Unruhe gesorgt hatte. Der Papst hatte, zum grossen Befremden der Laienöffentlichkeit, aber auch kirchlicher Kreise, der exkommunizierten Pius-bruderschaft die Rückkehr in die katholische Kirche in Aussicht gestellt. Ein prominentes Mit-glied der Piusbruderschaft, Roger Williamsen, war für die Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden bekannt und verteidigte diese Position in den Medien. Im Deutsch-landfunk stellte man Dieter Graumann die Frage: Verlangen Sie vom Papst, dass er Williamsen auffordert, öffentlich und ausdrücklich die Verleugnung der nationalsozialistischen Verbrechen zurückzunehmen? Ich gebe die Formulierung aus dem Gedächtnis wieder; wichtig ist, dass der Interviewer das Wort verlangen verwendete. Graumann antwortete: Wir haben nichts zu verlan-gen, wir sind nicht in der Position zu fordern. Wir wünschen uns, es möge ein Schritt erfolgen... Auch hier ist die Gesamtformulierung ein Gedächtniszitat. Aber die drei Verben sind wirklich verwendet worden. Graumann unterscheidet zwischen verlangen, fordern und wünschen. Wer etwas verlangt, will sein Gegenüber auf das Verlangte festlegen und ist bereit, der Sache Nach
Boothe, B. (2010). Psychoanalyse des Wünschens. In Zarnegin, K. (Hrsg.). Die Wissenschaft
des Unbewussten. (S. 213-234). Würzburg: Königshausen & Neumann.
Brigitte Boothe
Psychoanalyse des Wünschens
Abstract
Die psychoanalytische Theorie des Wünschens ist zwar über hundert Jahre alt, sie hat aber Ent-
wicklungschancen. Das Denken in Wunschperspektive oder die desiderative Mentalität ist eine
wohlbekannte und alltägliche Erscheinung, aber sie entgeht der systematischen Aufmerksam-
keit. Wer in der Perspektive des Wünschens denkt, sieht biographische Ereignisse und Heraus-
forderungen im Bezug von Appetenz und Aversion, beurteilt sie zwischen Happy End und Kata-
strophe, folgt einer naiven Moral der Präferenz und lebt in einer Welt voll Sinn und Bedeutung.
Das Denken in Wunschperspektive unterscheidet sich vom praktischen Sinn des Werkzeug- und
Kompetenzgebrauchs, vom Beobachten, Explorieren und Reflektieren. Die desiderative Menta-
lität spielt für die Regulierung des Befindens, das Spiel der Beziehungen und die gesellschaftli-
che Kultivierung der Imagination eine Schlüsselrolle.
Wunschäußerungen im Alltag
In der politischen Morgensendung des Deutschlandfunks vom 5.2.2009, 8.40 Uhr, wurde der
stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, zu ei-
nem Thema interviewt, das für öffentliche Unruhe gesorgt hatte. Der Papst hatte, zum grossen
Befremden der Laienöffentlichkeit, aber auch kirchlicher Kreise, der exkommunizierten Pius-
bruderschaft die Rückkehr in die katholische Kirche in Aussicht gestellt. Ein prominentes Mit-
glied der Piusbruderschaft, Roger Williamsen, war für die Leugnung der nationalsozialistischen
Verbrechen an den Juden bekannt und verteidigte diese Position in den Medien. Im Deutsch-
landfunk stellte man Dieter Graumann die Frage: Verlangen Sie vom Papst, dass er Williamsen
auffordert, öffentlich und ausdrücklich die Verleugnung der nationalsozialistischen Verbrechen
zurückzunehmen? Ich gebe die Formulierung aus dem Gedächtnis wieder; wichtig ist, dass der
Interviewer das Wort verlangen verwendete. Graumann antwortete: Wir haben nichts zu verlan-
gen, wir sind nicht in der Position zu fordern. Wir wünschen uns, es möge ein Schritt erfolgen...
Auch hier ist die Gesamtformulierung ein Gedächtniszitat. Aber die drei Verben sind wirklich
verwendet worden. Graumann unterscheidet zwischen verlangen, fordern und wünschen. Wer
etwas verlangt, will sein Gegenüber auf das Verlangte festlegen und ist bereit, der Sache Nach-
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druck zu verleihen. Man kann beispielsweise sagen: Ich verlange die Scheidung. Mein Anwalt
ist verständigt. Wer etwas fordert, ist begründungspflichtig. Ich fordere mehr Taschengeld. Alle
anderen bekommen mehr als ich. Das sind imperative Formulierungen. Wer einen Wunsch äus-
sert, ist nicht begründungspflichtig und wird dem Gegenüber auch nicht Druck machen. Die
Ehefrau sagt: Ich wünsche mir so sehr, dass du weniger trinkst. Oder: Ach, würdest du nur weni-
ger trinken. Oder: Es wäre so schön, wenn du weniger trinken würdest. Im Unterschied zur im-
perativen nenne ich dies die desiderative Diktion. Die Ehefrau bringt in desiderativer Sprache,
eben in Form einer Wunschäusserung, zum Ausdruck, dass die Einschränkung des Alkoholkon-
sums beim Ehemann eine Situation ist, die sie freudig begrüsst. Graumann sagt: Wir haben
nichts zu verlangen, wir sind nicht in der Position zu fordern. Wir wünschen uns, es möge ein
Schritt erfolgen…. Das heisst: Es wäre schön, wenn das Wünschbare geschähe, aber ich, der
dies äussert, habe keine Handlungsabsichten. Jedoch bekunde ich, was mir am Herzen liegt, und
ich bringe es zu Gehör. Wunschäusserungen im Beziehungshandeln sind desiderativ, nicht impe-
rativ. Es sind Kundgaben, Offenbarungen dessen, was gemäss persönlicher Neigung zu begrüs-
sen wäre. Wer sich mit einer Wunschäusserung an einen anderen richtet, berührt und bewegt ihn
vielleicht. Doch wird der Wünschende über die Darstellung dessen hinaus, was aus seiner Sicht
wünschbar ist, nicht unternehmend. Er greift in desiderativer Mentalität nicht zu Massnahmen
der Durchsetzung.
Wer hingegen etwas will, richtet sich auf die Zukunft aus und fragt nach den Bedingungen, unter
denen man die Intention realisieren kann. Wollen richtet sich auf Aktivität in der Lebenspraxis.
Wer etwas wünscht, richtet sich nicht auf Aktivität in der Lebenspraxis. Er stößt einen Wunsch-
seufzer aus: Ach, wäre das schön, wenn NN jetzt da wäre und imaginiert ein wunscherfüllendes
Szenario. Wünschen schafft nicht Voraussetzungen für aktives Handeln im Dienst der Einwir-
kung auf die Realität, sondern Vorfreude oder Wehmut; letzteres dann, wenn man das Ge-
wünschte als jenseits alles in der Wirklichkeit Erwartbaren erlebt. Wer etwas will, lässt Taten
folgen. Wer etwas wünscht, genießt die Vorstellung des Gewünschten. Wer etwas will, nimmt
sich selbst in die Pflicht: Du willst es, also handle. Wer etwas wünscht, genießt den Komfort der
Passivität. Für nicht realisierte Absichten – nicht für Wünsche – kann man zur Rechenschaft ge-
zogen werden oder sich selbst zur Rechenschaft ziehen.
