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"Red Scare" in zwei Schwesterrepubliken: Revolutionsfurcht und Antisozialismus im schweizerisch-amerikanischen Vergleich, 1917-1920

Authors:
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«Red Scare» in zwei Schwesterrepubliken:
Revolutionsfurcht und Antisozialismus im
schweizerisch-amerikanischen Vergleich, 1917–1920
Christian Koller
Geb. 1971, Studium der Geschichte, Wirtschafts- und Politikwissenschaften
an der Universität Zürich, 1996 Lizentiat, 1998 Promotion und Diplom
für das Höhere Lehramt, 2003 Habilitation;
1997–1998 Assistent und
1998–2007 Oberassistent an der Universität Zürich;
2007–2013 Senior Lecturer und
2013–2014 Reader an der Bangor University (Wales);
2010 Wahl zum Fellow der Royal Historical Society (London);
Lehraufträge an der Universität Bern, FernUni Schweiz, HTW Chur
sowie verschiedenen Zürcher Gymnasien.
2003–2017 Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Militärgeschichte,
seit 2018 Mitherausgeber der Buchreihe «Krieg in der Geschichte»
(Schöningh, Paderborn).
Seit 2011 Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der
Universität Zürich.
Seit 2014 Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs (Zürich).
Arbeitsgebiete: Gewalt- und Militärgeschichte, Soziale Bewegungen,
Geschichte von Nationalismus und Rassismus, Historische Semantik,
Sportgeschichte, Erinnerungskulturen.
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Einleitung:
Eine heitere Wanderung in ernster Zeit
Unsere Bolschewiki-Fahrt unter diesem Titel veröent-
lichte die Zeitschrift der mittelständischen Jugendbewe-
gung «Wandervogel» im Januar 1919 einen Bericht ihrer
urgauer Sektion über einen Lausbubenstreich: Sieben
Wandervögel erschreckten auf einem Trip in der Ost-
schweiz Passanten mit Bekenntnissen zum Bolschewis-
mus, dem Herumfuchteln mit Dolchen, dem Absingen
der Internationale sowie Vorantragen einer Fahnenstan-
ge, an der sie ihre Hemden befestigt hatten. Gegen Ende
der Wanderung brannte der Fähnrich «mit dem Symbol
des Bolschewismus durch, d. h. die Stange liess er liegen,
aber unsere Hemden entführte er. Wir [...] verfolgten den
Treulosen halbnackt durch das Dorngestrüpp. Aber erst
etwa 100 Meter vor Iswil holten wir ihn ein und konnten
uns wieder in gemässigte Sozialrevolutionäre umwandeln.
Nun aber machte die Reaktion reissende Fortschritte.
Schon in Aawangen waren dreie so tief im Kapitalismus
drinnen, dass sie sich Milch leisteten und zu Hause zogen
wir gar unter den Klängen eines Soldatenliedes ein.»1 Der
Bericht zeugt von der Breitenwirkung, welche die emen
Bolschewismus und Revolution zu Ende des Ersten Welt-
kriegs entfaltet hatten. Der spielerische Umgang der Wan-
dervögel damit darf aber nicht darüber hinwegtäuschen,
dass das ema für die meisten Zeitgenossen todernst war
und in der Schweiz wie auch im Ausland fundamentale
Ängste verursachte. Deren Auslöser und Verstärker sowie
die Reaktionen darauf stehen im Zentrum des folgenden
Beitrags.
Hans Rudolf Fuhrer hat im ersten GMS-emenheft
zur Landesstreikzeit völlig zu Recht eine transnationale
Kontextualisierung der Vorgänge um 1918 angemahnt.2
Tatsächlich ereignete sich ab 1916 weltweit eine grosse
Zahl von Unruhen und Umbrüchen. Sie reichten vom
Unabhängigkeitskampf Irlands bis zu den «Reisunruhen»
in Japan, vom nnischen Bürgerkrieg bis zu antikolonia-
len Aufständen in weiten Teilen Afrikas und verlängerten
den Weltkrieg in die frühen 20er Jahre hinein. Die Ge-
schichtsforschung hat erst in jüngerer Zeit begonnen, den
Weltkrieg systematisch als globales Ereignis zu analysieren
und vermehrt auf transnationale Aspekte zu achten.3 Das-
selbe gilt für die Umbrüche um das Kriegsende herum,
die Revolutionen und Bürgerkriege ebenso umfassten wie
antikoloniale Rebellionen, Massenstreiks ebenso wie post-
imperiale Neuordnungskriege. Jörn Leonhard hat in die-
sem Zusammenhang jüngst von einer «Global Revolution
of Rising Expectations» gesprochen.4 Diese weltweite Er-
wartungshaltung, dass es bei Kriegsende zu grossen Verän-
derungen kommen würde, machte sich an verschiedenen
Ereignissen und Prognosen fest, am Auseinanderbrechen
der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches
ebenso wie an den beiden russischen Revolutionen von
1917, an der 14-Punkte-Rede des amerikanischen Präsi-
denten Woodrow Wilson vom Januar 1918 ebenso wie
an Völkerbundplänen und dem 1918 von allen Seiten
proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker – und
nicht zuletzt an der Vorstellung, dass es nach der Katastro-
phe des Weltkriegs keine Rückkehr zum «courant normal»
der Vorkriegszeit geben könne.
Die Erwartung grosser Veränderungen weckte Ho-
nungen, aber auch Ängste. Letztere kristallisierten sich
besonders um die abschreckende Entwicklung in Russ-
land. Der «emotional turn» in den Geschichtswissen-
schaften hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten den
verstärkten Einbezug der Gefühle in die historische
Analyse angemahnt und darauf insistiert, dass Rationa-
lität und Emotionen nicht als Gegensätze, sondern als
Ergänzungen zu verstehen seien.5 Gerade in Perioden
beschleunigten Umbruchs spielen Emotionen eine we-
sentliche Rolle: Sie beeinussen das Handeln der Akteu-
re, dienen aber auch als (durchaus rational gehandhabte)
Ressource zur Beeinussung und Mobilisierung anderer.
Die international vergleichende Untersuchung der Revo-
lutionsängste ab 1917 hat sich erst in jüngster Zeit als
eigenständiges Forschungsfeld etabliert, obgleich David
Clay Lafargue bereits 1980 von einem «international
‹Red scare›» gesprochen hat.6 Der Fokus liegt dabei auf
der paramilitärischen Gewalt zwischen Rechts und Links,
die an verschiedenen Orten auf den Krieg folgte. Revo-
lutionsangst war, wie Robert Gerwarth und John Hor-
ne betont haben, bei rechten Paramilitärs die treibende
Kraft.7 Die paramilitärische Gewalt mündete an den Pe-
ripherien Russlands in die (Wieder-)Eingliederung in die
1922 formell konstituierte Sowjetunion, in Ungarn und
Italien in die Etablierung rechter Diktaturen in den frü-
hen 20er Jahren, in Deutschland und Österreich in labile,
«Red Scare» in zwei Schwesterrepubliken:
Revolutionsfurcht und Antisozialismus im
schweizerisch-amerikanischen Vergleich, 1917–1920
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stets latent vom Bürgerkrieg bedrohte Demokratien, die
bereits in den frühen 30ern zusammenbrachen.
Wie entwickelten sich aber Staaten, in denen der «Red
Scare» massiv war, die Demokratie aber stark genug, um
diese Phase wie auch die Krise der 30er Jahre einigermas-
sen unbeschadet zu überstehen? Im Folgenden soll dies
anhand der häug als «Schwesterrepubliken» bezeich-
neten USA und Schweiz untersucht werden. Die Un-
terschiede zwischen den beiden Ländern liegen auf der
Hand: Der neutrale Kleinstaat Schweiz hatte nicht nur
bis 1917 Lenin beherbergt, sondern sah ab Herbst 1918
in unmittelbarer Nachbarschaft revolutionäre Umbrüche.
Demgegenüber befanden sich die USA, die sich mit dem
Kriegseintritt vom April 1917 denitiv als Grossmacht
etablierten, geographisch in sicherem Abstand von den
Zentren revolutionärer Unruhen. Sie hatten aber vor der
Oktoberrevolution Trotzki Gastrecht gewährt und grien
dann ab September 1918 mit etwa 11’000 Mann zusam-
men mit den anderen Siegermächten auf antibolsche-
wistischer Seite in den russischen Bürgerkrieg ein. Trotz
dieser Unterschiede lassen sich punkto «Red Scare» um
1918 verschiedene Gemeinsamkeiten zwischen den USA
und der Schweiz feststellen. Hans von Greyerz hat schon
in den 70er Jahren im Handbuch der Schweizer Geschichte
für einen Teilaspekt einen Vergleich angedeutet, indem er
zum 1919 entstandenen Schweizerischen Vaterländischen
Verband (SVV) bemerkte, dieser sei «aus Bürgerwehrele-
menten und Ku-Klux-Klan-Geist gemischt» gewesen,8
diesen Punkt aber nicht weiter ausgeführt. Seither hat die
Forschung mögliche Parallelitäten des «Red Scare» in den
USA und der Schweiz kaum beachtet.
Auslöser der Bedrohungswahrnehmung
Internationale Lage
Hauptauslöser des «Red Scare» war die Oktoberrevolu tion
1917. Es war dabei weniger der innerrussische Macht-
wechsel als der weltrevolutionäre Anspruch der Bolsche-
wisten, der die europäischen und nordamerikanischen
Eliten in Panik versetzte und die Protestbewegungen und
Umbrüche der Folgezeit oft unter der Perspektive eines
bolschewistischen Masterplans interpretieren liess. Dass
die Sache in Wirklichkeit sehr viel komplexer war, zeigt
sich etwa bei der transnationalen Rätebewegung: Zwi-
schen 1917 und 1920 entstanden in etwa 30 Ländern in
Europa, Asien, Nord- und Lateinamerika Arbeiter-, Sol-
daten- und Bauernräte. Diese Räte, die sich an Vorbilder
der Pariser Commune von 1871 und der russischen Revo-
lution von 1905 anlehnten, waren freilich keine bolsche-
wistische Erndung.
In den nach der russischen Februarrevolution gewähl-
ten Arbeiter- und Soldatenräten (sovety) dominierten zu-
nächst gemässigt sozialistische Kräfte. Erst ab Spätsommer
1917 führten die enttäuschten Honungen auf einen bal-
digen Frieden in den Räten von Petrograd und Moskau
zu einer Kräfteverschiebung zu den Bolschewisten. Dies
erlaubte es Lenin und seinen Anhängern, sich nach der
Oktoberrevolution auf die Rätestrukturen abzustützen
und die Ende 1917 demokratisch gewählte Nationalver-
sammlung, in der abermals die gemässigt sozialistischen
Kräfte die Mehrheit gewonnen hatten, im Januar 1918
auszuschalten. Ob der verunglückte Versuch von Robert
Grimm und Arthur Homann zur Vermittlung eines
russisch-deutschen Sonderfriedens im Mai/Juni 19179
im Erfolgsfall die Oktoberrevolution verhindert hätte,
bleibt Spekulation. Eindeutig ist jedoch, dass die nach
dem sozialistischen Kriegsminister und nachmaligen Re-
gierungschef benannte Kerenski-Oensive Anfang Juli die
Autorität der Provisorischen Regierung, einer Koalition
aus bürgerlichen und gemässigt sozialistischen Kräften,
massiv unterminierte, ein Prozess, der sich durch den
rechten Putschversuch General Lavr Kornilovs im Sep-
tember noch beschleunigte. Während des Bürgerkriegs
wurden die Räte dann parallel zur Ausschaltung der nicht-
bolschewistischen Parteien zunehmend wieder entmach-
tet und zur pseudodemokratischen Fassade einer Partei-
diktatur. Unabhängige Rätebewegungen von Arbeitern,
Bauern, Matrosen und anarchistischen Kräften schlug
die Rote Armee gewaltsam nieder. Kritik an diesem dia-
lektischen Rückwärtssalto Lenins und Trotzkis kam von
Red Scare: Anarchistisch-bolschewistische Wolke über den USA
(e Atlanta Constitution, 19.1.1919).
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verschiedenen führenden Figuren aus unterschiedlichen
Lagern des internationalen linken Spektrums, etwa Karl
Kautsky, dem eoretiker des «Orthodoxen Marxismus»,
dem Menschewisten Iulij Martov, dem Sozialdemokraten
Robert Grimm, der Spartakistin Rosa Luxemburg, dem
Anarchisten Petr Kropotkin oder den sogenannten Räte-
kommunisten.10
Auch in anderen Ländern entstanden 1917/18 Räte-
bewegungen. In Deutschland wurden während Massen-
streiks im Januar 1918 Arbeiterräte gewählt. Im Novem-
ber spielte die Rätebewegung dann eine wesentliche Rolle
beim Ende der Monarchie. Am 4. November wählten in
Kiel meuternde Matrosen der Hochseeotte einen Sol-
datenrat, in den folgenden Tagen ersetzten im ganzen
Land Arbeiter- und Soldatenräte die alten Behörden, am
9. November erfolgte die Ausrufung der Republik. Dann
spaltete sich die revolutionäre Bewegung: Während links-
radikale Kräfte die Institutionalisierung des Rätesystems
und den sofortigen Übergang zum Sozialismus forderten,
erstrebten die Spitzen von Mehrheitssozialdemokratie und
Gewerkschaften eine Stabilisierung der Situation, um die
Demobilisierung und die Umstellung der Kriegs- auf die
Friedenswirtschaft abwickeln zu können sowie eine Ent-
wicklung wie in Russland zu verhindern. Dazu suchten
sie die Kooperation mit den alten Eliten in Militär, Wirt-
schaft und Verwaltung. Vom 16. bis 21. Dezember 1918
tagte in Berlin der erste Reichskongress der Arbeiter- und
Soldatenräte, der mit grosser Mehrheit die Wahl einer
Nationalversammlung der Errichtung einer Räterepublik
vorzog.
Nachdem im Januar 1919 die Wahlen zur Bildung einer
Mitte-Links-Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen
und katholischem Zentrum geführt hatten, setzte sich die
Rätebewegung in nunmehr oener Opposition zur neu-
en Republik fort. Im Januar bildete sich in Bremen eine
kurzlebige Räterepublik, im April dann in Bayern. Beide
revolutionären Experimente, die von Anarchisten, Kom-
munisten und Linkssozialisten getragen waren, wurden
von Reichswehr und Freikorps niedergeschlagen, wobei es
im Falle von München zu einem Blutbad mit Hunderten
von Toten kam. In der Folge wurde die Rätebewegung
durch den «Räteartikel» der Weimarer Verfassung sowie
das Betriebsrätegesetz aber in institutionelle Bahnen ge-
lenkt. Nachdem im März 1920 ein rechter Putschversuch
von Reichswehr- und Freikorpsangehörigen um Wolfgang
Kapp und General Walther Freiherr von Lüttwitz durch
einen Generalstreik vereitelt worden war, kam es im Ruhr-
gebiet zu einem linken Aufstand, der von der Reichswehr
niedergeschlagen wurde.
Auch in der Habsburgermonarchie waren während
Massenstreiks im Januar 1918 Arbeiterräte gewählt wor-
den. In (Deutsch-)Österreich übernahmen sie in der Fol-
ge wirtschafts- und sozialpolitische Aufgaben, etwa bei
der Lebensmittelversorgung, dem Kampf gegen Wucher
und Schwarzmarkt und im Wohnungswesen. 1924 lös-
te sich die Rätestruktur auf, nachdem ihre Aufgaben auf
neue Institutionen wie Arbeiterkammern und Betriebsräte
übergegangen waren. In Ungarn spielten die Räte dagegen
1919 eine revolutionäre Rolle als institutionelle Basis ei-
ner kurzlebigen Räterepublik. Relativ umfangreiche, aber
kurzlebige Rätebewegungen gab es 1917/18 etwa auch in
Grossbritannien sowie den neutralen Staaten Schweden
und Norwegen.