Wunsch und Wunscherfüllung
Wünschen macht die Diskrepanz deutlich zwischen einem als beglückend oder erfreulich bewer-
teten Soll-Zustand, dessen Erreichbarkeit ungewiss und vielleicht unbeeinflussbar ist, und einem
aktuellen Ist-Zustand, der sprichwörtlich zu wünschen übrig lässt. Das Wünschen akzentuiert
Diskrepanz. Bei der Wunscherfüllung hingegen ist das Diskrepanzerleben von Wunsch und
Wirklichkeit vorübergehend aufgehoben. Der Psychoanalytiker John Kafka gibt ein Beispiel für
eine wunscherfüllende Imagination, die für eine Patientin zur Quelle des Trostes und der Zuver-
sicht wurde: Es handelte sich um „eine hochintelligente schizophrene Patientin in Remission
…“: „Eine Krankenschwester mit fremdem Akzent und blondem Haar erschien der Patientin,
als wäre sie Heidi, die Hauptfigur aus einer Kindergeschichte.“ (Kafka 1991, S. 26). Diskrepanz
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ist im Augenblick der Erfüllung nivelliert. Diese flüchtige Diskrepanznivellierung dient der
Aufheiterung, ist eine komfortable Quelle von Daseinsvergnügen. Wer nicht gut lebt, kann Ima-
ginationen erfreulichen Lebens haben. Wer Heimweh hat, dem kommen zum Trost verklärte
Bilder von damals in den Sinn. Wer sich auf ein Ereignis freut, stellt es sich in der Wartezeit vor,
in leuchtenden Farben. Gewonnen ist auf diese Weise nichts für das praktische Leben. Aber
wunscherfüllende Imaginationen verschaffen psychischen Komfort, wenn das Handeln nicht
möglich oder nicht aussichtsreich ist (Boothe, von Wyl & Wepfer 1998; Boothe 1999).
Anhedonie ist die Unfähigkeit, sich zu freuen. Anhedonie ist auch die Unfähigkeit, durch imagi-
nierte wunscherfüllende Vorstellungen kurzfristige Entlastung und Stimmungsaufhellung zu
schaffen. Die Betroffenen leben in ständiger Spannung, Unruhe und Reizbarkeit. Kleine Wid-
rigkeiten des Alltags sind für sie Anlass zu massiver Verstimmung und zu selbst- und fremd-
schädigenden Attacken. Ihnen fehlt Wesentliches im Umgang mit Frustration: die Möglichkeit,
sich selbst zu beruhigen, zu beschwichtigen, zu besänftigen. Dies gelingt ihnen, wenn über-
haupt, nur durch den Gebrauch sedierender und stimmungsaufhellender Substanzen - und durch
den Gebrauch von Menschen, deren physische Anwesenheit flüchtig als besänftigende Droge
wirkt. Wer anhedonisch ist, dem fehlt nicht nur die Möglichkeit, das Erfreuliche zu geniessen,
sondern er kann auch nicht den Alltag mit Lichtpunkten auskleiden. Wer Misserfolg und Krän-
kung, Verlust und Enttäuschung, Kummer und Zurücksetzung psychisch meistert, verfügt nicht
nur über Urteils- und Handlungskompetenz, sondern auch über ein hedonisches Regulativ.
Wie wunscherfüllende Vorstellungen als hedonisches Regulativ wirksam sind, lehrt die emotio-
nale Alltagspraxis. Bestimmte emotionale Bewegungen akzentuieren den schmerzhaften Unter-
schied zwischen Wunsch und Wirklichkeit; andere nivellieren ihn. Reue ist eine emotionale Be-
wegung, die dringend wünschen lässt, man hätte anders gehandelt, als man es in Wirklichkeit
getan hat. Neid lässt die eigene Situation im Vergleich zur Lage des Beneideten als defizitär er-
scheinen. Man wünscht, an der Stelle des Beneideten zu sein, und weiss, dass man nicht dort
steht. Der Trauernde ersehnt die Gegenwart dessen, der unwiederbringlich verloren ist. Ganz
anders die Freude oder der Stolz: Für einen Augenblick fallen Wunsch und Wirklichkeit zu-
sammen. Die Ankunft des Geliebten oder der Genuss des Sieges sind Augenblicke der Fülle
oder des Triumphes.
Die mentale Leistung der Vorfreude ist imaginierte Wunscherfüllung im Vorfeld des ersehnten
Ereignisses. Sie ist vergleichbar mit dem Appetit. Appetit hatte Pawlows Hund. Pawlow baute
seine Experimente der klassischen Konditionierung im Vertrauen auf die Fähigkeit des Hundes
auf, gewissermaßen präparatorisch zu genießen. Er nutzte die präparatorische Genussfähigkeit
des Hundes, denn dieser reagierte auf den Anblick des Futters mit Zeichen der Konsumbereit-
schaft. Er reagierte ausserdem auf einen zunächst neutralen Reiz, einen Glockenton, der, für sich
genommen, indifferent war und nur durch die systematische Verknüpfung mit dem später ser-
vierten Mahl die ursprüngliche Indifferenz verlor. Dem Hund lief wie einem menschlichen Indi-
viduum, das Verlangen hat zu essen, das Wasser im Munde zusammen. Das Unlustvolle der Er-
wartung wird versüßt durch die Superposition des vorweggenommenen Genusses. Appetit ist
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der passende Ausdruck für diese positive Erwartungshaltung, die das Warten in etwas Erträgli-
ches ummünzt, wenn nicht sogar zu einer sekundär positiven Qualität macht. Appetit dämpft die
auf Aktion angelegte Hungerspannung vorübergehend und schafft so die Chance des Aushaltens.
Die durch hedonische Korrektur der Wunscherfüllung ermöglichte vorübergehende positive Be-
findlichkeitsänderung tritt nicht nur in konkreter Aussicht auf Realbefriedigung auf, sondern
auch beim Substitut, eben beim konditionierten Reiz, im Kulturprozess auch beim vorgestellten
Realgenuss, sogar als Ersatz für den Realgenuss und überdies als bloße ästhetische Darstellung
des Realgenusses: Durst und die Aussicht auf das Bier dort am Schanktisch, schon spüre ich,
wie es mir durch die Kehle rinnt das Wirtshausschild, schon assoziiere ich das Bier und be-
komme Lust, eins zu trinken das schön fotografierte schäumende Bier, schon bekomme ich
Lust, eins zu trinken. Oder: das schön fotografierte schäumende Bier, ich genieße, was ich jetzt
nicht trinken kann, in der Phantasie. Das geht, wenn das Trinkverlangen nicht zu groß ist.
Psychoanalyse und die desiderative Mentalität
Die mentale Evokation eines wunscherfüllenden Zustands verschafft der Person eine vorüberge-
hende hedonische Aufhellung ihrer Verfassung, die negative Erregung dämpft. Freud hat diese
Überblendungstechnik im Rahmen seiner Theorie des Traumes theoretisch und methodisch zur
Darstellung gebracht. Sie spielt jedoch eine allgemeinere Rolle als Quelle positiver Vitalität und
als Basis individueller Präferenzbildung.
„…die vom inneren Bedürfnis ausgehende Erregung entspricht….einer kontinuierlich wirken-
den Kraft. Eine Wendung kann erst eintreten, wenn auf irgendeinem Wege, beim Kinde durch
fremde Hilfeleistung, die Erfahrung des Befriedigungserlebnisses gemacht wird, das den inne-
ren Reiz aufhebt. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses ist das Erscheinen einer ge-
wissen Wahrnehmung…., deren Erinnerungsbild von jetzt an mit der Gedächtnisspur der Be-
dürfniserregung assoziiert bleibt. Sobald dies Bedürfnis ein nächstes Mal auftritt, wird sich,
dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, welche das Erinnerungs-
bild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also
eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederherstellen will. Eine solche Regung ist
das, was wir einen Wunsch heißen; das Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist die Wunscher-
füllung, und die volle Besetzung der Wahrnehmung von der Bedürfniserregung her der kürzeste
Weg der Wunscherfüllung“. (Freud 1900, S. 538)
Der Wunsch ist…nicht identisch mit dem Trieb, sondern mit der durch die Trieberregung akti-
vierten Assoziation zwischen Trieb, Objekt- und Bewegungsbild; d.h. der Wunsch umfasst die
gesamte Erinnerungsspur, nicht nur den Trieb…“ (Schmidt-Hellerau 2003, S. 114).
Das Bedürfnis findet seine Befriedigung in der spezifischen Aktion, die das adäquate Objekt
beschafft (z.B. Nahrung); der Wunsch ist unlösbar mit ‚Erinnerungsspuren‘ verknüpft und findet
seine Erfüllung in der halluzinatorischen Reproduktion der Wahrnehmungen, die zum Zeichen
(‚Erinnerungsbild‘) dieser Wahrnehmung geworden sind…“ (Laplanche & Pontalis 1972, S.
635).
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Die Befriedigung muss vorher erlebt worden sein, um ein Bedürfnis nach ihrer Wiederholung
zurückzulassen…“ (Freud 1905, S. 91).
Wunscherfüllung ist die mentale Leistung der Evokation einer Befindlichkeit, wie sie einmal
spannungslösend erlebt worden war (vgl. Freud, 1900, S. 571; zum begrifflichen Verhältnis von
Bedürfnisbefriedigung und Wunscherfüllung Heim, 1993, S. 464ff; Schmidt-Hellerau, z.B.
1995, S. 112ff., 160). Diese primitive mentale Leistung ist in psychoanalytischer Sicht die pri-
märe Artikulationsform des Psychischen. Die Fähigkeit, in Szenarien phantasierter Wunscher-
füllung träumend oder spielend zu leben, dient, mit einer Wendung Kants, zur Beförderung ...
der Lebenskräfte(1790, Kritik der Urteilskraft, § 29 Allg. Anm. III), da die Wunschbildungen
insgesamt das Gefühl des Lebens affizieren“. Zuwendung zum Leben, positive Vitalität oder
Lebensqualität entsteht in der Fähigkeit, das eigene Denken in den Dienst wunscherfüllender
Szenarien zu stellen. Die festliche Beglänzung dient auch den liebevollen Beziehungen zum
Gegenüber.
Der Sprung über den Rubikon
Die Fähigkeit zur Evokation des Wunscherfüllenden lehrt nicht, effizient zu handeln, ist aber die
Grundbedingung für Zuversicht, Lebensbejahung und Lebensfreude. In der Phantasie evozierte
Szenarien der Wunscherfüllung, unerfreulichen Spannungen entgegengesetzt, helfen, Misslich-
keit, Not und Leid zu überbrücken, den Wechselfällen des Lebens mit Zuversicht zu begegnen,
Irritationen und Empfindlichkeiten bei der Reibung am Objekt durch Freude und Genuss zu
überblenden.
Frei (2009, S. 18-23) formuliert: Sieht man sich die Sachregister der Enzyklopädie der Psycho-
logie in den Bänden zur Motivation und Emotion an, wird schnell klar, dass der Wunschbegriff
in der akademisch psychologischen Motivationspsychologie und Handlungstheorie so gut wie
keine Rolle spielt“. Er geht dann auf das Rubikonmodell der Handlungsphasen ein (Gollwitzer
1996; Heckhausen 1987). Eben dort steht der Wunsch am Anfang. Eine Vielfalt diverser alltägli-
cher Wunschvorstellungen bildet die motivationale Basis späterer Aktivität; zum Beispiel: Es
wäre schön, wenn ich ein paar Kilo weniger hätte; toll, wenn ich endlich Zeit hätte für einen
Tanzkurs; hätte ich nur endlich mal einen Partner. Diese Wunschvorstellungen gelangen in eine
Phase des Abwägens, des Hin und Her Bewegens. Das Rubikonmodell ist interessant, weil auch
hier das Reich der Wünsche wie in der psychoanalytischen Konzeption notorisch träge und
selbstgenügsam ist. Von unbewussten und archaischen Wünschen ist freilich nicht die Rede.
Weil Wünsche nicht von sich aus zum Handeln drängen, muss ein Verwirklichungsinteresse hin-
zukommen. Wer nicht nur stöhnt, dass es schön wäre, einen Tanzkurs zu besuchen, sondern ei-
nen Tanzkurs in Erwägung zieht, gelangt mit Gollwitzer und Heckhausen in eine Phase des Ab-
wägens. Und dann kommt der Sprung über den Rubikon: Weg vom Wünschen hin zum Wol-
len. Jetzt erfolgt nach der motivationalen Phase des Wünsche Erwägens die eigentliche Voliti-
onsbildung: Planen – Handeln Bewerten. Das Wunschkonzept als solches wird bei Gollwitzer
und Heckhausen nicht zum Gegenstand begrifflicher und inhaltlicher Analyse. Auch im Konzept
der Handlungs- (aktivitätsbezogen) versus Lageorientierung (befindlichkeits-, reflexions- und
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situationsbezogen) von Kuhl (2001) hat der Wunsch keinen expliziten Stellenwert. Jedoch geht
es dort um psychische Verfassungen, die Individuen initiative- und handlungsbereit machen, und
um psychische Verfassungen, die Personen in Handlungsabstinenz verharren lassen. Das Ver-
bleiben im Imaginativen, im Sinnen über die Lage, kann seinen Grund in Angst, Bedenken,
Kompetenz- und Orientierungsmangel haben, aber auch in Wunschimaginationen. Im Konzept
der Handlungs- versus Lageorientierung unterscheiden sich Personen nach Kuhl gemäß ihrer
Neigung und Fähigkeit, in emotional beanspruchenden Situationen, vor allem solchen, die das
Individuum mit etwas Negativem wie beispielsweise Schuld, Versagen, Missgeschick oder
Kränkung konfrontieren, lageorientiert zu verharren oder das krisenhafte Erleben zu überwinden
und wieder handelnd wirksam zu werden. Lageorientierte Personen sind stimmungsgebunden,
grübeln, sinnen, wenden ihre Aufmerksamkeit nach innen, reflektieren retrospektiv die Situation
und neigen zu erhöhter Selbstaufmerksamkeit. Handlungsorientierte Personen reflektieren und
räsonnieren nicht um des Räsonnierens selbst willen, sondern um das künftige Handeln zu ver-
bessern; sie suchen und erkennen Fehler, um wirksamer und erfolgreicher handeln zu können:
Sie sind planorientiert, richten sich auf die Zukunft aus, neigen zu prospektiver Situationsauf-
merksamkeit. Sowohl Handlungs- als auch Lageorientierung stellen psychische Regulative dar.
Übermäßige Lageorientierung beeinträchtigt Motivation und Handlungskompetenz. Zu wenig
Lageorientierung, eben wenn Umsicht, Selbstbesinnung, Abwägen auf der Strecke bleiben, kann
für den Planungs- und Handlungserfolg ungünstig sein.
Lageorientierung ist nicht Wunschbezug. Aber das Verharren im Wunschbezug bremst Hand-
lungsbereitschaft. Ob und wie die imaginierende Evokation von Erfüllungsszenerien beim Ver-
harren im Nicht-Handeln wirksam ist, ist in Zukunft noch zu explorieren.