Während man in den USA solche Vorgänge aus der
Ferne beobachtete, befand sich die Schweiz in der Nähe
verschiedener Epizentren des Umbruchs. Revolutionäre
Bewegungen näherten sich mehrfach der Schweizergren-
ze. Am 5./6. November 1918 gab es in Friedrichshafen
einen Generalstreik und die Macht ging an einen Arbei-
ter- und Soldatenrat über, worauf die königlich-württem-
bergische Regierung zurücktrat. Am 7. April 1919 wurde
in Lindau am Bodensee eine Räterepublik ausgerufen. Als
die sozialdemokratisch geführte Regierung von Württem-
berg um die Stadt Truppen unter dem Kommando des
späteren «Wüstenfuchses» Erwin Rommel zusammenzog,
beschloss am 19. April eine Volksversammlung das Ende
des Rätesystems. In Vorarlberg formierte sich eine An-
schlussbewegung an die Schweiz, die am 11. Mai 1919
in einer Abstimmung rund 80% der Stimmen gewann.
Während die Meinungen darüber in der Schweiz gespal-
ten waren, lehnten die Siegermächte und die neue Wiener
Regierung einen Gebietstransfer strikte ab. Parallel dazu
polarisierte sich in Vorarlberg die politische Landschaft:
Am 7. März 1919 trat in Dornbirn ein Arbeiterrat auf,
worauf es in Bregenz und Dornbirn zu grossen linken und
rechten Kundgebungen kam und eine antisozialistische
«Volksmiliz» entstand.11
Ein Umbruch ohne sozialistische Bezüge vollzog sich
im kleinsten Nachbarland: Der liechtensteinische Land-
tag wählte am 7. November 1918 verfassungswidrig ein
provisorisches Regierungskomitee, das an die Stelle des
fürstlichen Landesverwesers trat, und setzte einige Wo-
chen darauf einen Verfassungsausschuss ein. 1921 einigte
sich dieser Ausschuss mit den Gesandten des Fürsten auf
eine neue Verfassung, die die Staatsgewalt im Fürsten und
im Volk verankerte. Diese manchmal als «Liechtenstei-
nische Revolution» bezeichneten Vorgänge mündeten in
eine Abwendung von Wien und die Annäherung an die
Schweiz. In Oberitalien gab es während des «Biennio Ros-
so» 1919/20 zahlreiche Streiks, Fabrikbesetzungen und
eine starke Rätebewegung mit Zentrum in Turin. Nur
in Frankreich, das 1917 im Anschluss an die gescheiterte
92
Nivelle-Oensive mehrmonatige Meutereien von 50’000
bis 100’000 Soldaten erlebt hatte und von einer grossen
Streikwelle erschüttert worden war, blieb es bei Kriegsen-
de relativ ruhig.
Die Gründung der Dritten Internationale in Moskau
im März 1919 – an der der Schweizer Fritz Platten wesent-
lich beteiligt war – steigerte die Revolutionsfurcht weiter.
Als 1920 denitiv klar wurde, dass sich diese Organisation
im bolschewistischen Sinne positionierte, lehnte die Sozi-
aldemokratische Partei der Schweiz nach einer längeren
Phase heftiger innerparteilicher Auseinandersetzungen
den Beitritt ab. Daraufhin verliess der linke Flügel die
Partei und vereinigte sich mit der linksradikalen Gruppe
der sogenannten Altkommunisten zur Kommunistischen
Partei der Schweiz, die aber klein blieb. Ähnlich spaltete
sich in den USA 1919 der linke Flügel der Socialist Party
ab, trat der Komintern bei und konstituierte sich als Com-
munist Party USA.
Interne Protestwellen und Unruhen
Parallel zu diesen Umbrüchen erlebten die Schweiz und
die USA grosse Streikwellen. Die Streikrate in der Schweiz
war 1915 auf den tiefsten Stand seit drei Jahrzehnten ge-
sunken, nahm dann aber rasch wieder zu: 1916 gab es
35 Streiks mit 3330 Beteiligten, 1917 140 Streiks mit
13’459 Beteiligten und 1918 wurde (ohne Landesstreik)
mit 269 Ausständen und 24’382 Beteiligten das Rekord-
niveau der Streikwelle 1905–1907 wieder erreicht. In der
Nachkriegszeit blieb die Streiktätigkeit zunächst hoch:
1919 gab es 237 Streiks mit 22’137 Beteiligten, 1920
noch 184 Streiks mit 20’803 Beteiligten. Parallel sprangen
die Mitgliedszahlen im Schweizerischen Gewerkschafts-
bund (SGB) von 65’000 (1914/15) über 177’000 (1918)
auf 224’000 (1919/20).
Auch oberhalb und unterhalb der Ebene «normaler»
Streiks waren 1917 bis 1919 Höchststände zu verzeich-
nen: Am 30. August 1917 organisierten die Arbeiterorga-
nisationen in den grösseren Städten halbtägige, teilweise
als «Generalstreik» bezeichnete Teuerungsdemonstratio-
nen während der Arbeitszeit, an denen sich rund 60’000
Personen beteiligten. Lokale Generalstreiks gab es im fol-
genden Jahr in Lugano (8./9. Juli) und Zürich (1. Okto-
ber). Am 9. November folgte der 24stündige Proteststreik
gegen das Truppenaufgebot in 19 Städten, an den sich ein
lokaler Generalstreik in Zürich anschloss, und sodann der
Landesstreik vom 12. bis 14. November mit einer Vier-
telmillion Beteiligten. Auch im folgenden Jahr gab es
Generalstreiks: Ein im Juni 1919 in Genf proklamierter
Generalstreik wurde wenig befolgt, am 7. Juli kam es aber
in Bern anlässlich von Grimms Haftantritt zu einem halb-
tägigen Generalstreik. Als am 21. Juli in verschiedenen eu-
ropäischen Städten gegen die alliierten Interventionen in
Räteungarn und Sowjetrussland gestreikt wurde, gab es in
der Schweiz keine Aktionen. Anfang August entwickelten
sich aber lokale Branchenstreiks zu Generalstreiks in Basel
und Zürich mit fünf respektive einem Todesopfer, wäh-
rend denen die Möglichkeit eines zweiten Landesstreiks
im Raum stand.
Unterhalb der Ebene des Streiks gab es eine massive
Zunahme von Lohnbewegungen ohne Arbeitseinstellun-
gen, von denen 1918 nicht weniger als 1’533 gezählt wur-
den, fünf Mal so viele wie 1913. Die Gesamtzahlen der
1917 bis 1919 an Lohnbewegungen Beteiligten bewegten
sich in derselben Grössenordnung wie die Zahl der Aus-
ständigen im Landesstreik: 1917 waren es 207’536 Per-
sonen, 1918 325’240 und 1919 gar 440’460.12 Konkret
ging es bei der Welle von Streiks und Lohnbewegungen
vor allem um Teuerungsausgleich, den Abschluss von
Gesamtarbeitsverträgen und Arbeitszeitverkürzungen.
Hintergrund waren nebst dem auch international arti-
kulierten Anspruch der Arbeiterbewegung auf Teilhabe
an den politischen und ökonomischen Entscheidungs-
prozessen die Ernährungskrise und die damit verknüpfte
Inationsproblematik. Wie die neueste Forschung gezeigt
hat, wurde der massive Abwärtstrend in der Lebensmit-
telversorgung im Spätsommer 1918 zwar gestoppt, hielt
die Ernährungskrise aber noch Monate danach an.13 Die
kriegsbedingten Reallohnverluste – zu denen noch die Er-
werbsausfälle infolge Aktivdienst kamen – betrugen rund
25% und wurden erst 1919/20 wieder ausgeglichen.14 Das
amerikanische Aussenministerium schrieb dazu nach dem
Landesstreik in seiner wöchentlichen Auslandsübersicht:
«e scarcity of potatoes, the exorbitant price of meat and
fats, the high price of milk and cheese, connected with
insucient bread ration, (225 grammes a day in Switzer-
land; 300 grammes a day in France) have caused a state
of physiological undernourishment in the whole people,
which cannot be without very disquieting psychological
consequences.»15
Die USA selber erlebten ebenfalls eine Streikwelle, die
ihren Höhepunkt aber erst 1919 mit 3’250 Streiks und
4,1 Millionen Beteiligten erreichte. Bereits 1916 bis 1918
wurde im Schnitt 2,4mal so viel gestreikt wie noch 1915.
Entgegen der Erwartungen kam es dann im ersten Nach-
kriegsjahr nicht zu einer Rezession, stattdessen setzten sich
Kriegsination und Lohnstreiks fort. Damals existierten
in den USA zwei Gewerkschaftsverbände: Der weitaus
grössere, die 1886 gegründete «American Federation of
Labor» (AFL), konzentrierte sich auf konkrete Forderun-
gen, ohne das bestehende Wirtschaftssystem in Frage zu
stellen. Bei Wahlen unterstützte sie Kandidaten unter-
schiedlicher Parteien; ihr Verhältnis zur Socialist Party war
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zwiespältig. Während des Kriegs arbeitete die AFL, deren
Mitgliederzahl sich in jenen Jahren auf 4 bis 5 Millionen
verdoppelte, mit der Regierung bei der Organisation der
Kriegswirtschaft – Verzicht auf Streiks und im Gegenzug
feste Lohnsätze und keine Entlassungen von AFL-Mit-
gliedern – sowie der Bekämpfung radikaler Gruppen zu-
sammen. Zu letzteren zählten die 1905 von Sozialisten,
Anarchisten und militanten Arbeiterführern gegründeten
«Industrial Workers of the World» (IWW), die sich auf
von der AFL vernachlässigte Gruppen wie Ungelernte,
Wanderarbeiter, Frauen und Afroamerikaner konzentrier-
ten, auf ihrem Höhepunkt aber nur 50’000 bis 100’000
Mitglieder zählten.
Wie in der Schweiz gab es auch in den USA Streiks
ausserhalb des klassischen Arbeitermilieus. Hatte in Zü-
rich 1918 das eaterpersonal gestreikt, so traten 1919 in
New York und Chicago die Schauspieler in den Ausstand.
In seiner Schockwirkung mit dem Zürcher Bankange-
stelltenstreik Ende September 1918 vergleichbar war der
mehrtätige Polizistenstreik in Boston im September 1919.
Der Kampf der Polizisten für Anerkennung ihrer der
AFL angeschlossenen Gewerkschaft sowie höhere Löhne
entsprach den Forderungen der Zürcher Banker ein Jahr
zuvor. In der Presse wurde der Streik als bolschewistische
Machenschaft verurteilt. Alle Polizisten wurden gefeuert
und durch ein neu rekrutiertes, besser bezahltes Korps
ersetzt. Ein Höhepunkt der Streikwelle war der fünftä-
gige Generalstreik in Seattle im Februar 1919, der sich
ebenfalls an Lohnfragen entzündete und an dem sich mit
Unterstützung von AFL und IWW etwa 65’000 Personen
beteiligten. In der nationalen Presse wurde das Ereignis
zum Testlauf einer bolschewistischen Revolution stilisiert.
Verlief der Konikt in Seattle friedlich, so mündeten ver-
schiedene Arbeitskonikte in Blutvergiessen: Bei einem
Trämlerstreik in Denver im August 1920 gab es sieben
Tote. Ein grosser Stahlarbeiterstreik in verschiedenen Tei-
len des Landes vom September 1919 bis Januar 1920 for-
derte 18 Menschenleben. Hunderte wurden verhaftet und
der Einsatz von 30’000 bis 40’000 afroamerikanischen
und mexikanischen Streikbrechern führte schliesslich zum
Zusammenbruch des Streiks. Parallel dazu streikten im
Bundesstaat Alabama 15’000 Kohlebergarbeiter. In die-
sem Arbeitskampf kamen mindestens 16 Menschen ums
Leben. 1921 schliesslich eskalierte in West Virginia eine
Auseinandersetzung, die sich seit Jahren hingezogen hat-
te. Seit 1914 hatte es in den Kohlebergwerken wegen der
miserablen Arbeitsbedingungen immer wieder Konikte
und Streiks gegeben. Im Mai 1920 kam es in Matewan
zu einem Feuergefecht zwischen Agenten der im Dienst
der Minenbesitzer stehenden «Baldwin-Felts Detective
Agency» und Streikenden mit zehn Toten, unter anderem
dem auf Seite der Arbeiter stehenden lokalen Bürgermeis-
ter. Aus Rache für ihre getöteten Kameraden ermordeten
Baldwin-Felts-Agenten im Folgejahr den in der Arbeiter-
schaft populären lokalen Sheri. Dies war der Auftakt zu
einem bewaneten Aufstand von 10’000 Bergarbeitern,
der in der «Battle of Blair Montain» mit rund 100 Toten
mündete. Die lokalen Behörden und Milizen der Berg-
werksbetreiber setzten Maschinengewehre und Privatug-
zeuge mit Splitterbomben ein, dann marschierte die US
Army mit 2’000 Mann Infanterie auf und liess Bomber
vom Typ De Havilland DH-4 aufsteigen. Nachdem auf
beiden Seiten rund eine Million Patronen verschossen
worden waren, kam es zur Einstellung der Kampfhand-
lungen.16
Auch ausserhalb des Kontexts von Streiks gab es in beiden
Ländern verschiedentlich Unruhen und Zusammenstösse
zwischen Demonstrierenden und Ordnungskräften. Aus
der Schweiz sind besonders die Unruhen von 1917 in La
Chaux-de-Fonds und Zürich (4 Tote), von 1918 in Bel-
linzona, Basel und Biel (1 Toter) und von 1919 in Zürich
(3 Tote) zu erwähnen. Sie folgten entweder auf Antiteu-
erungsproteste oder entzündeten sich an Verhaftungen
führender Sozialisten und Antimilitaristen. Die USA er-
lebten 1919 eine Welle von «race riots» in über 30 Städ-
ten, denen mehrere Hundert Menschen zum Opfer elen.
Im Unterschied zu ähnlichen Ausschreitungen in den vo-
rangegangenen Jahrzehnten leisteten die Afroamerikaner
(von denen etwa 200’000 in Europa gekämpft hatten)
nun teilweise Widerstand. Allein in der Region um Elaine
(Arkansas) kamen 100 bis 240 Afroamerikaner sowie fünf
Weisse ums Leben; in Washington D. C. gab es 15 Tote.
In Chicago kam es Ende Juli zu Strassenkämpfen, die eine
ganze Woche dauerten. Sie forderten 38 Todesopfer und
die Unterkünfte von 1’000 afroamerikanischen Familien
wurden niedergebrannt. Diese Unruhen hingen eng mit
der aufgewühlten Nachkriegssituation zusammen: Durch
Generalstreik in Seattle (Seattle Union Record, 3.2.1919).
94
die Demobilisation intensivierte sich die Konkurrenz
zwischen Weissen und Schwarzen um Arbeitsplätze und
Wohnungen, zudem setzten in der Streikwelle gewisse
Unternehmer gezielt Afroamerikaner als Streikbrecher ein.
Im Zeichen des «Red Scare» wurden die Vorgänge häug
mit bolschewistischen und anarchistischen Einüssen in
Verbindung gebracht. Das Erstarken der afroamerikani-
schen Bürgerrechtsbewegung, in der eine neue Generation
von teilweise radikaleren Führern an die Spitze trat, rief
bei den Behörden und in der Presse Befürchtungen eines
Schulterschlusses mit den russischen Revolutionären her-
vor. Die New York Times warnte im Oktober 1919: «Every
week the militant leaders gain more headway. [...] ey
are spreading Bolshevist propaganda. It is reported that
they are winning many recruits among the colored race.