Die desiderative Mentalität im Traum
Träumen, so nimmt Freud an, steht im Dienst der Schlaferhaltung. Träumen ist zugleich jedoch
ein Prozess, der sich mit aversiven Eindrücken verbinden kann und dann den Schlaf stört. Doch
ist Träumen in Freuds Theorie primär schlaffördernd. Droht dem Ruhezustand des Schlafs eine
psychophysische Störung, so setzt sich ihr ein Traum als Korrektiv entgegen. Das Träumen in
der Nacht soll Spannung annehmlich gestalten, reduzieren oder löschen. Träumen ist desiderati-
ve Mentalität, sie richtet sich nicht auf Wirksamkeit in der Welt, sondern auf die positive Regu-
lierung der Befindlichkeit. So entsteht gerade kein Aktivierungsdrang, sondern befriedete Ruhe.
Jedenfalls vorübergehend und so lange vigilanzinduzierende alarmierende Regungen wie Angst
nicht auf Unterbrechung des Schlafs und der Entspannung drängen (Boothe 1998; Malcolm-
Smith et al. 2008).
Die universelle Geltung der wunschdynamischen Traumtheorie war von Beginn an umstritten.
Freud selbst verweist in „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) auf den imperativen Wiederholungs-
charakter der traumatischen Träume. Die psychologisch-neurologische Traumforschung blieb
über Jahrzehnte erfolgreich mit der Annahme des motivational-neutralen Charakters der Träu-
me, unter der prominenten Führung von Hobson & McCarley (1977) oder Crick & Mitchison
(1983, 1995). Erst mit Solms gelangt auf hirnphysiologischer Ebene die Theorie der hedoni-
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schen Funktion des Tramregulativs zu neuer, inzwischen intensiver Aufmerksamkeit (Solms
2000, 2002; Solms & Turnbull 2004; auch dargestellt bei Mosch 2009, S.4):
„Nach dem Traummodell von Solms führt ein erregender Stimulus, der üblicherweise zu einer
motorischen Abführung gelangt, wie z.B. Tagesreste, REM-Schlaf oder Harndrang dazu, das
SUCH-System, welches im basalen Vorderhirn lokalisiert werden kann, zu aktivieren. Durch den
Schlaf ist es dem Stimulus allerdings unmöglich, den dorsolateralen Präfrontalkortex zu aktivie-
ren, d.h. sensorische Zonen, Motorik und exekutive Kontrollmechanismen werden während des
Schlafes geschützt…. Solms‘ Traumtheorie zielt nun darauf ab, dass sich aufgrund der dorsola-
teralen Hemmung der Stimulus regressiv in Regionen fortsetzt, welche perzeptuelle Halluzina-
tionen erzeugen können, d.h. die Nervensignale werden über den inferioren Parietalkortex zum
okzipito-temporalen respektive den unimodalen visuellen Assoziationskortex fortgepflanzt….“
Die Koppelung der Traumaktivität an den REM-Schlaf ist im Rahmen der Schlaflaborforschung
empirisch widerlegt (Foulkes 1985; Überblick in Strauch & Meier 1996). Hobson gehört zu den
prominenten Hirnforschern, die Skepsis anmelden, was den Deutungsbedarf und den psycholo-
gischen Sinn von Träumen angeht. Ein psychologischer Zugang sei belanglos. Bekannte Phä-
nomene des Traumgeschehens wie etwa typische Träume sind in dieser Sicht allenfalls stereoty-
pe Fiktionen, die im Nachhinein konfabuliert werden. Antrobus ist hier offener: Sein „General
Cortical Activation and Thresholds (GCAT)“-Modell (1991) verwirft die Koppelung von Trau-
mereignis und REM-Schlaf. Er geht vielmehr davon aus, dass Traumaktivität in sämtlichen
Schlafstadien vorkommt. Er erklärt das Traumerleben als Produkt zum einen der mit dem EEG
gemessenen kortikalen Aktivierung, die mit kognitiver Aktivierung einhergeht, und zum andern
der Umweltstimulation, die von den sensorischen Schwellen abhängig ist. Der Traum ist damit
eine kognitive Leistung, eine Antwort auf Reize und ein kortikales Geschehen. Traumanalyse
und Analyse der Traumkommunikation lohnen sich, wissenschaftlich und lebenspraktisch (Pace-
Schott et al. 2003). Eine innere und unlösbare Verbindung von Physiologie und Psychologie
formulieren die Zürcher Forscher Lehmann und Koukkou. Bereits in den 1980er Jahren haben
sie ihr integratives systemtheoretisches Modell entwickelt: das hirnphysiologische Zustands-
Wechsel-Modell des Traumgeschehens (Koukkou & Lehmann 2000). Sie verstehen die Traum-
aktivität als kontinuierlichen Vorgang während des gesamten Schlafzyklus. Traumaktivität ist
Gedächtnisarbeit, und es ist gedankliches Assoziieren in funktionellen Hirnzuständen. Die Hirn-
zustände wechseln in den unterschiedlichen Schlafphasen (S. 243-244). Die formalen Charakte-
ristika der erinnerten Träume wie beispielsweise assoziative Bildhaftigkeit, Inkohärenz der epi-
sodischen Struktur, Fragmentierung des Geschehens, Infantilisierung des Traum-Ichs und seiner
Interaktanden verdanken sich im hirnphysiologischen Zustands-Wechsel-Modell der Aktivie-
rung von Gedächtnisrepräsentationen auf niedriger Komplexitätsstufe. Diese Gedächtnisbilder
niedriger Komplexitätsstufe stammen aus den frühen Entwicklungsjahren der Kindheit und sind
lediglich im Schlaf-, nicht aber im Wachzustand abrufbar. Die physiologische Regression der
funktionellen Hirnzustände führt dazu, dass der Prozess der Traumgestaltung und Traument-
wicklung sich „kognitiv-emotionaler Strategien der Kindheit“ (S. 244-245) bedient. Ähnlich
wie Koukkou & Lehmann sehen psychoanalytisch und tiefenpsychologisch inspirierte Traum-
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modelle der Gegenwart in integrativen und regressiven mentalen Problemlösungsstrategien die
zentrale psychische Rolle der Traumaktivität. Dabei geht es um die Bearbeitung biographischer
Prioritäten (von Uslar 1990), die ein Individuum konflikthaft involvieren (Benedetti 1998; Er-
mann 2005); es geht aber auch um emotionale Gedächtniskonsolidierung und um Informations-
verarbeitung auf der Basis eines persönlichen Relevanzsystems (Überblick zu psychoanalyti-
schen Traumkonzepten bei Ermann 2005, Mertens 1999, S. 79 ff.; Leuschner 1999, S. 357-358).
Problemlösung, Gedächtniskonsolidierung und Informationsverarbeitung sind, so Mertens,
durchaus mit dem revidierten Wunsch-Modell der Traumgenese nach Freud verträglich. Denn
eine hedonische Orientierung ist für den regressiven Zustand entspannter Bewusstseinsferne und
entspannten Rückzugs von jeglichem Sozialbezug plausibel (Boothe 2002; dazu auch Moser &
von Zeppelin 1996). In diesem Sinn gibt der Traum der Welt Audienz, unter dem Diktat des
Komforts. Diese Losung bleibt brauchbar, wenn man die Aufgaben der Regeneration (die der
Schlaf ermöglicht) in ein dynamisches Spannungsverhältnis setzt zu den Aufgaben der Bewälti-
gung im Wachleben, die Vigilanz und Mobilität erfordern. Dann gilt: Wer Sorgen hat, schläft
schlecht. Wer im Wachen keine Aussichten auf wirkungsvolles Handeln hat, flüchtet sich in den
Komfort des Schlafes. Ganz im Sinne des Komfort-Gedankens formulieren Solms (2004),
Solms & Lechevalier (2002) und Solms & Turnbull (2002) zwei hirnorganische Regulierungs-
systeme: (1) die Regulierung des Binnenstatus des lebendigen Organismus; (2) Aufnahme exter-
ner Daten, externale Orientierung des Organismus. Die Regulierung des Binnenstatus, der Be-
findlichkeit, ist ein kontinuierliches Bewerten im Modus von Appetenz und Aversion. Solms
verknüpft die Idee der basal und spontan wertenden Binnenregulierung mit Freuds Konzeption
der Lustorientierung und der Triebregulierung. Wichtig ist, dass die Befindlichkeitsregulierung
für das Verständnis des Traumgeschehens fruchtbar gemacht werden kann. Damit knüpft Solms
an die psychoanalytische Idee der zentralen Bedeutung des Wunsches und der Wunscherfüllung
für den Traum an.
Die Ordnung der Erfahrung nach ihrer Lustgratifikation
Leibliche Sensibilität und elterliche Pflege sind die Wiege des kindlichen Geistes. Die elementa-
ren Erfahrungen von Komfort und Aversion sind Wurzeln der Phantasietätigkeit und der Fähig-
keit, das Dasein im Spiegel der Wünsche zu leben. Es geht dabei um eine Dynamik von Appe-
tenz und Aversion, eine Geschichte der Sinneseindrücke, Empfindungen und Befindlichkeiten.
Das Kind durchlebt Zustände der Spannung und Entspannung, Vigilanz und Schläfrigkeit, Be-
dürftigkeit und Sattheit. Das sind Zustände, die als angenehm oder unangenehm, tolerabel oder
irritierend, komfortabel oder unbekömmlich erlebt werden. Dabei kommt es zu zahlreichen
kommunikativen Ereignissen wie Begrüssung, Spiel und Abschied, Pflege, Liebkosung, Unter-
suchung und Beruhigung. Die Ereignisse kindlich-elterlicher Begegnung wiederholen sich vari-
antenreich und stetig; das Kind erfährt sie als lustvoll oder aversiv. Die Geschichte der Bedarfs-
regulierung und der vitalen Zustände ist zugleich eine Geschichte der Lust. Das Kind entwickelt
Präferenzen. Es wählt das Annehmliche, meidet das Aversive. Situationen werden aufgesucht
oder hergestellt um ihrer Lustprämie willen. Freud gab dieser elementaren Einstellung den Na-
men Lustprinzip (Freud 1916-17, S. 369). Es steht dem Realitätsprinzip gegenüber und ist le-
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benslang wirksam. Die Ordnung der Erfahrung nach ihrer Lustgratifikation schafft eine selbst-
zentrierte sinnhafte Daseinsaneignung: Das Leben ist gut soweit bekömmlich. Leben bietet in
dieser Perspektive Bedingungen und Aussichten der Erfüllung und der Misere (Freud 1908). Die
Ordnung der Erfahrung nach ihrer Lustgratifikation ist narrativ (Boothe 2004). Erfüllungsbedin-
gungen sind sprachliche Erwartungsformulierungen, an eine Plotdynamik gebunden und in nar-
rativen Spannungsbögen strukturiert (Boothe 2005, 2005a; Ricoeur 1988; Sarbin 1995, 2001).
Die Ordnung der Erfahrung nach ihrem Orientierungswert hingegen das dezentrierte Reali-
tätsprinzip folgt der Logik von Beobachtung, Beschreibung, Vermutung und Erklärung. Bru-
ner (1990) kennzeichnet die explorative Haltung zum Gegebenen als paradigmatische Perspek-
tive im Unterschied zur narrativen Modellierung biographischer Erfahrung.
Wunsch und narrative Struktur
In Alltagserzählungen geht es oft um vergangene Realvorfälle, aber diese werden nicht um ihrer
selbst willen ins Leben zurückgerufen, sondern stehen im Dienst eines persönlichen Anliegens.
Das narrative Sprechen zielt auf Wirkung und mobilisiert Erregung. Wer erzählt, präsentiert eine
Begebenheit als ein Ereignis in persönlichem Engagement und von emotionalem Interesse. Das
ist möglich durch den dramatischen Gestus, der dem Erzählen eignet. Erzählen ist dramatisch
und evokativ. Das gibt dem Gegenüber Gelegenheit zum narrativen Mitspielen. Die Untersu-
chung des narrativen Weltzugangs findet philosophische Aufmerksamkeit (z.B. Taylor 1994);
der narrative Weltzugang ist ebenso thematisiert in den Sozialwissenschaften (Flick 1995, S.44),
in Soziologie wie Sozialpsychologie (z.B. Gergen & Gergen 1984; Goffman 1959), Geschichts-
wissenschaft (Liebsch 1997; White 1991) und zunehmend auch in der allgemeinen Psychologie
(z.B. Bruner 1990; Straub 1997) wie im klinischen Bereich (z.B. Kohler Riessman 1993; beson-
ders prominent und erfolgreich im CCRT von Luborsky, Barber & Diguer 1992; Spence 1982a,
1982b, 1983). Young (1997, S.18) argumentiert mit White, die Aneignung der Welt- und Le-
bensereignisse vollziehe sich als eine grundlegende Praxis des Poetisierens” und damit als eine
Form des Sprechens, in der sich ein Individuum oder ein Kollektiv selbst zum Ausdruck bringt,
auf sich selbst verweist und das, was erzählend zur Darstellung kommt, im Licht der eigenen
Bewertung als bedeutsam erscheinen lässt. Was wir als Erfahrung wiedergeben, unterliegt Ge-
setzen der Gestaltung (Schafer 1970). Erzähler lassen Figuren auftreten, miteinander in Dialog
kommen und in ein dynamisches Zusammenspiel eintreten, das zu einer Entwicklung und zu
einem Abschluss führt. Die Alltagserzählung macht Eindruck, wird gehört, weitererzählt und
ausgeschmückt, ohne dass der jeweilige Erzähler und Wiedererzähler sich über diesen sorglosen
Aneignungsprozess Rechenschaft ablegte. Der Hörer nimmt die Haltung gläubiger und affirma-
tiver Rezeption ein. Er glaubt dem Erzähler, vollzieht mit und arrangiert das Gehörte neu.
Die narrative Bekundung von Lebensannehmlichkeit: Erzähler geben dem Gegenüber eine Be-
findlichkeitsorientierung. Sie zeigen dem Gegenüber: So ist oder war mir zumute in einer Situa-
tion, die ich so und so erlebt habe. Das erzählende Zeigen zielt auf bewegte und berührte Reso-
nanz, auf sympathisierende Teilnahme beim Gegenüber, auf emotionales Engagement. So hat
das Narrativ für die klinische Erzählforschung hohen Informationswert, nicht für eine gültige
10
Schilderung des Gewesenen, jedoch als Kundgabe der psychischen Verfassung des Erzählers.
Erzählen, die narrative Modellierung von Ereignissen, ist selbstregulativ und reguliert Bezie-
hungen (Boothe 2005, 2005a). Dabei lassen sich vier Modellierungsleistungen unterscheiden:
"Soziale Integration", die "Optimierung", "Stabilisierung" und "Aktualisierung".
Die Erzählung modelliert eigene Identität vor dem sozialen Gegenüber (soziale Integrati-
on).
Die Erzählung modelliert Situationen im Licht einer spezifischen, meist konfliktären,
Wunscherfüllungstendenz. Das ist die dem Lustprinzip verpflichtete Optimierung.