When the ignorance that exists among negroes in many
sections of the country is taken into consideration the
danger of inaming them by revolutionary doctrine may
[be] apprehended.»17
Die Rätebewegung berührte die beiden Länder nur
peripher, verstärkte aber dennoch die Bedrohungswahr-
nehmung. In der Schweiz agitierten linksradikale Kräfte
seit Sommer 1917 für die Bildung von Arbeiterräten. Am
ersten Schweizerischen Arbeiterkongress Ende Juli 1918
spielte die Rätefrage dagegen nur eine Nebenrolle: Ein
Delegierter meinte, Arbeiterräte hätten momentan «viel-
leicht einen propagandistischen Charakter, aber im allge-
meinen sind sie ein Blödsinn».18 In der zweiten Jahreshälf-
te 1918 gab es in der Zürcher Metallarbeitergewerkschaft
Bestrebungen oppositioneller Gruppen, einen Arbeiterrat
einzurichten. Nach dem Landesstreik lehnte am 8./9. De-
zember der Kongress des Schweizerischen Metall- und
Uhrenarbeiterverbandes (SMUV) die von der Sektion
Zürich beantragte Wahl von Arbeiterräten aber ab und
erklärte deren Gründung mit grosser Mehrheit für sta-
tutenwidrig.19 Am zweiten Arbeiterkongress am 22./23.
Dezember drangen zwei vom Oltener Aktionskomitee
(OAK) bekämpfte Anträge auf Wahl lokaler Arbeiterräte
und Errichtung einer nationalen Rätestruktur ebenfalls
nicht durch.20 In der Folge blieben Bestrebungen links-
radikaler Kräfte um Einrichtung von Arbeiterräten erfolg-
los. In der Zürcher Metallarbeitergewerkschaft verursach-
ten sie aber einen Konikt, der 1921 zur Auösung und
Neugründung der ganzen Sektion führte. Die Sozialde-
mokratische Partei folgte in ihrem stark klassenkämpferi-
schen Programm von 1920 der Argumentation Grimms,
dass gewählte Arbeiterräte im beginnenden Sozialismus
eine wichtige Rolle spielen würden (gerade auch, um eine
Entwicklung wie in Sowjetrussland zu verhindern), zu-
vor aber abzulehnen seien.21 Blieben Arbeiterräte in der
Schweiz also weitgehend ein Phantom, tauchten sie in
der Gerüchteküche als Elemente einer angeblichen Auf-
standsorganisation dennoch prominent auf. Im «Wille-
Memorial» vom 4. November 1918 schrieb der General
an EMD-Vorsteher Camille Decoppet, aus dem Zürcher
Bürgertum sei ihm die Existenz von Arbeiterräten in den
Fabriken mit Leuten, die sich «zu Führern bei General-
streik und Revolution eignen», zugetragen worden.22 Der
Wochenbericht des amerikanischen Aussenministeriums
hielt dagegen unmittelbar nach dem Landesstreik fest,
der Bolschewismus sei in der Schweiz «clearly a minority
movement» und «found its only real adepts among the
youthful labouring population in certain industrial cen-
ters»; «even the most extreme parliamentary socialists and
trade-unions secretaries are opposed to it at heart».23
In den USA spielte in der Streikwelle die Forderung
nach «workers’ control» bzw. «self-management» nebst
materiellen Fragen eine wesentliche Rolle. Während des
Generalstreiks in Seattle übernahm ein Arbeiter- und Ma-
trosenrat teilweise die Stadtverwaltung. Im selben Jahr
bildeten sich kurzlebige Räte der Arbeiter, Soldaten, Mat-
rosen und/oder Farmer auch in Portland, Bualo, Denver,
Toledo und Butte. Wie in der Schweiz erlangte die Räte-
bewegung aber auch in den USA niemals dieselbe Bedeu-
tung wie in zahlreichen anderen Ländern.
Sprengstofunde und Bombenattentate
Neben den beschriebenen Massenbewegungen gab es
terroristische Randgruppen, deren Aktionen, ebenso wie
die Sabotageoperationen der kriegführenden Staaten, in
der öentlichen Wahrnehmung häug mit den interna-
tionalen Umbrüchen sowie den internen Protestwellen
vermischt wurden und zur Anheizung des «Red Scare»
beitrugen. Solche Anschläge, namentlich von anarchisti-
scher Seite, waren nicht neu und sie nahmen gegenüber
der Hochphase des anarchistischen Terrorismus in den
vorangegangenen vier Jahrzehnte auch nicht zu. Bekannte
Fälle in der Schweiz waren die «Zürcher Bombenaäre»
1889, als sich zwei Narodniki beim Experimentieren mit
Sprengsto in einem Wald auf dem Zürichberg selber in
die Luft jagten, die Erdolchung der österreichischen Kai-
serin Elisabeth durch den Anarchisten Luigi Lucheni in
Genf 1898 oder der Sprengstoanschlag gegen die Kathe-
drale St. Pierre in Genf durch den wohl geisteskranken
Anarchisten Carlo Machetto 1902, in den USA der nie
restlos geklärte Bombenwurf beim «Haymarket riot» in
Chicago 1886 oder die Ermordung von Präsident William
McKinley durch den Anarchisten Leon Czolgosz 1901.
Während des Krieges konnten in der Schweiz eine Rei-
he von Bombenfunden und Sprengstoattentaten auf in-
dustrielle Einrichtungen auf das Wirken deutscher oder
französischer Agenten bzw. – wie im Fall der Bomben-
95
funde im Zürcher Stadtkreis 6 vom Januar 1918 des
deutschen Konsulats in Zürich zurückgeführt werden.24
Im April 1918 wurde im Zürcher Lettenkanal deutscher
Sprengsto entdeckt. Wie die Untersuchung ergab, war
das Material von den Deutschen an in der Schweiz ansäs-
sige, hauptsächlich italienische Anarchisten geliefert wor-
den, die in Italien Attentate verüben sollten. Im Juni 1919
mussten sich vor dem Bundesstrafgericht 21 Angeklagte
verantworten, von denen acht zu Zuchthausstrafen zwi-
schen 20 Monaten und 4 Jahren verurteilt wurden. Im
Mai 1918 hatte der amerikanische Journalist Carl Acker-
man dazu in der Saturday Evening Post festgehalten: «e
Bolsheviki seem to be working for the Kaiser in Switzer-
land, as most of them have been doing his bidding in
Russia.»25
Am 9. Oktober 1918 wurde im Bahndamm Seebach
bei Zürich ein weiteres Sprengstoager entdeckt. Bezirks-
anwalt Otto Heusser führte es in seinem Untersuchungs-
bericht vom 5. November auf eine «individualistische
Anarchisten-Gruppe Zürich» zurück, die angeblich den
Polizeiposten Zürich habe sprengen wollen. Obgleich er
keinerlei Beziehungen zwischen dieser Gruppierung und
der organisierten Arbeiterschaft nachweisen konnte, wies
Heusser auch darauf hin, ihm sei von «durchaus glaub-
würdiger Seite» zugetragen worden, dass zwischen 7. und
10. November mit einem Revolutionsversuch der Jung-
sozialisten zu rechnen sei, die die Militärstallungen anzün-
den, das Zeughaus stürmen und dann Telegrafenamt und
Telefonzentralen besetzen wollten.26 Der Regierungsrat
ordnete eine Untersuchung über die Herkunft dieser Ge-
rüchte an, der Bericht ist aber seit Jahrzehnten verschol-
len.27 Ob, wie dies kürzlich als Möglichkeit in den Raum
gestellt wurde,28 die verdeckten deutschen Operationen
in deutschfreundlichen Ozierskreisen bekannt und die
Bombenfunde ngiert waren, lässt sich quellenmässig
weder be- noch widerlegen. Schwierig nachzuvollziehen
ist der Umstand, dass der Regierungsrat zwar öentlich
verkündete, dass es sich bei dem in Seebach gefundenen
Lager «um das Depot handelt, aus welchem auch die
Bomben stammten, die bei den Polizeiposten an der Hä-
ringsstrasse und in Zürich 6 gefunden worden sind»,29
man aber daraus nicht den Schluss zog, dass das deutsche
Konsulat dahinterstecken könnte. Dies, obwohl der in die
Bombenaäre von Zürich 6 verwickelte Konsularbeamte
Rudolf Engelmann gerade eben am 9. Oktober 1918 in
Abwesenheit verurteilt worden war.
Nach Kriegsende ereignete sich ein Attentatsversuch
Anfang September 1919, als gegen die Villa des Auto-
mobilfabrikanten Arbenz im Zürcher Seefeld eine Or-
donnanzhandgranate geworfen wurde, die wegen eines
korrodierten Zünders nicht detonierte. Die Behörden ver-
muteten einen Zusammenhang mit Streiks in den Auto-
mobilfabriken Arbenz und Tribelhorn in Albisrieden und
arretierten den Metallarbeitersekretär Fritz Kopp. Eine
Durchsuchung von dessen Wohnung förderte kommunis-
tisches Propagandamaterial zutage, nicht aber das erwarte-
te Waenlager. Der Fall zeigte im Übrigen einen überaus
dilettantischen Umgang der Zürcher Kantonspolizei mit
explosivem Material: Zunächst schickte sie einen Kurier
mit dem Blindgänger nach Luzern, der aber feststellen
musste, dass die Versuchsstation für Handgranaten nicht
mehr existierte. Am nächsten Tag wurde die Handgranate
per Post nach un an die Direktion der eidgenössischen
Munitionsverwaltung geschickt. Von dort kamen ein Pa-
ket mit der entschärften Granate und ein Brief mit einem
gehörigen el zurück: «Betreend den Versand dieses
Blindgängers gibt die Sektion für Munition ihrem Er-
staunen darüber Ausdruck, dass eine Amtsstelle [...] eine
blind gegangene Handgranate der Post zur Beförderung
anvertraut hat. [...] Die Sektion für Munition erklärt, dass
sie sich künftighin weigern müsste, derart gefährliche Sen-
dungen zu übernehmen.»30
Auch in den USA gab es deutsche Sabotageaktionen.
Die grösste ereignete sich am 30. Juli 1916 mit der Spren-
gung eines Depots für den Verkauf an Grossbritannien
und Frankreich bestimmter Waen und Munition auf
Black Tom Island im Hafen von New York. Dabei ex-
plodierten 1’000 Tonnen Munition mit einer Kraft, die
einem Erdbeben der Stärke 5,0 bis 5,5 auf der Richter-
Europäische Anarchisten als Bedrohung der amerikanischen
Freiheit (Literary Digest, 5.7.1919).
96
Skala entsprach, bis nach Philadelphia spürbar war und
auch die Freiheitsstatue beschädigte. Das Attentat for-
derte sieben Todesopfer. Nach Kriegsende gab es dann
eine Reihe von Bombenanschlägen, die zumeist auf An-
hänger des Anarchisten Luigi Galleani zurückgingen. Im
April 1919 ergingen mindestens 36 Sprengstopakete an
prominente Politiker, Beamte, Geschäftsleute und Jour-
nalisten, die aber kaum Schaden anrichteten. Am Abend
des 2. Juni gab es dann Bombenanschläge auf die Häuser
von acht Richtern und Untersuchungsbeamten. Keine der
attackierten Personen wurde getötet, es kamen aber ein
Nachtwächter sowie ein Anarchist ums Leben. Die Ur-
heberschaft eines grossen Anschlags im folgenden Jahr,
einer gewaltigen Bombenexplosion in der Wall Street am
16. September 1920 mit 38 Toten, konnte dagegen nie
geklärt werden, auch wenn dahinter ebenfalls Galleani-
Anarchisten vermutet wurden und werden.
Gerüchte, Fake News und Verschwörungs-
theorien als Spiegel und Multiplikatoren
fundamentaler Verunsicherung
Seit dem Kriegsausbruch überzogen die Kriegführenden
die internationale Öentlichkeit mit Propaganda.31 Die
massenhafte Verbreitung falscher, übertriebener oder ein-
seitig dargestellter Meldungen und deren Anreicherung mit
Feindbildern, massgeschneiderten Ideologemen, Gräuelge-
schichten und Verschwörungstheorien gehörte seit 1914
zum Alltag. Auch die beiden hier interessierenden Länder
waren davon betroen. Die Schweiz wurde von allen Sei-
ten mit Propagandamaterial bearbeitet.32 Broschüren und
Flugschriften strömten aus den kriegführenden Ländern
in den neutralen Kleinstaat und 1915 erlangten die deut-
sche und die französische Propaganda durch die Übernah-
me der Züricher Post bzw. der Tribune de Genève sogar je
die Kontrolle über eine Schweizer Tageszeitung. Auch ein
grosser Teil der Schweizer Kinos waren in deutscher oder
französischer Hand und richteten ihr Programm entspre-
chend aus.
Die USA waren während ihrer Phase der Neutralität ein
besonderes Ziel von Propagandaaktivitäten der Kriegfüh-
renden. Beim Kriegseintritt im April 1917 spielte dann in-
terne Propaganda eine zentrale Rolle. Im November 1916
hatte Wilson mit dem Slogan «He kept us out of war» eine
zweite Amtsperiode gewonnen: Die öentliche Meinung
war stark für eine Fortführung der Neutralität. Nach der
Entscheidung für den Kriegseintritt entfachte Wilson eine
immense Kampagne. Ein «Committee on Public Infor-
mation» initiierte die Bewegung der «four minute men»,
die in kurzen Reden ihr Auditorium vom Kriegseintritt
überzeugen sollten. Bis Kriegsende hielten 75’000 «four
minute men» 7,5 Millionen Reden vor über 314 Milli-
onen Zuhörern. Auch brachte das «Committee» Bücher,
Flugschriften und Redeanleitungen in einer Auage von
über 75 Millionen Exemplaren heraus. Hollywood pro-
duzierte mehrere antideutsche Filme. So gelang es, innert
kurzer Zeit eine antideutsche Hysterie zu entfachen, die
zur Entfernung deutschsprachiger Bücher aus den Biblio-
theken, zu Verboten, Musikstücke deutscher Komponis-
ten aufzuführen, zu sprachlichen Innovationen (wie der
Umbenennung des Sauerkrauts in «liberty cabbage», der
Frankfurter Würste in «liberty sausages» und der Ham-
burger in «liberty sandwiches»), aber auch zu gewaltsamen
Übergrien gegen Deutsch-Amerikaner führte. Daneben
richtete sich die öentliche Meinung auch gegen Pazis-
ten und Sozialisten, die gegen den Kriegseintritt waren.
Die seit mehreren Jahren durch Propaganda bearbei-
tete und aufgewühlte Öentlichkeit wurde ab 1917 mit
zusätzlichen präzedenzlosen Vorgängen konfrontiert: dem
Zusammenbruch der Versorgung in weit fortgeschritte-
nen Industrienationen, revolutionären Unruhen in Euro-
pa und zahlreichen Kolonien, dem Auseinanderbrechen
mehrerer Grossreiche sowie der grössten Pandemie des
Jahrhunderts, der Spanischen Grippe. Es erstaunt nicht,
dass in dieser Situation Verschwörungstheorien eine gros-
se Zugkraft entwickeln konnten. Die interdisziplinäre
Forschung zu Verschwörungstheorien hebt unter den psy-
chologischen, gesellschaftlichen und politischen Ursachen
für die Akzeptanz solcher Phantasmagorien den Faktor
Verunsicherung besonders hervor. In diesem Zusammen-
hang vermittelt die Vorstellung von Verschwörungen und
einem «unsichtbaren Regisseur» Orientierung und erleich-
tert das scheinbare Verständnis komplexer Entwicklungen.