Die Erzählung repariert Desintegration und Destabilisierung in Richtung auf ein organi-
siertes verfügbares Ganzes (Stabilisierung durch Verwandlung von Passivität in Aktivi-
tät).
Die Erzählung aktualisiert Vergangenes und stellt damit Verbindung zur gegenwärtigen
Situation her (Aktualisierung oder Vergegenwärtigungsfunktion).
Erzählungen lassen sich nach diesen vier Modellierungsleistungen bestimmen. Die Fiktionali-
sierung von Erinnerung und biographischer wie autobiographischer Erzählung ist ein Alltags-
phänomen.
Denn wir rechnen damit,
dass die narrative Selbstvergewisserung durchsetzt ist von persönlichen Präferenz- und
Relevanzsystemen,
dass sie mitbestimmt ist durch das, was man in Erzählungen über die eigene Person gehört
hat,
dass Primärerfahrungen aus der Kindheitsgeschichte wirksam werden,
dass sich narrative Selbstvergewisserung aus kulturellen Geschichtenmustern speist. Sar-
bin (1995, 1997, 2000) hat detailliert die Konstruktion narrativer Identität dargestellt.
Hervorzuheben ist schließlich der Befund, dass in regressiven, von Umweltsignalen sich
abschließenden Zuständen, bei weitgehender Stilllegung der Orientierungs- und Kon-
trollfunktionen, vorgestellte und halluzinierte Ereignisse für wirklich gehalten werden
(Traum, reizarme, abgeschlossene, isolierte Milieus). Das liegt am regressions- und
rückzugsbedingten Ausfall innerer und äußerer Korrektive. In psychoanalytischer Dikti-
on: ein Hemmungs- und Zensuraufwand entfällt.
Die Untersuchung sprachlicher Inszenierungen ist sowohl psychotherapeutisch als auch für die
psychoanalytische Forschung relevant. Psychotherapeuten sollten sich auf die Art, wie ihre Pati-
enten erzählen, systematisch einlassen können. Die Geschichte als dramatische Inszenierung
liefert dem Therapeuten Hinweise auf vorbereitete Rollen, auf ein Handlungsrepertoire und ei-
nen Handlungsablauf, die ihm erlauben, unter Führung des Patienten an dessen Erfahrungsorga-
nisation (Schütze 1977, 1983) teilzunehmen. Therapeuten können dieser spezifischen Ordnung
11
der Dinge Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmuster entnehmen, die für die Lebensperspektive
des Patienten bedeutsam sind, ihm aber Zugänge zu einer inneren Neuorientierung verstellen.
Die Analyse sprachlicher Inszenierungen bietet sich an als Möglichkeit, den pathologischen Sta-
bilisierungs- oder den produktiven Veränderungsprozess von Patienten anhand der Verarbei-
tungsmodelle exakt zu verfolgen, die sie in ihren Erzählungen anbieten.
Die narrative Erfahrungsorganisation: ein Beispiel
Erzähler wechseln vom Hier und Jetzt zum Zeit- und Raumbezug des Narrativs. Bei Wirklich-
keitserzählungen (so nennen Klein & Martinez 2009 die nicht-fiktionalen Erzählungen) bean-
sprucht der Erzähler, damals dort gewesen zu sein. Er stellt eine Versetzungsregie mit historisch-
geographischer Referenz her. Der Wechsel zum Zeit- und Raumbezug des Narrativs hat imagi-
nativen Charakter, weil Ort und Zeit als persönlicher Ort, persönliche Zeit eingeführt werden.
So arrangiert und konstelliert die Erzählerin Amalie anfangs einen Augustabend auf dem Berg:
1 wir sind mal in NN abends spazieren
2 C (Sohn des B) war schon im Bett
3 s war ein wunderbarer Sommerabend da im August war des auf en X-Berg
4 das ist so der einzige schöne Berg dort
Ein Wir wird eingeführt, im Kontext von Aktivität, man unternimmt einen Spaziergang:
Wir sind mal in NN abends spazieren
Eine weitere Person – aus dem Kontext ist bekannt, dass es sich um den kleinen Sohn des
Mannes handelt, mit dem das Ich den Spaziergang unternimmt ist nicht dabei, wird
aber im initialen Arrangement platziert und ist damit relevant: der MM war schon im
Bett
Die zeitliche Referenz wird nach ihrem Stimmungscharakter qualifiziert: s war ein wun-
derbarer Sommerabend
Das Wo und Wann wird in einem allgemeinen raumzeitlichen Koordinatensystem kennt-
lich gemacht: da im August war des, auf en O-berg
Die örtliche Referenz wird nach ihrem persönlich-ästhetischen Wert qualifiziert: das ist so
der einzige schöne Berg dort
Erzähler formulieren ihre Wahrnehmungsperspektive durch lexikalische Wahl. Von spazieren ist
beispielsweise die Rede, also einem Lustwandeln, nicht einer sportlichen Betätigung wie Dauer-
lauf. Es ist ein wunderbarer Sommerabend, nicht ein warmer oder eine angenehmer oder ein
drückend heisser. Die beiden sind auf einem Berg, nicht an einem Ausflugsort. MM ist im Bett,
es heißt nicht, er war zu Hause geblieben. Diese lexikalischen Wahlen lenken und steuern die
imaginative Aktivität und die Konstruktion des Ereignisses, das sich entwickeln wird. Sie eröff-
nen Erwartungshorizonte und weisen auf Erfüllungsgipfel. Anderes geschieht beispielsweise auf
dem Berg bei Kälte und Regen als am Augustabend, der zu Genuss und Bewunderung von
12
Schönheit einlädt. Was geschieht, wenn zwei auf dem schönsten Berg spazieren, will man wis-
sen. Man hat den Anfang der Erzählung gehört und arrangiert im Geiste die Situation; jetzt will
man wissen, wie es weitergeht. Wenn Erzählungen episodische Dynamik gestalten, dann ist nar-
rative Intelligenz gefordert, damit Verständnis und Wirkung sich effektvoll verknüpfen. Amalie,
die den Augustabend erlebt hat, genießt ihn nochmals in der Phantasie, falls das ein schönes Er-
lebnis war. Sie regt sich nochmals auf, falls es kein schönes Erlebnis war.
Wer eine Geschichte erzählt, der gestaltet sein Anliegen bereits in der Ausgangslage der Erzäh-
lung als Arrangeur und Konstrukteur. Er legt eine spannungsvolle Situation an; er etabliert die
Startdynamik. Er schafft Bedingungen und Konstellationen, die auf Erfüllung hoffen und Kata-
strophen befürchten lassen. Für die klinische Praxis kommt es darauf an, die Startdynamik ex-
plizit zu machen. Wir achten insbesondere auf die lexikalischen Wahlen, die der Erzähler in der
Darstellung des Startarrangements trifft, und wir beachten sie auch im weiteren Verlauf.
Beim Erschließen der Dynamik von Startsituation zu Ergebnis geht es um die Rekonstruktion
des Ablaufs im Spiegel von Wunscherfüllung und Katastrophe. Wie ist die Konstellation von
Figuren, Aktionen, Kulissen, Requisiten am Anfang der Erzählung, in der Erzählentwicklung,
am Abschluss der Erzählung?
Kombiniert man alle Bedingungen in der Perspektive auf den hypothetisch optimalen Ausgang
einer so konstellierten Erzählung, dann erschließen wir das Soll (die maximale Erfüllung) und
das Antisoll (die ultimative Katastrophe) wie folgt:
Das hypothetische Optimum:
Das Paar findet sich in höchster wechselseitiger Lust auf der Höhe des Berges, die Natur
wird zum festlichen Ambiente der hochzeitlichen Vereinigung von Mann und Frau, das Kind
wird Hoffnungsträger für die Zukunft.
Die hypothetische Katastrophe:
Das Paar schafft sich wechselseitig Verdruss auf der Höhe des Berges, Kälte und Finsternis
brechen ein, die Dyade zerfällt, es kommt zum Absturz aus der Höhe, das Kind, alleingelas-
sen, geht zugrunde.
So weit die hypothetischen Formulierungen von Erfüllung oder Happy End und Katastrophe
oder Misere. Die gesamte Erzählung lautet so:
Amalie (225. Erzählung, 504. Therapiesitzung, Zürcher Erzählarchiv Jakob, Original Ulmer
Textbank; mit freundlicher Genehmigung: )
Da kommt der Baum ins Spiel
1 wir sind mal in NN abends spazieren
2 C (Sohn des B) war schon im Bett
3 s war ein wunderbarer Sommerabend da im August war des auf en X-Berg
13
4 das ist so der einzige schöne Berg dort
5 es war ganz bezaubernd s wirklich 'ne Stimmung
6 und ich war so in Stimmung mit ihm zu reden über uns einen Schritt weiterzukommen
7 und dann ... fing er an zu küssen
8 na ja
9 und da war er so erregt
10 und da wollt er mit mir auf der Wiese schlafen
11 und des war so feucht und kühl
12 und ich hab gesagt
13 das tu ich jetzt nicht
14 und ich hab gesagt
15 du ich will mit dir reden
16 da sagt er
17 es geht nicht
18 ich kann jetzt nicht
19 und dann sagt er
20 du ich stell dich an nen Baum
21 und das hat mich wahnsinnig erschreckt
22 das fand ich brutal
23 wir haben das nicht gemacht
24 aber das hat mich also wirklich verletzt
25 ich stell dich an einen Baum
26 das war so benützt werden oder
Die Erzählbewegung navigiert zwischen Optimum und Katastrophe. Das Paar schafft sich Ver-
druss auf der Höhe des Berges, die Ich-Figur ist mit Kälte konfrontiert. Vom Gipfelglanz einer
festlichen Inszenierung von Liebesbindung kommt es zum Absturz aus der Höhe in die Niede-
rung einseitig männlichen Verlangens nach sexuellem Konsum. Die Dyade zerfällt nicht ganz,
doch wird die ödipale Ebene verlassen zugunsten der Ebene verletzten Respekts; es geht um
narzisstische Restitution. Das Dritte gerät aus dem narrativen Feld.
Die Erzählung verweist auf einen lebenspraktischen Anspruch. Sie steht im Kontext der Frage,
ob die Liebesbeziehung, die sich am Anfang befindet, Zukunft hat. Und es geht um die Aussich-
ten der Erzählerin im Kontakt mit einem Liebespartner, der bereits eine Geschichte familiärer
14
Verbindlichkeiten hat und Vater eines Kindes ist, das nicht der aktuellen Liebesgemeinschaft
entstammt. Die Beziehungsperspektive ist offen.
Ende ihrer dreißiger Jahre wagt Amalie, unterstützt vom psychoanalytischen Therapeuten, den
Weg zur Partnersuche und zur Sexualität (Thomä & Kächele 2006). Die Erzählerin Amalie hat
ein körperliches Stigma, idiopathischen Hirsutismus (männliche Körperbehaarung); sie hat nur
geringe Erfahrung in Liebesbeziehungen bei vorangeschrittenem Lebensalter. Die Symptomatik
ihrer virilen Körperbehaarung lässt den Weg als riskant und mit Zurückweisungsrisiken belastet
escheinen. Das sind ernsthafte Herausforderungen für das Anliegen der Erzählerin, im Bereich
der Liebespartnerschaft Erfolg zu haben und Sicherheit zu gewinnen. 5 es war ganz bezaubernd
s wirklich ‚ne Stimmung / 6 und ich war so in Stimmung mit ihm zu reden über uns einen Schritt
weiterzukommen / 7 und dann ... fing er an zu küssen. Die Erzählung erreicht keinen Erfüllungs-
gipfel. Wunscherfüllend wäre die Verheissung eines loyalen Liebesbundes. Dazu kommt es
nicht. Das Anliegen der Erzählerin wird enttäuscht. Die feierlich schöne Stimmung des Som-
merabends soll dem Liebesbund eine Chance geben; in dieser Perspektive ist die narrative Prä-
sentation des männlichen Gegenübers ein Skandalon. Die männliche Figur disqualifiziert sich
als verletzend und brutal. Die Erzählerin bedient sich des Musters der Opfererzählung, aller-
dings ohne Schaden durch Gewalt zu nehmen: Wir haben das nicht gemacht. Die Erzählung
stellt in der Wunschperspektive eine regressive Bewegung von der ödipalen Vision zum aversi-
ven Moment der narzisstischen Kränkung dar und mündet in eine narzisstische Restitution: die
Disqualifikation des Mannes und die Wehrhaftigkeit der Frau gegen die sexuelle Zumutung. Von
der ödipalen Wunschvision zur narzisstischen Reparatur: diese Bewegung ist im narrativen und
im Beziehungshandeln der Patientin Amalie charakteristisch. In der Therapie kommt es zu be-
achtlichem Erfolg im Bereich von Selbstwertzuwachs, Abgrenzung von der Primärfamilie und
Selbstbestimmung. Auch engagiert sich die Patientin in sexuellen Beziehungen. Zur liebevoll-
zärtlichen, vertrauensvoll-zugewandten Annäherung an einen geliebten Anderen kommt es je-
doch nicht, es bleiben Ressentiment, Misstrauen und die Erwartung, manipuliert und zurückge-
wiesen zu werden.
Wünschen als dezenter Illusionismus des Alltags
Ach, wäre es schön, wenn NN da wäre. Solche Wunschseufzer sind selbstsuggestive Seufzer.
Das Wünschen tut sein Werk im Hier und Jetzt. Ach, wäre es schön, wenn NN da wäre. Die
Evokation der Imagination nivelliert die Aufmerksamkeit für den aktuellen Realbezug und stellt
ein Involvement in die Imagination her. Die Marginalisierung des aversiven Realbezugs zuguns-
ten einer imaginierten hedonisch erfüllenden Daseinsverfassung schafft das Entspannungsmo-
ment. Der Wunschzustand ist eine Entspannungslage, die Wunschartikulation eine Imaginations-
leistung, die sich kommunikativ als Wunschseufzer vermittelt. Dieser Seufzer braucht kein Pu-
blikum. Die Wunschimagination hat eine Referenz, zum Beispiel Präsenz des NN, viel Geld,
Ferien, der Traummann, aber nur als Staffage der Imagination. Das Herbeiwünschen von NN
verlangt und erlaubt keine prospektive Situationsprüfung. Das heisst auch: Der Wünschende ist
rechtfertigungsentlastet. Ich wünsche mir viel Geld – ich habe viel Geld. Ersteres schafft flüch-
15
tiges Wohlgefühl. Das zweite ist eine praktische Herausforderung. Wer sich viel Geld wünscht,
wünscht sich nicht die praktische Herausforderung. Doch wünscht er keineswegs bloss das Ge-
fühl, viel Geld zu haben. Er lässt sich vielmehr auf eine flüchtige Illusion ein, die er für den Er-
leichterungs- oder Entspannungsmoment nicht als Illusion erkennt und auch nicht als Illusion
erkennen will. Wünschen ist dezenter Illusionismus des Alltags.