Die Abgrenzung gegen «böse Mächte» schat Zugehörig-
keitsgefühle zur Seite des «Guten». Dadurch können Ver-
schwörungstheorien zu einem Manipulationsinstrument
werden und zur Rechtfertigung von Herrschafts-, Unter-
drückungs- und gar Vernichtungsmassnahmen dienen.33
Die Verunsicherung weiter Bevölkerungskreise durch
den Krieg und seine Folgen begünstigte in jahrhunder-
tealter Tradition antisemitische Verschwörungstheorien.
Schon kurz nach der Oktoberrevolution entstand das
Phantasma des «Judeo-Bolschewismus», die Vorstellung,
der Kommunismus sei eine jüdische Erndung zur Un-
terwerfung der Welt. Diese eorie passte perfekt zu den
Protokollen der Weisen von Zion, die sich in den frühen
20er Jahren auch im Westen verbreiteten. Erstmals waren
die teilweise aus ktionalen Texten plagiierten «Protokol-
le» 1903 in der St. Petersburger Zeitung Snamja erschie-
nen. Über ihre genaue Entstehungsgeschichte und eine
mögliche Beteiligung der zaristischen Geheimpolizei an
der Fälschung existieren in der Forschung verschiedene
97
esen. Es handelt es sich bei dem Text um eine undatier-
te angebliche Rede eines namenlosen jüdischen Führers
über Taktik und Ziele einer Weltverschwörung: Durch
Unterwanderung aller Lebensbereiche, Kriege, Revoluti-
onen, Rationalismus, Materialismus und Atheismus soll-
ten die christlichen Nationen zermürbt und ein jüdisches
Weltreich errichtet werden. Zweifel an der Echtheit ka-
men früh auf. Bereits vor 1914 kam eine Untersuchung
des russischen Innenministeriums zum Schluss, es hand-
le sich um eine Fälschung. Nach der Oktoberrevolution
spielten russische Exilkreise den Text Persönlichkeiten im
Westen zu und ab 1920 erschienen zahlreiche Übersetzun-
gen. Zunächst wurde der Text vielfach für echt gehalten.
Zwar wurde bereits in den frühen 20er Jahren nachgewie-
sen, dass es sich um einen Fake handelte, die «Protokolle»
spielten aber in der rechtsradikalen Propaganda weiterhin
und bis heute eine zentrale Rolle.
In den USA sorgte der Industrielle Henry Ford für eine
massenhafte Verbreitung. Nachdem er sich weitgehend
aus der Leitung seiner Ford Motor Company zurückge-
zogen hatte, widmete er sich nach dem Ersten Weltkrieg
verstärkt publizistischen Tätigkeiten. In der Zeitung
Dearborn Independent, die Ford 1919 kaufte, erschienen
regelmässig antisemitische Artikel, die sich auf die «Pro-
tokolle» bezogen und vor einer jüdisch-bolschewistischen
Gefahr weltweit und in den USA warnten. Diese Artikel
wurden von 1920 bis 1922 unter dem Titel e Internati-
onal Jew – e World’s Foremost Problem auch in vier Bän-
den mit einer Auage von einer halben Million publiziert,
die in 16 weitere Sprachen übersetzt wurden. Darin fand
sich unter anderem die Behauptung, die Organisations-
form der Sowjets sei «keine russische, sondern eine jüdi-
sche Erndung. Auch ist er keine moderne Erndung der
russischen Juden, eine neue politische Idee Lenin’s und
Trotzky’s: er ist alt-jüdischen Ursprunges, eine Organisati-
onsform, welche die Juden nach der Eroberung Palästinas
durch die Römer sich gegeben haben, um ihr abgeson-
dertes rassisches und nationales Leben zu erhalten. Der
moderne Bolschewismus, der nun als blosse Hülle für ei-
nen lang geplanten Schlag erkannt ist, der die Herrschaft
seiner Rasse herstellen soll, nahm sofort die Regierungs-
form der Sowjet an, weil die Juden aller Länder, die am
russischen Bolschewismus mitwirkten, in der Art und
dem Aufbau des Sowjet von altersher geschult sind. Der
Sowjet kommt in den «Protokollen» unter dem alten Na-
men «Kahal» vor34 Die traditionelle jüdische Gemeinde-
organisation der «Kahal» bzw. «Kehillah» war bereits 1869
vom russischen Antisemiten Jakov Brafman als Zentrum
einer angeblichen Weltverschwörung genannt worden.
Auch in der Schweiz stiessen die «Protokolle» auf Re-
sonanz, schienen sie doch die bereits vorhandene Vorstel-
lung des «Judeo-Bolschewismus» zu bestätigen. Schon
zwei Wochen nach der Oktoberrevolution hatte zum Bei-
spiel der Walliser Bote behauptet, in Russland stehe nun
«der Jude Lenin an der Spitze».35 Im Frühjahr 1919 zitier-
ten verschiedene Blätter zustimmend aus ausländischen
Zeitungen wie der Wiener Reichspost und der Deutschen
Allgemeinen Zeitung, die einen Zusammenhang zwischen
Judentum und Bolschewismus herstellten.36 Das Journal
de Genève wies Ende März 1919 auf das Judentum als an-
geblich verbindendes Element von Kommunisten und So-
zialdemokraten im post-habsburgischen Raum hin, hielt
anderthalb Jahre später dann aber fest, die weit verbreitete
Vorstellung vom Bolschewismus als jüdische Erndung
sei eine Legende.37 Der Nebelspalter reimte im August
1919 nach den Generalstreiks in Basel und Zürich: «Was
denn bekümmert uns Vaterlands Not? Wer nicht Genosse,
den schlagen wir tot, Weib, Kind und Gut – ein gemein-
samer Sud, Wie es geboten der russische Jud’».38 Auch im
diplomatischen Apparat war die Vorstellung vom «Judeo-
Bolschewismus» bereits vor der Verbreitung der «Proto-
kolle» im Westen verankert. Ende Februar 1919 schrieb
der Gesandte in Wien, Charles-Daniel Bourcart, der
Bolschewismus sei augenscheinlich nichts anderes, als die
«Beherrschung der Welt durch den jüdischen Intellekt».39
Edouard Odier, bis Ende 1917 Gesandter in Petrograd,
behauptete im April 1919 in einem Bericht an Bundesrat
Felix Calonder, fast alle bolschewistischen Führer seien Ju-
den, die ihre Herkunft unter russisch klingenden Namen
verbergen würden.40 Einige Wochen früher hatte Kon-
sul Suter in Warschau geschrieben, es müsse «eine Or-
ganisation existieren», die sich zur Aufgabe gestellt habe,
«die Weltherrschaft des Judentums auf kommunistischer
Grundlage wieder aufzurichten».41
Im August 1920 publizierten dann die Schweizerischen
Republikanischen Blätter einen Artikel über die «Protokol-
le», der wenige Tage darauf unter dem Titel Die jüdische
Gefahr auch auf der Frontseite des Walliser Boten erschien:
Henry Fords Buch
e International Jew (1920)
machte das Judentum für Ersten
Weltkrieg und Bolschewismus
verantwortlich.
98
«Juda regiert die Welt. Juda hat den Löwenanteil an der
Beute aus dem entsetzlichen Zusammenbruch der euro-
päischen Völkerfamilie davongetragen. Juda steht an der
Spitze des Bolschewismus, des revolutionären Sozialismus.
Juda bildet das furchtbare Sprengpulver im sozialen, poli-
tischen und religiösen Leben der Völker. Juda manövriert
als unsichtbarer Regisseur hinter den blutbespritzten Ku-
lissen des schaurigen Völkerkrieges und der aus ihm ent-
sprungenen Weltrevolution.»42 Ein Bericht des Eidgenös-
sischen Politischen Departements (EPD) an die Schweizer
Gesandtschaften im März 1921 nahm ebenfalls auf die für
echt gehaltenen «Protokolle» Bezug: «Es ist wichtig fest-
zuhalten, was durch undiskutable Tatsachen bewiesen ist,
nämlich, dass ein guter Teil des Programms der ‹Proto-
kolle› im Verlauf der bolschewistischen Revolutionen in
Russland und Ungarn ausgeführt worden ist. Es ist übri-
gens oenkundig, dass die Juden die Weltrevolution leiten
[...].»43 Solche Vorstellungen integrierten auch den Lan-
desstreik. Die Gazette de Lausanne formulierte im Okto-
ber 1919 eine umfassende «judeo-bolschewistische» Welt-
verschwörungstheorie, die auch die Schweiz einschloss.44
Bereits seit Jahresbeginn 1918 hatte die durch die
Oktoberrevolution aufgeschreckte bürgerliche Presse die
Möglichkeit eines Landesstreiks diskutiert und die Vor-
stellung vom angeblich aus Russland gesteuerten Putsch-
versuch vorweggenommen – etwa durch die Bezeichnung
des OAK als «Soviet d’Olten».45 Im Herbst nahmen diese
Befürchtungen zu. Im «Wille-Memorial» vom 4. Novem-
ber schrieb der General, wie jedermann wisse, befänden
sich «zahlreiche, mit viel Geld ausgerüstete Sendboten
der russischen Bolschewiki in der Schweiz, um die Sache
zu beschleunigen.»46 Fünf Tage später legte Staatsanwalt
Alfred Brunner seinen Bericht an den Zürcher Regie-
rungsrat zu den Novemberunruhen 1917 vor, in dem er
mangels Beweisen einen Verzicht auf Anklageerhebung
wegen Hochverrats oder Aufruhr empfahl, jedoch meinte,
die Situation habe sich seither verändert und man müsse
davon ausgehen, «dass die Russen den Ausbruch der so-
zialistischen Revolution in der Schweiz [...] als Ansporn
und Unterstützung für die von ihnen vorbereitete deut-
sche Bolschewiki-Revolution» verlangen würden. «[...]
die schweizerischen Bolschewiki-Führer reisen nach Russ-
land, um die Befehle des Diktators entgegenzunehmen.
Wieder rollt der Rubel.»47 Am 12. November wurde die
bereits sechs Tage zuvor – auch auf Druck der Siegermäch-
te48 – beschlossene Ausweisung der Sowjetmission vollzo-
gen. Eine unmittelbar danach begonnene, grossangelegte
Untersuchung der Bundesanwaltschaft förderte (wie auch
die spätere Sichtung sowjetischer Akten49) trotz der in-
tensiven Propagandatätigkeit der Russen keine Belege für
eine organisatorische Zusammenarbeit zwischen OAK
und Sowjetmission zu Tage.50 Im Landesstreikprozess be-
«Die jüdische Gefahr» auf der Titelseite des Walliser Boten vom 1.9.1920.
99
zeichnete der Auditor den Vorwurf, Ernst Nobs sei «ein
bezahlter russischer Agent» und beim Streik habe «frem-
des Geld» eine Rolle gespielt, als «Legende».51
Solche Vorstellungen verbreitete etwa der exilrussische
Militärarzt, Schriftsteller und Übersetzer Serge Persky, der
seit der Oktoberrevolution in der Gazette de Lausanne re-
gelmässig antibolschewistische Artikel und angebliche so-
wjetische Dokumente publizierte. Persky arbeitete im Stab
des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemen-
ceau und war 1917 dessen Gesandter bei der Provisorischen
Regierung Russlands gewesen. Nach deren Sturz wurde er
Rechtsvertreter mehrerer geohener Ex-Minister.52 Seine
Propagandatätigkeit vertrat französische und exilrussische
Interessen. In der Wahrnehmung der Entente-Mächte,
die eine enge Verbindung zwischen Bolschewismus und
deutscher Kriegführung vermuteten, war die Schweizer
Öentlichkeit trotz des um sich greifenden «Red Scare» zu
probolschewistisch eingestellt und bedurfte propagandis-
tischer Bearbeitung. Ein britisches Geheimdienstmemo-
randum vom 2. November 1918 behauptete, bis vor kur-
zem seien «even certain bourgeois circles [...] by no means
unfavourably inclined towards the Moscow Government»
gewesen, und nannte absurderweise «such bourgeois papers
as the ‹Neue Zürcher Zeitung›».53 Während die Briten An-
fang November die bolschewistische Gefahr in der Schweiz
am Abauen sahen, ging die französische Botschaft von ei-
ner Verschwörung für Revolutionen in ganz Mitteleuropa
zwischen der Sowjetmission und Fritz Platten aus, für die
es freilich keinerlei Belege gab.54
Am 29. Oktober 1918 – knapp drei Wochen nach
dem Bombenfund von Seebach – veröentlichte Persky
einen ausführlichen Artikel Pour terroriser le monde über
einen angeblichen aus Russland gesteuerten anarchistisch-
bolschewistischen Terrorkomplott, der Anschläge in aller
Welt vorsah, unter anderem gegen das Bundeshaus, das
Bundesgericht in Lausanne, die Nationalbank in Zürich
und die Hauptpost von Genf.55 In der aufgewühlten
Stimmung heizte der Artikel, der just am 10. November
eine Fortsetzung erhielt, die Revolutionsfurcht weiter an.
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement wies
am 11. November in einem Antrag an den Gesamtbun-
desrat für eine gerichtliche Untersuchung wegen Verbre-
chen gegen die innere und äussere Sicherheit der Eid-
genossenschaft ausdrücklich auf den Persky-Artikel als
«Anhaltspunkt» dafür hin, «dass ein Unternehmen zum
gewaltsamen Umsturz der Bundesverfassung oder der ge-
waltsamen Vertreibung oder Auösung der Bundesbehör-
den vorbereitet war».56
Für Aufsehen sorgte dann ein mit Le plan du terrorisme
en Suisse überschriebener Text, den Persky am 23. April
1919 veröentlichte. Dabei handelte es sich um angeb-
liche sowjetische Instruktionen von Ende Oktober 1918
für einen Umsturz in der Schweiz und die Errichtung ei-
ner Diktatur unter dem galizisch-jüdischen Bolschewisten
Karl Radek. Persky wollte seit Ende 1918 im Besitz einer
Fotograe dieses Dokumentes sein. Ob das OAK von dem
Plan gewusst habe, liess er oen, stellte ihn aber als Beweis
dafür dar, «que c’est à Moscou que fut décidée en principe
la grève en Suisse».57 Andere Blätter druckten den Text in
der Folge ab, ohne seine Authentizität zu hinterfragen.58
Der Zeitpunkt der Publikation war nicht zufällig: Zum
einen war der Landesstreikprozess, an dem der Text einer
Ein angebliches bolschewistisches Putschkonzept auf der Frontseite der Gazette de Lausanne vom 23. April 1919.
100
kritischen Analyse unterzogen worden wäre, vorüber, zum
anderen verliehen ihm die gerade errichteten Räterepubli-
ken in Ungarn (am 21. März) und München (am 7. April)
scheinbare Plausibilität. Zwar passten diese nicht wirklich
ins Schema von Moskau gesteuerter Umstürze. In Ungarn
hatten Vertreter der Vorgängerregierung, einer bürgerlich-
sozialdemokratischen Koalition, angesichts eines Ultima-
tums der Entente vom 20. März die inhaftierten Führer
der ungarischen Kommunisten um Mitbeteiligung an der
Macht gebeten, in der Honung, den militärischen Vor-
marsch von der Entente unterstützter rumänischer Trup-
pen mit Hilfe der Roten Armee zu stoppen. Die Neue
Zürcher Zeitung bezeichnete den Vorgang treend als
«eine der sonderbarsten Revolutionen, die die Geschichte
kennt».59 Und in München war die gegen den Willen der
Kommunisten proklamierte Räteregierung zunächst von
anarchistischen, linkssozialistisch-pazistischen und frei-
wirtschaftlichen Kräften getragen. Erst nach einem miss-
glückten Einmarschversuch durch Truppen der sozialde-
mokratischen bayerischen Landesregierung übernahmen
die Kommunisten die Macht. Aus helvetischer und west-
europäischer Perspektive erschienen die Vorgänge aber als
anrollende «Glutwelle des Bolschewismus»60 oder «rote
Flut des Umsturzes aus dem Osten».61 Eine Visualisierung
solcher Ängste fand sich auf dem Cover der Broschüre Die
rote Hölle in Ungarn des Journalisten und Schriftstellers
Henry Schmitt mit einer Landkarte, bei der ein Dolch
aus Moskau in Budapest zustach, das hervorspritzende
Blut ganz Ostmitteleuropa rot färbte und via München
bis nach Zürich, Bern und Basel oss.62
Das OAK wies die angeblichen «Instruktionen» am
26. April 1919 als von Persky entweder selbst angefertig-
te oder weiterverbreitete Fälschung zurück63 und auch
Untersuchungsrichter Albert Calame, ein Freisinniger,
konstatierte nach einer Befragung Perskys64 am 8. Mai in
einem Bericht an die Bundesanwaltschaft, es handle sich
mit grösster Wahrscheinlichkeit um eine Fälschung aus
russischen Exilkreisen.65 Der Bundesrat hielt dann zwar
in seinem Bericht zur Untersuchung über die Sowjetmissi-
on die «Instruktionen» «im Bereich der Möglichkeit» und
billigte der Glaubwürdigkeit der Persky-Dokumente «ein
hohes Mass von Wahrscheinlichkeit» zu, «kaum aber eine
solche Gewissheit [...], dass ein urteilendes Gericht darauf
abstellen könnte.»66 Trotz der von Beginn weg erheblichen
Zweifel an der Authentizität der «Instruktionen» wurden
diese zu Kronzeugen des Revolutionsnarrativs über den
Landesstreik, popularisiert durch die 1926 im Kontext ei-
ner Kampagne zur Verhinderung der Wahl Grimms zum
Nationalratspräsidenten erstmals publizierte Broschüre
Les troubles révolutionnaires en Suisse de 1916 à 1919 des
Militärpublizisten Paul de Vallière. Dieser behauptete,
Grimm habe von den «Instruktionen» Kenntnis gehabt,
und reicherte Perskys Umsturzerzählung antisemitisch
an.67 Von de Vallières Text nährten sich jahrzehntelang
Revolutionserzählungen über den Landesstreik, so noch
1960 ein Artikel des Ex-Nachrichtenchefs Roger Mas-
son.68 Georges Wagnières betonte 1937 in der Gazette de
Lausanne zwar, dass den Behörden das Persky-Dokument
nie vorgelegen habe und seine Authentizität niemals habe
nachgewiesen werden können, behandelte es aber in sei-
nen folgenden Ausführungen dennoch als glaubwürdig.69
Demgegenüber behauptete im Folgejahr der Film La Peste
Rouge, die Authentizität des Dokumentes sei «incontes-
table», und zeigte sogar einen dicken Dokumentenband,
der angeblich die «Instruktionen» darstellte.70 Der von
Kreisen um alt Bundesrat Jean-Marie Musy und den
nachmaligen SS-Obersturmbannführer Franz Riedweg in
deutschen Studios produzierte Streifen stellte den Landes-
streik zusammen mit Unruhen in aller Welt als Teil ei-
ner globalen jüdisch-bolschewistisch-intellektualistischen
Verschwörung dar.71
Eine bemerkenswerte Karriere machte auch das kti-
ve «Document Guilbeaux». Der französische Journalist,
Schriftsteller und Kommunist Henri Guilbeaux lebte
von 1915 bis 1919 in Genf. Nach zwei Inhaftierungen
1918/19 wurde er im Februar 1919 nach Moskau ausge-
schat. Schon vor dem Landesstreik und erneut in den
frühen 20ern kolportierten mehrere Zeitungen, bei Guil-
beaux’ Verhaftung seien Revolutions- bzw. Generalstreik-
anweisungen Lenins an die Schweizer Sozialisten sicher-
gestellt worden.72 Jean-Marie Musy erwähnte in seiner
bekannten Brandrede im Nationalrat im Dezember 1918,
bei Guilbeaux sei ein «Plan der schweizerischen Sovietre-
publik» entdeckt worden.73 Obwohl Bundesrat Heinrich
Häberlin 1925 festhielt, dass nichts dergleichen gefunden
wurde,74 behauptete dann auch de Vallière, die Polizei habe
bei einer Hausdurchsuchung Instruktionen an die Schwei-
zer Sozialisten entdeckt, die Lenin vor seiner Abreise an
Schweizer Revolutionsangst
während der ungarischen
Räterepublik vom Frühjahr 1919
(Schweizerisches Sozialarchiv
335/399-2).
101
Guilbeaux ausgehändigt habe.75 Die sozialdemokratische
Sentinelle stellte das «Document Guilbeaux» in eine Reihe
mit der «Zinoviev Letter» und dem «Herriot-Brief».76 Bei
ersterer handelte es sich um einen erfundenen Brief des
Komintern-Vorsitzenden an die britischen Kommunisten
über den angeblich wachsenden Einuss der Komintern
in der britischen Politik, der zur Diskreditierung der La-
bour-Regierung vier Tage vor den Unterhauswahlen 1924
in der Daily Mail erschien und zum konservativen Wahl-
sieg beitrug. Ob die Fälschung aus russischen Exilkreisen
oder vom britischen Inlandgeheimdienst MI5 stammte,
ist in der Forschung umstritten.77 Vor den Reichstagswah-
len 1924 versuchte die Berliner Börsenzeitung einen ähnli-
chen Coup mit der Falschmeldung zu einem angeblichen
Memorandum des französischen Premierministers Édou-
ard Herriot an die Siegermächte über eine mit Sanktions-
drohungen durchzusetzende Reduktion der Reichswehr
nach Plänen des französischen Generalstabs. Diese Ente
beeinusste das Wahlresultat indessen nicht im von den
Fälschern gewünschten Sinne.
In der Schweiz war bereits im Oktober 1919 im Vor-
feld der Wahlen die Panikmeldung von einem geplanten
«Novemberputsch» durch die Presse gegeistert: Am 7. No-
vember, dem zweiten Jahrestag der Oktoberrevolution,
würden die Bolschewisten auf Anweisung aus dem Aus-
land eine revolutionäre Aktion zur Errichtung einer Sow-
jetdiktatur unternehmen. Teilweise wurde diese Meldung
direkt mit dem Aufruf zu einem antisozialistischen Vo-
tum in den Wahlen verknüpft.78 Auch in den USA geis-
terte ein konkretes Revolutionsdatum herum: der 1. Mai
1920. Justizminister A. Mitchell Palmer warnte immer
wieder vor einem Aufstand an diesem Tag. Im Februar
1920 schrieb er, «the blaze of revolution» habe Sicher-
heitsbehörden, Arbeiterwohnungen, Altäre der Kirchen
und Glockentürme der Schulen wie ein Präriefeuer erfasst
und drohe die Grundlagen der Gesellschaft zu verbren-
nen.79 Am 29. April sprach er von einem internationalen
Komplott und behauptete, eine Namensliste mit vorgese-
henen Terroropfern zu besitzen. Polizei und Milizen im
ganzen Land wurden in Alarmzustand versetzt. Als dann
am 1. Mai nichts geschah, geriet Palmer in mediale Kritik
und sein Niedergang setzte ein. Im Sommer 1920 scha-
te er die Nomination für die Präsidentschaftskandidatur
der Demokraten, für die er als Mitfavorit gegolten hatte,
nicht.
Neben Falschnachrichten und gegenstandslosen Ge-
rüchten heizten auch bewusst oder unbewusst falsch in-
terpretierte Ereignisse und Dokumente die Revolutions-
furcht weiter an. Dazu gehörten Wahrnehmungen der
von Grimm organisierten Konferenzen von Zimmerwald
(September 1915) und Kiental (April 1916), an denen
Linkssozialisten aus verschiedenen Ländern teilgenom-
men hatten. An beiden Konferenzen gab es heftige Aus-
einandersetzungen zwischen der pazistischen Mehrheit,
die auf einen sofortigen Friedensschluss drängte und zu
der auch Grimm zählte, und einer Minderheitsgruppe um
Lenin («Zimmerwalder Linke»), die den Weltkrieg in ei-
nen revolutionären Weltbürgerkrieg umwandeln wollte.
Nicht zuletzt die zum Schutz der Delegierten betriebene
Geheimniskrämerei – die Konferenz von Zimmerwald
war als vogelkundlicher Kongress getarnt worden – mach-
te sie zum Gegenstand von allerlei Projektionen. So warn-
te Wille am 12. April 1918 in einem Brief an Oberst-
korpskommandant Eduard Wildbolz, «die Bolschewiki in
Zimmerwald und Kiental» hätten «gut gewusst, warum sie
die Schweiz auswählten, als das Land, in dem sie mit dem
Umsturz der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung
anfangen» wollten.80 Am 4. November gleichen Jahres
führte Wille dann in seinem Brief an Decoppet aus, er sei
der Überzeugung, «dass auf den Kongressen von Zimmer-
wald und Kiental beschlossen worden sei, mit dem Um-
sturz der staatlichen Ordnung in Europa in der Schweiz
den Anfang zu machen.»81 Die Akten der Zimmerwalder
Revolutionsgerüchte als Mittel zur Wählermobilisierung
(Walliser Bote, 25.10.1919).
Die Ankündigung eines aus dem Ausland gesteuerten Aufstands-
versuchs erwies sich als Ente (New York Times, 30.4.1920).
102
Bewegung verbannen diese eorie ins Reich der Legen-
den, sie wurden aber erst 1967 durch eine umfangreiche
Quellenedition allgemein zugänglich.82
Etwas anders gestaltet sich die Lage bei der Diskussion
um das als «Memorial Grimm» bzw. «Bürgerkriegsmemo-
rial» skandalisierte Dokument. Hier erlebte ein unzwei-
felhaft echtes Dokument durch Herauslösung aus seinem
Zusammenhang eine geschichtspolitische Karriere. Eek-
tiv handelte es sich um einen Entwurf für ein General-
streikkonzept, den eine vom OAK eingesetzte Subkom-
mission aus Robert Grimm, SMUV-Präsident Konrad Ilg,
Eisenbahnersekretär August Huggler und dem radikalen
Holzarbeitersekretär Franz Reichmann in Ergänzung zum
von einem anderen Subkomitee zu erarbeitenden Forde-
rungskatalog in der ersten Februarhälfte 1918 erstellte.83
Der Entwurf schloss an die Beschlüsse des SP-Parteitags
von 1913 an, der den «sogenannten revolutionären Ge-
neralstreik» abgelehnt, aber Massenstreiks befürwortet
hatte «als Notwehr- und Protestaktion» zur Verhinderung
von «Massnahmen der Behörden, durch die gemeinsame
Lebensinteressen oder unentbehrliche Rechte und Frei-
heiten der Arbeiterklasse ernsthaft bedroht werden», oder
«wo die Arbeiterklasse in ihrem Ehrgefühl derart verletzt
wurde, dass das Ansehen der Organisation durch kein an-
deres Protestmittel besser gewahrt werden kann».84 Der
Konzeptentwurf listete vier potenzielle Phasen «ausserpar-
lamentarischer Kampfmittel» auf: «1. Allgemeine Agitati-
on in Volks- und Demonstrationsversammlungen, [...]. 2.
Steigerung der Agitation durch Demonstrationsversamm-
lungen während der Arbeitszeit. 3. Steigerung der Aktion
durch den befristeten allgemeinen Streik und seine even-
tuelle Wiederholung. 4. Die Anwendung des allgemeinen
Streiks als unbefristete Massnahme, die zum oenen revo-
lutionären Kampf und in die Periode des oenen Bürger-
kriegs überleitet.» Empfohlen wurde die Vorbereitung der
Arbeiterschaft auf die ersten drei Phasen.85 An einer Kon-
ferenz des Gewerkschaftsausschusses und der Geschäftslei-
tung der Sozialdemokratischen Partei Anfang März 1918
betonte Grimm, dass es sich bei den vier Punkten um eine
Auslegeordnung, nicht einen Plan handelte: «Wir müssen
uns klar sein, welche Kampfmittel wir besitzen, aber auch
darüber, welche Konsequenzen diese Mittel in sich schlies-
sen.» Zum vierten Punkt präzisierte er: «Der unbefristete
Streik kommt für uns heute kaum in Frage, da er in seinen
Konsequenzen unabsehbar ist.»86 Die von der bisherigen
Forschung nicht beachteten Handnotizen der Konferenz-
teilnehmerin Marie Hüni zu Grimms Referat bestätigen
das ozielle Protokoll: Der Kommissionsentwurf sei
«Diskussionsgrundlage für die Verbände», «Vorlage einer
Reihe von Selbstverständlichkeiten» und es seien «nur
die drei ersten Phasen in Aussicht» zu nehmen.87 Auch
die übrigen Konferenzteilnehmer lehnten mit Ausnah-
me Plattens den vierten Punkt als Kampfmittel ab. In
der verabschiedeten Version wurde er deshalb gestrichen
und alle Aussagen zum «revolutionären Kampf» und der
dabei entstehenden Bürgerkriegsgefahr in den erläutern-
den Abschnitt VI verschoben.88 Zu den verbliebenen drei
Punkten erfolgte dann eine Umfrage unter den Gewerk-
schaften; die verabschiedete Version war also nach Mei-
nung der Konferenz kein bindender Beschluss, sondern
ein Vorschlag an die Verbände.89
Auch die Beratungen in Geschäftsleitung und Partei-
vorstand der SP Mitte März zeigen, dass der ominöse
Punkt 4 des Entwurfs der Subkommission nicht als Es-
kalationsstufe eines Plans, sondern in doppelter Frontstel-
lung gegen linksradikale Forderungen und die zu erwar-
tenden Reaktionen der Staatsmacht als Warnung vor der
Proklamation des unbefristeten Generalstreiks verstanden
wurde.90 Ernst Nobs kritisierte daran: «Man lässt sich von
der xen Idee leiten, ein allgemeiner Streik arte in revoluti-
onäre Kämpfe aus. Ich glaube das nicht. Man muss nur für
die richtige Vorbereitung besorgt sein und einen Damm
schaen gegen gewisse Einüsse. [...] Punkt 4 sagt zu viel
und zu wenig.» Die vom Parteivorstand verabschiedete
Version strich die Passage zum «revolutionären Kampf»
aus den Erläuterungen und umschrieb die Kampfmittel
folgendermassen: «1. Allgemeine Agitation in Demons-
trations- und Volksversammlungen, [...]. 2. Steigerung
der gewerkschaftlichen Aktion im Kampfe um höhere
Löhne durch die üblichen Streiks, [...]. 3. Gleichzeitige
Demonstrationsversammlungen während der Arbeitszeit.
4. Steigerung der Aktion durch genau vorbereiteten, mit
strenger Disziplin und ohne Gewalttätigkeit durchzufüh-
renden befristeten Generalstreik und seine allfällige Wie-
derholung. Diese Aktionen sind durch parlamentarische
Parallelaktionen in Bund, Kanton und Gemeinde kräftig
zu unterstützen.»
An einer Sitzung des Gewerkschaftsausschusses und der
Geschäftsleitung der Partei am 12. April betonte Grimm,
auch das OAK sei der Auassung, «dass keine Gewalt
angewendet werden soll; bestimmte Garantien über die
Entwicklung der Ereignisse werden wir aber nicht über-
nehmen können».91 Die Anträge des Parteivorstandes
wurden dem OAK zur Berücksichtigung bei der Ausar-
beitung einer Generalstreik-Wegleitung überwiesen. Dort
wurden Gewaltfreiheit und Disziplin besonders betont:
«Der Streik ist diszipliniert und ohne Ausschreitungen
durchzuführen. Jede Provokation ist zu unterlassen. [...]