Wie kann man die Redensart Ich bin wunschlos glücklich verstehen? So, dass der wunschlos
Glückliche einer ist, der den Aktualzustand nicht als Herausforderung sieht, sondern als Zustand
der Erfüllung verklärt. Es bleibt ihm nichts zu wünschen übrig – angesichts der Fülle, die er ge-
niesst.
Böse wunscherfüllende Imaginationen, wie die Missgunst sie hervorbringt, der Groll, die Krän-
kung, wie sie Rache- und Vergeltungswünschen entsprechen, tun im Dienst der Regulierung des
Befindens ebenfalls ihr Werk im Hier und Jetzt,. Die Alltagskommunikation des Wünschens ist
Fluchen und Segnen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag gehört zum säkularen Alltagsreper-
toire des Segnens. In Zürich hatten wir im Jahr 1997 eine Tagung über das Wünschen. Es gab
ein Podium mit dem Thema Böse Wünsche. Aber nur der Literaturwissenschaftler Peter von
Matt äusserte sich dazu mit einem anschaulichen Beispiel. Er sass im Gartenwirtshaus und hörte
mit, wie die Kellnerin mit Gästen über einen gemeinsamen Bekannten sprach. Und sie sagte von
diesem, er sei krank, und sie wünsche ihm von Herzen langes Siechtum und einen schweren
Tod. Das machte auf Peter von Matt Eindruck, weil der Konvention, böse Herzensneigungen zu
verhüllen, nicht entsprochen war. Böse Herzensneigungen sollen im sozialen Verkehr verborgen
bleiben, und gewöhnlich widerstrebt es uns auch, sie vor uns selbst einzugestehen. Wir erinnern
böse Herzensneigungen nicht gern, und die Flüchtigkeit der Wunsch-Entspannungsarbeit gestat-
tet auch den Komfort des Nicht-Erinnerns. Die Kellnerin bedurfte dieses Komforts offenbar
nicht.
Wir mögen es im Alltag nicht, wenn liebenswürdige Wunschformulierungen ganz ausbleiben,
mögen sie auch konventionell und wohlfeil sein. Gleich entsteht ein eigentümliches Klima hos-
tiler Reserve. Ein unscheinbares, dennoch rituelles Willkommen und ein unscheinbares, den-
noch rituelles Glück-auf-dem-Weg, in freundlicher Beiläufigkeit zum Ausdruck gebracht, ist so
leicht nicht zu entbehren. Die Liebenswürdigkeiten aus dem Höflichkeitsrepertoire sind ein All-
tagssegen.
Ein Blick zurück
Das Wunschregulativ verortet Freud an prominentester Stelle im Traum. Die Verknüpfung von
Wunsch und Traumbildung (Freud, 1900) dürfte in der Öffentlichkeit die stärkste Beachtung
gefunden haben. Jedoch auch im Wachen macht die Person, Freud zufolge, reichlich Gebrauch
von der suggestiven Kunst, in Szenarien phantasierter Wunscherfüllung zu leben. Das gilt z.B.
für spielende Kinder, tagträumende Jugendliche oder Erwachsene, Künstler in ihrer poetischen
Produktion (Freud 1908). Auch die Bereitschaft, sich zu verlieben und im Geliebten den Inbe-
griff des Wunderbaren zu erblicken, ist nach Freud ein Fest phantasierter Wunscherfüllung
16
(Freud 1914a). Ein Fest ist die Ankunft des eigenen Kindes, his majesty the baby“ (Freud,
1914, S. 157).
Sind Entbehrung und Mangel nicht zu beseitigen, auch nicht durch anderweitige, etwa motori-
sche Entlastungsreaktionen, so bietet sich mentale Überblendung der Negativspannung im Zei-
chen des Hedonischen an. Dabei handelt es sich allerdings um eine jeweils flüchtige und fragile
Lösung. Die Person könnte, angewiesen auf dieses Regulativ, nicht überleben, ohne es durch
handfeste Lebenspraxis zu ergänzen und zu korrigieren. Befindet sich das Kind in guten Hän-
den, so erfährt es zunächst fürsorglichen Eingriff der primären Bezugspersonen, die spätere Ver-
selbständigung erlaubt dann in zunehmendem Maβe eigene effiziente Praxis. Allerdings begeg-
net das Individuum der Erfahrung des Unlustvollen in jedem Fall nicht nur durch die Evokation
einer hedonischen Verfassung, sondern auch in der Reichweite seines Vermögens, von Beginn
an durchaus praktisch. Es greift, primär reflexförmig, zu Flucht und Abwehr, wenn es sich um
äußere Reize handelt. Es entäußert sich in expressiven und motorischen Ausdrucksformen der
Entlastung wie z.B. Stöhnen, Strampeln, Schreien wenn es um innere Reize geht, die es
durch Flucht und Abwehr nicht erledigen kann. Aber es bleibt ein Leben lang darauf angewie-
sen, negative Erregung und unlustvolle Spannung durch hedonische Überblendung vorüberge-
hend zum Verschwinden zu bringen oder zu mildern, und zwar mit dem Vorteil, Spannungen
vorübergehend ohne Erregungssteigerung und Irritationszuwachs zu ertragen.
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Der lange vernachlässigte Willensbegriff wird gegenwärtig in einigen Humanwissenschaften, vor allem in der Psychologie und Hirnphysiologie neu aufgegriffen. Dieser Band soll dazu beitragen, die alltägliche Erfahrungsvielfalt des Wollens wieder als einen Forschungsgegenstand aller Humanwissenschaften zu entdecken. Der erste Abschnitt behandelt das Wollen als einen Gegenstand vielfältiger Erfahrung, sei es in Gestalt geschichtlicher Ereignisse oder literarischer Zeugnisse, im Experiment oder schließlich im Spiegel bildhafter Vorstellungen. Die weiteren Abschnitte beschäftigen sich mit der Vorstellung vom Wollen in der Antike, der Philosophie des Willens sowie der Geschichte der Willenspsychologie. Neuansätze einer psychologischen Willenstheorie betreffen das Bilden von Absichten und ein vornahmegeleitetes Handeln ("Rubikon-Modell"). Abschließend werden pädagogische, psychotherapeutische, strafrechtliche, evolutionsbiologische und hirnphysiologische Forschungsansätze skizziert und diskutiert.
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Der Patient als Erzähler verweist auf Vorgefallenes, um auszudrücken und vorzuführen, in welcher Weise er darin verstrickt ist. Er wirbt um sympathisierende Parteinahme beim Hörer. Das Erzählen folgt einem egozentrischen Imperativ. Ein Patient erzählt, was als konflikthafter Gegenstand des persönlichen Interesses im Sinne negativer oder positiver Erregung destabilisierend wirksam ist und im Dienst einer Integration soziale Resonanz fordert. Erzählungen, die Ratsuchende und Patienten in der psychotherapeutischen Situation vorbringen, lassen sich als sprachliche Inszenierungen von Konfliktkonstellationen formulieren. Diese Inszenierungsmodelle sind für die Gestaltung und Entwicklung der therapeutischen Beziehung relevant.
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Erzählen als grundlegende Form der Wirklichkeitserkenntnis und des sozialen Verhaltens. In vielen Bereichen des Alltags orientieren und verständigen wir uns mithilfe von Erzählungen. Der interdisziplinäre Band liefert einen systematischen Überblick über die wichtigsten Felder des nicht-literarischen Erzählens in Institutionen und im Alltag: z.B. Journalismus, Medizin, Psychologie, Recht, Religion und Wirtschaft.