Sollten Truppenaufgebote zur Aufrechterhaltung der so-
genannten Ordnung erfolgen, haben die Arbeiter einzu-
rücken. [...] Jede Provokation des Militärs und der Polizei
ist durch die Streikenden unbedingt zu unterlassen. Wer
103
es trotzdem tut, muss als ein Schädling der Bewegung be-
trachtet werden.»92 Bei linksradikalen Grüppchen sties-
sen die «im Aktionskomitee sitzenden Sozialpatrioten»
und ihr Generalstreikkonzept («lächerliche Posse einer
Drohung mit dem disziplinierten und befristeten Gene-
ralstreik») auf heftige Kritik. Gefordert wurde ein «Gene-
ralstreik um das System zu ändern, um soziale und sozia-
listische Forderungen von Bedeutung für alle Arbeiter und
von bleibendem Wert zu erringen».93 Während der SGB
das Anfang März bereinigte Generalstreikkonzept zusam-
men mit dem Konferenzprotokoll publizierte, erfolgte die
erste Veröentlichung des vorangegangenen Entwurfs am
27. Juli 1918 in den Basler Nachrichten, ohne dass dies
Wellen warf. Die Behörden waren ab November 1918 im
Besitz einer Abschrift des Entwurfs, der aber im Landes-
streikprozess nicht verwendet wurde.94
Die Skandalisierung des Konzeptentwurfs als «Me-
morial Grimm» begann im Sommer 1919 als Reaktion
auf die linke Polemik gegen den als «Wille-Memorial»
skandalisierten Brief des Generals an den EMD-Vorste-
her vom 4. November 1918 mit der Beschwörung von
Revolutionsgefahr und Forderung nach einem präventi-
ven Truppenaufgebot. Dieses Schreiben, das von einem
Zeugen im Landesstreikprozess angesprochen worden
war, wurde Anfang Juli 1919 publiziert und von Grimm
vor seinem Haftantritt mit sehr giftigen Worten bedacht.
Am 19. und 26. Juli veröentlichte dann der Grütlianer
unter dem Titel Ein anderes Memorial den Konzeptent-
wurf und bezeichnete ihn als «Plan zum Bürgerkrieg», der
von «einer wichtigen Versammlung [...] völlig sinngemäss
zum Beschluss erhoben» worden, aber der Arbeiterschaft
verheimlicht worden sei. Der «Kampfplan» sei «bis heute
nicht aufgehoben worden».95 Diese grob verfälschte Dar-
stellung war eine Abrechnung zwischen verfeindeten Frak-
tionen der Arbeiterbewegung: Die Grütlianer hatten sich
1916 organisatorisch von der SP getrennt und versuchten
in der Nachkriegszeit mit geringem Erfolg, eine «Sozialde-
mokratische Volkspartei» auf die Beine zu stellen.
Von bürgerlicher Presse und Politikern wurde das ema
«Bürgerkriegsmemorial» rasch aufgegrien. Eine Untersu-
chung der Bundesanwaltschaft gelangte zwar zum Schluss,
es handle sich dabei nicht um eine konkrete Auorderung
zu Revolution und Aufruhr und beantragte dem Bundes-
rat Einstellung des Verfahrens, was am 27. Februar 1920
geschah.96 Trotzdem wurde das «Bürgerkriegsmemorial»
immer wieder als politisches Argument instrumentalisiert
und neben den Persky- und Guilbeaux-«Dokumenten»
zur tragenden Säule des Revolutionsnarrativs über den
Landesstreik. Noch 1934 behauptete etwa Verteidigungs-
minister Minger, es sei «in der sozialdemokratischen Partei
noch ein Memorial vorhanden [...], das die einzelnen Pha-
sen vom Streik bis zum oenen Bürgerkrieg genau um-
schreibt»,97 und die Freiburger Nachrichten meinten, der
«Revolutionswille» der Schweizer Sozialdemokratie erhal-
te «seinen prägnanten Ausdruck im Memorial Grimm».
Dass es sich dabei nicht um ein parteiozielles Dokument
handle, spiele keine Rolle: «Es handelt sich nicht so sehr
darum, ob die sozialistische Partei es anerkennt, sondern
es handelt sich im Wesen darum, ob das, was in diesem
Memorial steht, im Falle einer revolutionären Bewegung
sich so verwirklicht oder nicht.»98
Reaktionen auf die Bedrohungswahrnehmung
Zuckerbrot und Peitsche
Die Rede des Bundespräsidenten in der Landesstreikses-
sion zerel in zwei Hälften, die sich inhaltlich und in der
Wortwahl deutlich voneinander unterschieden. Im ersten
Teil sagte Calonder den «revolutionären, zum Teil ausge-
sprochen anarchistischen Wühlereien» durch «skrupellose
Hetzer und namentlich Vertreter des bolschewistischen
Terrors» unmissverständlich den Kampf an. Im zweiten
Teil dagegen stellte er eine Regierungsbeteiligung der So-
zialdemokraten sowie die rasche Neuwahl des National-
rats nach dem Proporz in Aussicht, ebenso sozialpolitische
Reformen wie die «lebhaft befürwortete» Alters- und In-
validenversicherung und reichte der «sozialdemokrati-
schen Partei und deren Führern in eidgenössischer Treue
die Hand zu gemeinsamer Arbeit für die Wohlfahrt des
ganzen Volkes».99 Diejenigen Landesstreikforderungen,
auf die Calonder positiv reagierte, waren keineswegs
aus heiterem Himmel gefallen, sondern hatten wie die
48-Stundenwoche und die – von Teilen der bürgerlichen
Parteien ebenfalls geforderte – Altersversicherung seit den
1880er Jahren auf der Agenda der Arbeiterbewegung ge-
standen. Am 6. November 1918, noch bevor das unmit-
telbar in den Landesstreik führende Truppenaufgebot be-
kannt wurde, hatte das OAK beschlossen, als Grundlage
seiner weiteren Tätigkeit ein Forderungsprogramm «für
die nächste Zukunft» aufzustellen: «Neuwahl des Natio-
nalrates, Frauenstimmrecht, Arbeitspicht, Verkürzung
der Arbeitszeit und anderes mehr».100
Nach dem Landesstreik entfaltete sich eine parteiüber-
greifende sozialpolitische Aufbruchsstimmung. Dem
«Schweizerischen Bund für Reformen der Übergangszeit»,
der diesen Schwung zu befördern versuchte, gehörten
nicht nur Politiker, Wissenschaftler, Industrielle, Pfarrer,
Gewerkschafter und Bauernvertreter an, sondern auch
Oziere wie Emil Sonderegger und Eduard Wildbolz.
In der Folge befassten sich Bundesrat und Parlament mit
einer ganzen Reihe von sozialpolitischen Vorstössen aus
verschiedenen politischen Lagern. Ende September 1919
104
verkündete der Zentralvorstand der Freisinnig-Demokra-
tischen Partei in einem Wahlaufruf, die Partei erstrebe
«den Ausbau des Staates zum Sozialstaat» unter «weitge-
hender Berücksichtigung der Interessen der Arbeiter und
Angestellten». Ihr Programm ging teilweise sogar über die
Landesstreikforderungen hinaus und umfasste neben der
48-Stundenwoche, der Alters-, Invaliden- und Hinter-
lassenenversicherung und «besonderer Heranziehung der
leistungsfähigen Kreise und der besitzenden Klassen» zur
Deckung der Staatsschulden und Finanzierung der Sozi-
alpolitik etwa auch eine Arbeitslosenversicherung und die
Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse durch Arbeiter-
und Angestelltenkommissionen.101 Der Reformeifer war
wesentlich getrieben von Revolutionsfurcht angesichts
der Streikwelle und dem jederzeit für möglich gehaltenen
Auackern sozialer Unruhen. Volkswirtschaftsminister
Edmund Schulthess mahnte am 23. Februar 1919 in ei-
nem Brief an Arbeitgeberpräsident Gustave Naville eine
rasche Verwirklichung der 48-Stundenwoche an: «Wenn
wir nicht in kürzester Zeit irgendeine positive Konzessi-
on erreichen, so werden wir die schwierigste Erfahrung
machen. [...] Die Massen sind erregt, viele sind arbeitslos
und ein Generalstreik fände unter solchen Verhältnissen
viel besseren Boden als zu anderen Zeiten.»102 Im Som-
mer 1919 verkürzte eine Revision des Fabrikgesetzes die
zulässige Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden. Schon im
Januar 1919 setzte der Bundesrat eine Kommission zur
Beratung einer AHV ein und legte im Juni 1919 eine Bot-
schaft vor. 1925 hiess der Souverän den entsprechenden
Verfassungsartikel mit Zweidrittelmehrheit gut. Die erste
Gesetzesvorlage, die manchen zu weit, manchen zu wenig
weit ging, nahm 1931 die Hürde des Referendums aber
nicht, erst beim zweiten Anlauf 16 Jahre später stimmten
rund 80% zu.
Anfang der 20er Jahre aute der Reformeifer ab. Wa-
ren zur raschen Umsetzung des wenige Wochen vor dem
Landesstreik gegen den Willen von Bundesrat und Parla-
ment beschlossenen Proporzwahlrechts die Nationalrats-
wahlen um ein Jahr vorverlegt worden, so verblieb eine
weitere Landesstreikforderung, das Frauenstimmrecht,
für Jahrzehnte in der Pipeline. 1919 bis 1921 lehnten
die Stimmberechtigten in sechs Kantonen – auch in den
Arbeiterquartieren – das kantonale Frauenstimmrecht ab
und zwei 1919 an den Bundesrat überwiesene Postulate
wurden jahrzehntelang nicht behandelt. Auch eine vom
Zürcher Kantonsrat in seiner Landesstreikdebatte ange-
stossene Diskussion über die Beteiligung der Arbeiter an
Geschäftsleitung und Gewinn der Unternehmen versan-
dete in den frühen 20ern. Die von den Sozialdemokraten
entsprechend der 9. Landesstreikforderung lancierte Ini-
tiative für eine einmalige Vermögensabgabe wurde 1922
nach einem heftigen Abstimmungskampf mit 87% Nein
bachab geschickt. Bestrebungen, in der Arbeitszeitfra-
ge das Rad wieder zurückzudrehen, scheiterten indessen
1924 ebenfalls an der Urne.
Markierte in der Schweiz das Kriegsende den Beginn
einer kurzlebigen Reformwelle, so el es in den USA zu-
sammen mit dem Ende der «Progressiven Ära». Seit der
Jahrhundertwende hatte das in beiden grossen Parteien
einussreiche «Progressive Movement» eine Vielzahl von
Reformen initiiert. Dazu gehörten Massnahmen gegen
Korruption und politischen Klientelismus, für den Schutz
der Wälder und Naturreichtümer, die Direktwahl der
Senatoren (1913), die Einführung einer Bundeseinkom-
menssteuer und Senkung von Schutzzöllen (1913), die
Schaung des «Federal Reserve System» (1913) sowie Ge-
setze gegen Kartelle und Monopole (1890, 1914). Nach
intensivem Druck der Frauenstimmrechtsbewegung wur-
de 1920 in die US-Verfassung ein Verbot der Geschlech-
terdiskriminierung beim Wahlrecht aufgenommen. Die
Reformbewegung erfasste in einigen Punkten auch den
Bereich der Arbeitsbeziehungen. Der «Clayton Antitrust
Act» von 1914 erhielt eine «Labor clause», die die bisher
übliche Anwendung des Antikartellrechts gegen die Ge-
Schweizer-Rubel und die Troika Grimm-
Platten-Schmid als Schreckbilder im
Abstimmungskampf gegen die
einmalige Vermögensabgabe von 1922
(Schweizerisches Sozialarchiv
F Oc-0001-040).
105
werkschaften unterbinden wollte und Streik, Boykott und
Kollektivverhandlungen ausdrücklich vom Kartellverbot
ausnahm. 1916 führte ein Bundesgesetz den Achtstun-
dentag für die Arbeiter staatenübergreifender Eisenbahn-
linien ein. Im April 1918 setzte Wilson einen «National
War Labor Board» ein, der paritätisch aus Arbeitgeber-
und Gewerkschaftsvertretern bestand und bis zu seiner
Auösung im Mai 1919 in über 1’200 Arbeitskonikten
vermittelte.
Mit dem Ende der Amtszeit Wilsons begann 1921 eine
Periode, die Hans R. Guggisberg in seinem Standardwerk
zur amerikanischen Geschichte als «Jahre der Reaktion»
charakterisiert hat.103 Die Präsidentschaft Warren G. Har-
dings (1921–1923) war gekennzeichnet durch Korrupti-
onsfälle und Skandale, unter seinem Nachfolger Calvin
Coolidge (1923–1929), der als Gouverneur von Massa-
chusetts im Bostoner Polizistenstreik 1919 als Hardliner
Bekanntheit erlangt hatte, wurde ein grosser Teil der So-
zialgesetze rückgängig gemacht und das Antikartellrecht
neuerdings einseitig gegen die Gewerkschaften angewen-
det. Regelungen zu Arbeitszeiten, Minimallöhnen und
Koalitionsfreiheit sowie die Einführung einer Alters-, In-
validen- und Arbeitslosenversicherung erfolgten erst im
Zuge des «New Deal» während der Wirtschaftskrise der
30er Jahre.
Gesellschaftliche Reformen als demokratische Alterna-
tive zur befürchteten revolutionären Umwälzung waren
nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen gab es
in beiden Ländern Bestrebungen, Opposition und Protest
mit gerichtlichen Mitteln zu unterbinden. Wie beim re-
formistischen «Zuckerbrot» zeigen sich auch bei der straf-
rechtlichen «Peitsche» deutliche Unterschiede zwischen
der Schweiz und den USA. Ein Kennzeichen der Rechts-
entwicklung in der Schweiz unter dem Kriegsvollmach-
tenregime war die Verschiebung der Grenzen zwischen
ziviler und militärischer Gerichtsbarkeit zugunsten der
letzteren, während in den USA neue Straftatbestände ge-
schaen wurden, deren Ahndung bei der zivilen Gerichts-
barkeit verblieb.
Unter die Schweizer Militärjustiz elen während der
Kriegsjahre beispielsweise 31 Verurteilungen wegen po-
litisch motivierter Dienstverweigerung, von denen über
zwei Drittel auf das Krisenjahr 1917 entelen.104 Mehrere
Verweigerer wurden zudem vom Studium an Universität
und Polytechnikum Zürich ausgeschlossen. Max Daetwy-
ler, später als «Friedensapostel» berühmt, verweigerte den
Dienst bereits bei der Mobilmachung und wurde dar-
aufhin psychiatrisiert und aus der Armee ausgeschlossen.
Nach seiner Verhaftung bei den Zürcher Novemberunru-
hen 1917 erfolgte eine erneute Einweisung in die Psychi-
atrie. Im selben Jahr wurden Ernest Paul Graber und Jules
Humbert-Droz wegen antimilitaristischer Artikel zu acht
Tagen bzw. drei Monaten Gefängnis verurteilt. Weitere
Prominente mit Gefängniserfahrung waren Willi Mün-
zenberg, der Sekretär der sozialistischen Jugendinterna-
tionale, der nach seiner Verhaftung im November 1917
bis zu seiner Ausweisung im November 1918 fast unun-
terbrochen inhaftiert war, und der Altkommunist Jakob
Herzog, der aufgrund seiner Aktivitäten (u. a. Aufrufen
zur Meuterei) während und nach dem Krieg wiederholt
in Haft sass. Am 1. März 1918 verbot der Bundesrat auch
das Erscheinen von drei linksradikalen Zeitschriften, an
denen Münzenberg und Herzog mitwirkten. Hingegen
gab die Landesregierung während des Landesstreiks Vor-
stössen des Generals für die sofortige Verhaftung Grimms
und der übrigen OAK-Mitglieder nicht statt.105
Auch die Landesstreikprozesse spielten sich hauptsäch-
lich vor Militärgerichten ab. Beim Hauptprozess erklärte
sich das Divisionsgericht 3 im Januar 1919 für nicht zu-
ständig, musste im März/April auf Anweisung der über-
geordneten Instanzen den Prozess dann aber doch durch-
führen. Gegenstand war nicht der Streik selber, sondern
Aufrufe in seinem Vorfeld. Auf dieser Basis wurden die
OAK-Mitglieder Robert Grimm, Fritz Platten und Fried-
rich Schneider zu je 6 Monaten (der Mindeststrafe für den
Tatbestand der «Meuterei») und der Zürcher Redaktor
Ernst Nobs zu 4 Wochen Gefängnis verurteilt. Alle ande-
ren Angeklagten wurden freigesprochen. Das Gericht wi-
derstand damit Forderungen nach einer exemplarisch har-
ten Bestrafung der Streikführer. Die Eisenbahnerprozesse
landeten ebenfalls vor Militärgerichten. Grundlage war
die sogenannte Landesstreikverordnung, die bereits im
September/Oktober 1918 ausgearbeitet und am 11. No-
vember in Kraft gesetzt worden war.106 Sie unterstellte
die Angestellten öentlicher Infrastrukturbetriebe dem
Militärstrafrecht und verbot ihnen eine Streikteilnahme.
Wenige Tage nach dem Streik erfolgten die ersten Verhaf-
tungen; insgesamt wurden 3’507 Personen vernommen.
Im Zuge einer gewissen Beruhigung der Lage wurden
1919 die meisten Verfahren eingestellt; insgesamt erfolg-
ten 135 Verurteilungen. Wenig bekannt ist über weitere
Landesstreikprozesse. Max Rüdt etwa wurde 1919 für sei-
ne Rolle als Leiter des Grenchner Streikkomitees zweimal
verurteilt, im März vom Amtsgericht Solothurn zu vier
Wochen Haft und im November vom Territorialgericht 4
zu vier Monaten Haft und zwei Jahren Einstellung des
Aktivbürgerrechts. Auch beantragte der Grenchner Ge-
meinderat dem Kantonsrat, Rüdt aus allen öentlichen
Ämtern abzuberufen. Weiters erfolgten 46 Verurteilungen
wegen Verweigerung des Ordnungsdienstes.
Es gab auch Bestrebungen, die einschlägigen strafrecht-
lichen Bestimmungen zu verschärfen. Am 25. November
106
1918 beschloss die Landesstreik-Kommission des Bundes-
rates Pläne für ein hartes Vorgehen bei einem eventuel-
len weiteren Generalstreik. So sollten sofort Streikleitung
und Streikposten verhaftet, sozialistische Druckereien ge-
schlossen, Versammlungen verboten und zum Streik auf-
rufende Druckschriften beschlagnahmt werden. Hinter-
grund war die anhaltende Revolutionsfurcht. Neben den
russischen Bolschewisten wurde insbesondere ein kom-
munistischer Umsturz in Deutschland mit Auswirkungen
auf die Schweiz gefürchtet. Ob bei einer Revolution in der
Schweiz «wieder der Weg des Generalstreiks eingeschla-
gen» werden oder «Einzelaktionen anarchistischer Art»
den Auftakt geben würden, liess die Kommission oen.
Neben der Sozialdemokratischen Partei gebe es «auch ge-
heime und unabhängige Organisationen»: «Sie arbeiten
im Geheimen und scheuen das Tageslicht. Sie sind zur
Anwendung jedes Gewaltmittels bereit. Diesen Leuten
beizukommen, ist viel schwieriger als die Abwehr eines
Generalstreiks.»107
Die direkte Demokratie setzte Bestrebungen, im Zei-
chen des «Red Scare» die Freiheitsrechte zu beschneiden,
indessen enge Grenzen. Im Kanton Zürich hatten die
Stimmberechtigten 1908 die im Nachgang der Streikun-
ruhen von 1906 lancierte «Streikinitiative», die verschie-
dene streikrelevante Punkte des kantonalen Strafgesetz-
buches verschärfte, mit 59,3% Jastimmen angenommen.
Eine nach dem lokalen Generalstreik von 1912 gestartete
zweite Streikinitiative, die das Strafrecht weiter verschärfen
wollte, gelangte erst am 22. September 1918, also zu ei-
ner sehr streikintensiven Zeit, zur Abstimmung und wur-
de mit 62,8% Neinstimmen abgelehnt. Auf Bundesebe-
ne schickten die Stimmbürger im September 1922 nach
einem stark polarisierten Abstimmungskampf die «Lex
Häberlin» mit 55,4% Neinstimmen bachab. Die Vorlage,
gegen welche die Arbeiterorganisationen das Referendum
ergrien hatten, wollte verschiedene Straftatbestände im
Bereich von «Verbrechen gegen die verfassungsmässige
Ordnung und innere Sicherheit» verschärfen und enthielt
auch Punkte, die sich gegen antimilitaristische Propagan-
da richteten. Im Februar 1923 erlitt dann die von der
Zürcher Bürgerwehr-Bewegung 1919 lancierte und von
Bundesrat und Parlament abgelehnte «Schutzhaftinitiati-
ve», die die präventive Inhaftierung von Schweizerbürgern
verlangte, welche die innere Sicherheit gefährdeten, mit
89% Neinstimmen Schibruch.
In den USA wurden dagegen nach dem Kriegseintritt
Rechtsgrundlagen geschaen, auf deren Basis nicht nur
Umtriebe aus den Feindstaaten, sondern auch sozialisti-
sche und pazistische Opposition bekämpft werden konn-
te. Der «Espionage Act» vom Juni 1917 und der «Sedition
Act» vom Mai 1918 schränkten die Meinungsäusserungs-
freiheit erheblich ein über das Kriegsende hinaus. Das
Spionagegesetz machte es unter anderem zum Verbrechen,
sich in Wort oder Schrift abfällig über die Regierung zu
äussern. Im Unterschied zu den Schweizer Richtern spra-
chen amerikanische Gerichte in zahlreichen Fällen drako-
nische Strafen aus. Im Verlauf des Krieges wurden über
2’000 Personen gemäss den Bestimmungen des Spiona-
gegesetzes angeklagt und etwa Hundert zu langjährigen
Haftstrafen verurteilt. Der Oberste Gerichtshof stellte
fest, dass in einer Zeit von «clear and present danger» das
verfassungsmässig verankerte Grundrecht der Meinungsä-
usserungsfreiheit eingeschränkt werden dürfe.
Nach einigen Streiks in kriegswichtigen Industri-
en geriet die IWW in Verdacht, im Sold der Deutschen
zu stehen. Am 5. September 1917 wurden 48 IWW-
Geschäftsstellen im ganzen Land durchsucht und fünf
Tonnen Schriftstücke beschlagnahmt. Bereits drei Wo-
chen darauf wurden 165 IWW-Führer der Sabotage und
Verschwörung angeklagt. Der Prozess dauerte von April
bis Juni 1918. Zur antideutschen Hysterie zu Beginn des
Verfahrens hatte sich nach der Oktoberrevolution die Bol-
schewistenfurcht gesellt. Das Gericht sprach 15 Strafen
von 20 Jahren, 33 von 10 Jahren, 35 von fünf Jahren und
etwa zwei Dutzend kürzere Haftstrafen sowie Bussen in
der Höhe von 2,5 Millionen Dollar aus. Zur selben Zeit
verurteilte nach einem Bombenanschlag auf das Haus des
Gouverneurs von Kalifornien ein Gericht in Sacramento
46 IWW-Mitglieder zu Strafen zwischen einem und zehn
Jahren. Im Dezember 1918 wurden 34 IWW-Mitglieder,
die bereits im Januar 1917 bei einem Streik verhaftet wor-
den waren, nach fast zwei Jahren Untersuchungshaft in
Kansas vor Gericht gestellt. 27 von ihnen erhielten Ge-
fängnisstrafen zwischen einem und neun Jahren.
Auch die Socialist Party, die gegen den Kriegseintritt
Stellung bezogen hatte und 1918 75’000 Mitglieder, ei-
nen Kongressabgeordneten, 79 Bürgermeister und 32 Ab-
geordnete in den Bundesstaaten zählte, kam unter Druck.
Verschiedene ihrer Zeitschriften wurden verboten. Anfang
1918 geriet Victor Louis Berger, der 1910 als erster Sozia-
list ins Repräsentantenhaus gewählt worden war, ins Visier
der Justiz. Wegen seines deutschen Namens – er entstamm-
te einer österreichisch-jüdischen Familie erschien seine
pazistische Haltung besonders suspekt. Im Februar 1919
wurde er wegen Verstosses gegen den «Espionage Act» zu
20 Jahren Haft verurteilt. Der Oberste Gerichtshof hob
diese Strafe 1921 wegen eines Verfahrensfehlers auf. Das
Repräsentantenhaus verweigerte Berger aber, nachdem er
1918 und 1919 zweimal seinen Wahlkreis in Milwaukee
gewonnen hatte, die Einsitznahme; erst 1922 konnte er
seinen Sitz wieder einnehmen. Auch Eugene Debs, vor
dem Krieg dreimal sozialistischer Präsidentschaftskandi-
107
dat und 1912 auf 6% der Stimmen gekommen, geriet in
die Mühlen der Justiz. Wegen einer Rede gegen die Rek-
rutierungen im Juni 1918 wurde er zu 10 Jahren Gefäng-
nis verurteilt. Nach seinem Haftantritt gab es am 1. Mai
1919 in Cleveland eine grosse Protestdemonstration, die
in Zusammenstösse mit rechten Aktivisten und der Poli-
zei mündete, denen zwei Personen zum Opfer elen. Im
November 1920 kandidierte Debs aus dem Gefängnis er-
neut für das Präsidentenamt und kam mit über 900’000
Stimmen auf den dritten Platz. Im Dezember 1921 wur-
de er wegen Krankheit vorzeitig entlassen.108 Charles T.
Schenck, Generalsekretär der Socialist Party, erhielt 1919
wegen eines Flugblatts gegen die Rekrutierungen 6 Mona-
te Gefängnis. Und 1920 wurden den fünf sozialistischen
Mitgliedern der «New York State Assembly» ihre Mandate
entzogen und auch nach ihrer Wiederwahl die Einnahme
ihrer Sitze verweigert.
Während der Amtszeit des «Attorney General» Palmer
von 1919 bis 1921 verschärfte sich die Repression mit
zahlreichen Aktionen gegen Streikende, Gewerkschafts-
führer sowie Ausländer, denen anarchistische und bolsche-
wistische Umtriebe vorgeworfen wurden. Diese «Palmer
Raids» werden in der Forschung mit dem McCarthyismus
des frühen Kalten Krieges verglichen. Ein erster Schlag
erfolgte in der Nacht zum 7. November 1919, dem zwei-
ten Jahrestag der Oktoberrevolution, mit Razzien in 20
Städten und Hunderten von Verhaftungen. In der Nacht
zum 2. Januar 1920 folgten Razzien in 35 Städten mit
4’000 Festnahmen. Insgesamt wurden im Januar 1920
6’000 Personen verhaftet, die meisten davon Mitglieder
der IWW. Total ermittelten Palmer und seine Mitarbei-
ter gegen 150’000 Personen, von denen etwa 10’000 ver-
haftet wurden. Erst das Ausbleiben der für 1. Mai 1920
vorausgesagten Revolution führte zu einem Abauen der
Verfolgungswelle. Ende Mai publizierten zwölf prominen-
te Juristen die Broschüre Report upon Illegal Practices of the
United States Departement of Justice und im Kongress stiess
Palmer zunehmend auf Kritik.
Abschiebung und Fernhaltung von «Unerwünschten»
In beiden betrachteten Ländern eignete dem «Red Scare»
eine ausländerfeindliche Stossrichtung. Die Rede war
von fernzuhaltenden «indésirables» bzw. «undésirables».
Jean-Marie Musy brachte diese Vorstellung am 10. De-
zember 1918 im Nationalrat auf den Punkt: «Das Gift,
welches uns zu verschlingen beginnt, das Übel, das schon
so drohend geworden, [...] wurde unserem Volke einge-
impft durch die Aufrührer und Anarchisten, die aus dem
Auslande hereingekommen sind.»109 Ähnlich schrieb
Palmer im Februar 1920 unter Bezugnahme auf Trotzkis
amerikanisches Exil, die Oktoberrevolution sei das Werk
einer «small clique of outcasts from the East Side of New
York» gewesen. Nun befänden sich 60’000 Agitatoren der
«Trotsky doctrine» in den USA, aber die Regierung sei
«sweeping the nation clean of such alien lth».110
Die Vorstellung, soziale Unruhen seien das Werk ausländi-
scher Agenten, war nicht neu. In der Schweiz fand sie sich
seit den 1860er Jahren. Die Oktoberrevolution markierte
aber einen Einschnitt, der sich sofort in der Ausländerpo-
litik niederschlug. Nur fünf Tage nach dem Umsturz in
Petrograd fassten die Bundesbehörden Beschlüsse über die
Behandlung von Deserteuren und Refraktären, die nun zu
Arbeiten im öentlichen Interesse herangezogen werden
konnten und denen bei Beteiligung an «anarchistischen
Präsidentschaftskandidatur des Sozialisten Eugene Debs aus dem
Gefängnis: Karikatur von Cliord Berryman, 10.11.1920
(National Archives, 6011637).
Hauptquartier der «Industrial Workers of the World» in New York
nach einem polizeilichen «Raid» am 15.11.1919 (University of
Michigan, Special Collections Library, Labadie Collection).
108
oder antimilitaristischen Umtrieben» die Ausweisung
drohte.111 Wenige Tage später wurde auf eidgenössischer
Ebene eine – zunächst provisorische, im Mai 1919 verste-
tigte Fremdenpolizei geschaen, welche die Kontrolle,
polizeiliche und statistische Erfassung ein- und ausreisen-
der Ausländer gewährleisten sollte und eine klar antibol-
schewistische Stossrichtung hatte. Eine am 17. September
1918 eingereichte, von 284’545 Personen unterzeichnete
Petition forderte den Bundesrat auf, «gegen bedrohliche
Umtriebe von Ausländern» vorzugehen. Am 6. Novem-
ber beschloss der Bundesrat die Ausweisung der Sowjet-
mission. Der Beschluss wurde am 12. November, dem
ersten Tag des Landesstreiks, vollzogen, wodurch sich die
falsche Vorstellung von einem organisatorischen Zusam-
menhang zwischen Streikleitung und Sowjetmission ver-
stärkte. Acht Tage später mahnte das EPD zur Vorsicht bei
der Visaerteilung an Diplomaten aus den Nachfolgestaa-
ten der Habsburgermonarchie: «Déez-vous surtout des
Juifs, les expériences russes nous y engagent. De même des
femmes.»112 Auch wurden weitere des Bolschewismus ver-
dächtige Russen verhaftet. Im Februar 1919 erfolgte die
Abschiebung von 15 Männern und vier Frauen im ersten
«Russenzug». Im Verlauf des Jahres 1919 kamen drei wei-
tere «Russenzüge» hinzu.
Im Oktober 1919 hiess es in einem Lagebericht der
Nachrichtensektion des Generalstabs an die Bundesan-
waltschaft: «Es sind gegenwärtig hauptsächlich ausländi-
sche Elemente, denen die Ruhe in unserem Lande nicht
gefällt [...]. Es ist bedauerlich, dass es bis heute nicht ge-
lungen ist, sich des Chefs des Russischen Roten Kreuzes,
Herrn Bagotzky, zu entledigen, der [...] zweifellos zur
Gruppe der «indésirables» gehört. Er hat einen Anhang
von Juden um sich [...], die als notorische Bolschewisten
bekannt sind und mit denen mehr oder weniger anstän-
dige Russen nichts zu tun haben wollen. [...] Zweifellos
ist, dass die Judenfrage für unser Land an Bedeutung im-
mer zunimmt.»113 Einen Monat später warnte die Eidge-
nössische Fremdenpolizei nachdrücklich vor ostjüdischer
Einwanderung. In der Einleitung der bundesrätlichen
Stellungnahme zum im selben Monat erlassenen «Bun-
desratsbeschluss über Einreise, Aufenthalt, Niederlassung
und Ausweisung von Ausländern» warnte Hans Frey, Lei-
ter der Fremdenpolizei des Kantons Zürich, in einem mit
antiostjüdischen Stereotypen durchsetzten Text vor bol-
schewistischen Agitatoren.114
Vor diesem Hintergrund lancierte im Sommer 1919
ein Aargauer Komitee aus der Bürgerwehr-Bewegung die
erste «Ausländerinitiative». Die «Initiative betreend die
Erlangung des Schweizer Bürgerrechts und betreend die
Ausweisung von Ausländern» wollte das passive Wahlrecht
von Eingebürgerten einschränken und dem Bundesrat eine
Ausweisungspicht gegenüber Ausländern auferlegen, die
sich an verfassungswidrigen Umtrieben beteiligten oder
die «Interessen der schweizerischen Volkswirtschaft» ver-
letzten. Der zweite Teil war klar gegen die Linke gerichtet.
Der Bundesrat begrüsste das Begehren inhaltlich, empfahl
es aus formalen Gründen aber zur Ablehnung. In der Ab-
stimmung vom Juni 1922 verwarf das Stimmvolk das in
zwei Vorlagen aufgeteilte Begehren mit 84,1% (Bürger-
recht) bzw. 61,9% (Ausweisung) Neinstimmen.
Auch in den USA übertrug sich der «Red Scare» auf die
Ausländerpolitik. Die in den «Palmer Raids» verhafteten
Ausländer wurden in aller Regel ausgewiesen. Von den am
7. November 1919 festgenommenen Personen wurden
249 ohne Gerichtsurteil mit dem Kriegsschi USS Bu-
ford nach Russland deportiert. Im Juni 1920 verurteilte
ein Gericht in Massachusetts solche Praktiken scharf als
«hang rst and try afterwards»115 und ordnete die Freilas-
sung von 17 in Ausschaungshaft sitzenden Kommunis-
ten an. In der zweiten Jahreshälfte 1920 sowie 1921 wur-
den aber weitere knapp 600 Personen auf amerikanischen
Schien in ihre Heimatländer ausgeschat. In denselben
Kontext gehörte der aufsehenerregende Sacco-Vanzetti-
Prozess: Die beiden italienischen Anarchisten Ferdinando
Sacco und Bartolomeo Vanzetti wurden 1920 der Beteili-
gung an einem doppelten Raubmord angeklagt, 1921 in
einem sehr umstrittenen Prozess schuldig gesprochen und
1927 trotz massiver internationaler Proteste hingerichtet.
1977 sollten sie dann rehabilitiert werden.
Auch das Einwanderungsrecht entwickelte sich in die-
sem Geist weiter. Bereits der «Immigration Act» von 1903
hatte dem Katalog der «undesirables» vier neue Gruppen
hinzugefügt: Anarchisten, Epileptiker, Bettler und Zu-
hälter. Im Oktober 1918 wurden die Bestimmungen zur
Fernhaltung von Anarchisten dann im «Anarchist Exclu-
sion Act» verschärft. In der Folge ossen im «Emergency
Tritt für einen mit Bomben, Messer und Propagandamaterial
bewaneten Bolschewisten: Flugblatt der Sozialdemokratischen
Volkspartei zu den Zürcher Gemeindewahlen im Frühjahr 1919
(Schweizerisches Sozialarchiv KS 32/114a).
109
Quota Act» von 1921 und dem von Adolf Hitler in Mein
Kampf ausdrücklich gelobten116 «Immigration Act» von
1924 rassistisches und eugenisches Gedankengut mit eth-
nisierten Vorstellungen typischer Herkunftsregionen von
Revolutionären zusammen: Nebst Menschen mit Behin-
derungen, Afrikanern und Asiaten wurde auch die Zu-
wanderung aus Süd- und Osteuropa, besonders von Ita-
lienern, Slawen und Ostjuden, weitgehend unterbunden.
Vorbereitung auf den Bürgerkrieg?
Paramilitärische Gewalt zwischen rechten und linken
Gruppierungen brach, wir haben es bereits erwähnt, bei
Kriegsende in vielen Staaten aus und trug wesentlich zur
Aushöhlung des in der Umbruchszeit ohnehin sehr fra-
gilen staatlichen Gewaltmonopols bei. Die Folgen waren
Bürgerkriege, Diktaturen oder schwache Demokratien,
die dann durch die nächsten Erschütterungen zum Ein-
sturz gebracht werden sollten. Dieser Befund wirft die
Frage auf, inwiefern auch die Revolutionsfurcht in den
beiden hier im Zentrum stehenden Staaten Tendenzen zur
paramilitärischen Infragestellung des staatlichen Gewalt-
monopols beförderte. Für die Schweiz gilt es dabei ins-
besondere den Aufstieg der Bürgerwehren zu analysieren,
ein Phänomen, das René Zeller treend als «kalte[n] Krieg
der Bürger» bezeichnet hat.117
Die Bürgerwehr-Idee war nicht neu. Bereits 1868 be-
waneten sich bei einem Bauarbeiterstreik in Genf die
Meister mit Revolvern und Gewehren und boten die Bür-
germeister von Landgemeinden die mit Stöcken und Ga-
beln ausgerüstete männliche Bevölkerung auf. In Zürich
gab es 1871 während des Tonhallekrawalls eine kurzlebige
Stadtwehr. 1875 führte der Einsatz einer schlecht ausge-
bildeten Bürgerwehr unter Leitung des lokalen Landjägers
gegen streikende italienische Tunnelbauarbeiter in Gösche-
nen zu vier Toten. Bauern oder Metzgergesellen, die sich
im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert handfest gegen
Streikende wandten, wurden in der Presse als «freiwilli-
ge Wahrer der öentlichen Ordnung, Reservemänner der
Kantonspolizei»118 oder «Bürgerwehr im oenen Feld»119
gewürdigt. Diskussionen über die Institutionalisierung
von Bürgerwehren im Gefolge der Zürcher Streikunru-
hen 1905/06 führten aber zu keinem Ergebnis.120 An der
Jahresversammlung 1910 des Zentralverbandes Schwei-
zerischer Arbeitgeber-Organisationen berichtete Sekretär
Otto Steinmann in einem Referat über den schwedischen
Generalstreik des Vorjahres ausführlich über militärisch
organisierte Schutzkorps, die während des vierwöchigen
Konikts Bewachungsdienste und die Aufrechterhaltung
von Infrastrukturbetrieben übernommen hatten.121 Die
Mitglieder international agierender Streikbrecheragentu-
ren, so der revolverbewehrten Berliner «Hintze-Garde»,
passten jedoch nur bedingt zu diesem Modell. Ihre Ein-
sätze in der Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg – un-
ter anderem 1912 in Zürich, als die Erschiessung eines
Revolutionsgerüchte und Ausweisungen
als Schlagzeilen
(e Evening World, 8.11.1919).
Fernhaltung von «undesirables» durch Verschärfung des
Einwanderungsrechts (Literary Digest, 5.7.1919).
110
Streikpostens durch einen deutschen Berufsstreikbrecher
schliesslich zu einem lokalen Generalstreik führte – sties-
sen auch bei bürgerlichen Behördenmitgliedern auf Kri-
tik. Bei Kriegsausbruch forderte der Polizeidirektor des
Kantons Zürich angesichts des bedrohlich erscheinenden
Potenzials von Arbeitslosen und Exilanten die Gründung
von Bürgerwehren und drang damit in kleineren Gemein-
den, nicht aber in der Kantonshauptstadt durch.
Im letzten Kriegsjahr nahm dann die Bürgerwehr-Be-
wegung Fahrt auf. In ländlichen Gebieten gingen teilweise
bereits im Frühjahr 1918 improvisierte Bürgerwehren ge-
gen sozialistische Veranstaltungen vor.122 Am 3. Novem-
ber begann der Genfer Anwalt und spätere Nationalrat
der faschistischen «Union nationale» éodore Aubert
mit dem Aufbau der «Garde Civique». Am Abend des
11. Novembers trafen sich auf Anregung des Zentralko-
mitees des Schweizerischen Alpenclubs die Präsidenten
von Schützen-, Turn-, Oziers- und Unteroziersverei-
nen in Aarau, wo sich der Arzt, Ozier und nachmalige
Mitgründer der Aargauischen Bauern- und Bürgerpartei
Eugen Bircher an die Spitze der Bewegung stellte. Am
selben Tag wurden in Basel, Bern und Lugano Bürger-
wehren ins Leben gerufen, am nächsten Tag die Zürcher
Stadtwehr. EMD-Vorsteher Decoppet unterstützte am 13.
November in einem Telegramm die Bildung von Bürger-
wehren. In Genf, Basel und im Aargau kamen die von den
Arbeiterorganisationen als «Knüppelgarden»123 kritisier-
ten Bürgerwehren bereits während des Landesstreiks im
Kurierdienst, bei der Aufrechterhaltung des Trambetriebs
sowie zur Bewachung von Geschäften zum Einsatz.
In den folgenden Monaten entstanden in unzähligen
Gemeinden Bürgerwehren. Ihre rechtliche Stellung wurde
erstmals am 18. November an einer militärischen Landes-
streikkonferenz diskutiert. In den oberen Oziersrängen
waren die Meinungen geteilt. Eine positive Einstellung
zeigte Emil Sonderegger, der auch «Weisungen für mögli-
che Einsätze der Zürcher Bürgerwehren» verfasste. Ulrich
Wille dagegen schrieb am 20. November an Decoppet:
«Wenn dann die Bürgerwehr ihre Picht tut, so haben wir
den Bürgerkrieg, den Klassenkrieg im Lande.»124 eo-
phil von Sprecher fertigte in der Folge ein Gutachten an,
das zur Grundlage der Bürgerwehrorganisation wurde.
Die Bürgerwehren sollten nicht dem Bund, sondern Kan-
tonen und Gemeinden unterstellt sein, denen auch deren
rechtliche Regelung oblag. Die Kantone Luzern, Fribourg,
Aargau, Zürich, Tessin und Waadt wiesen in den folgen-
den Monaten den Bürgerwehren hilfspolizeiliche Funkti-
onen zu. In Basel beteiligte sich die Bürgerwehr aber im
Frühjahr 1919 auch an der Verteilung von Wahlpropa-
ganda der bürgerlichen Parteien und geriet wegen eines
antisemitischen Flugblatts in die Kritik125 und in Gren-
chen verübten Mitglieder der lokalen Bürgerwehr Messer-
attacken auf Arbeiter.126 Die berühmte «Volksgemeinde»
im Amphitheater Vindonissa am 24. November 1918, an
der Bircher den Landesstreik als «gewalttägigen Umsturz»
bezeichnete und «fremde dunkle Mächte» anprangerte,127
gab den Anstoss zur Gründung eines Dachverbandes, die
dann am 5. April 1919 in Gestalt des Schweizerischen Va-
terländischen Verbandes (SVV) unter dem Präsidium Bir-
chers erfolgte. Der Zweckartikel des Verbandes sah unter
anderem vor, «gegebenenfalls in der ganzen Schweiz oder
einem Teil derselben eine Gesamtaktion in die Wege» zu
leiten.128
Die Bürgerwehren hatten in der Folge eine staatspoli-
tisch problematische Zwitterposition zwischen staatlicher
Hilfsmiliz und ideologischem Paramilitär. Ihre Ausrüs-
tung stammte überwiegend aus den Arsenalen des Bun-
des. Bis 1923 erhielten die Bürgerwehren der Kantone
Zürich, Bern, Luzern, Schwyz, Fribourg, Solothurn und
Aargau vom Bund 5’000 Gewehre, 50 Revolver, 800’000
Gewehrpatronen, 30’000 Pistolenpatronen und 19’000
Revolverpatronen. Die Bürgerwehr Aargau, die 1920 über
14’000 Mitglieder zählte, besass aber auch vier Maschi-
nengewehre, die wahrscheinlich aus Deutschland stamm-
Aufruf zur Gründung der Zürcher Stadtwehr
(Schweizerisches Sozialarchiv KS 331/260-Z3).
111
ten.129 Waen- und Munitionsdepots befanden sich im
ganzen Land verstreut. Der Zürcher Regierungsrat regte
im Juli 1919 an, die Munition der Stadtwehr zwecks Ent-
lastung der Polizei- und Militärkaserne in privaten Depots
zu lagern – allerdings nur rechts der Limmat, also in siche-
rer Entfernung von den Arbeiterquartieren.130 Auch im
Physikgebäude der Universität Zürich gab es ein Material-
lager der Stadtwehr. Ausserdem gewährte ihr das Rektorat
im Hauptgebäude ein Zimmer mit Telefonanschluss als
Hauptquartier einer Infanterieabteilung.131 Für Aufse-
hen und ein parlamentarisches Nachspiel sorgte 1923 die
Entdeckung eines Bürgerwehr-Waenlagers im obersten
Stockwerk des Postgebäudes Olten, das unter anderem
Handgranaten, Maschinengewehre und Infanteriemuni-
tion umfasste.132
Die Finanzierung der Bürgerwehren erfolgte haupt-
sächlich aus privaten Mitteln. Der Vorstand der Natio-
nalbank beschloss am 6. Dezember 1918 einen Zuschuss
von 50’000 Franken, nachdem die Grossbanken bereits
Gelder für die Wehren in Zürich (31’500 Fr.) und Ba-
sel (20’000 Fr.) gesprochen hatten. Mitte Februar 1919
verfügte die Zürcher Stadtwehr, die auf mehrere Tausend
Mitglieder angewachsen war, über Mittel in der Höhe von
400’000 Fr. Im Jahre 1919 standen den fünf grössten Bür-
gerwehren total 2,5 Millionen Franken zur Verfügung, die
vor allem von Banken, Versicherungen und Industrie ka-
men.133 Der SVV propagierte Spenden aus der Wirtschaft
als «Versicherungsbeiträge».134 Die Zürcher Stadtwehr er-
hielt für den Einsatz im lokalen Generalstreik 1919 aber
nach langem Hin und Her auch eine Entschädigung von
10’000 Franken vom Kanton.135
Der Einsatz in den Generalstreiks von Basel und Zürich
1919 war der einzige grössere Auftritt der Bürgerwehren,
die bewanete Patrouillen- und Bewachungsaufgaben,
Dienste im Beobachtungs- und Meldewesen, bei der In-
ltration von Streikversammlungen und der Strassenreini-
gung übernahmen. In den frühen 20er Jahren gingen die
Mitgliederzahlen rasant zurück; viele Einheiten bestanden
nur noch auf dem Papier. Viele ursprüngliche Mitglieder,
wie etwa der im Frühling 1919 in die Luzerner Bürgerwehr
eingetretene Schriftsteller und nachmalige Nobelpreisträ-
ger Carl Spitteler, fühlten sich vom starken Rechtsdrall ab-
gestossen und zogen sich rasch wieder zurück. Im Umfeld
der Bürgerwehren konstituierte sich 1922, kurz nach der
Machtübernahme Mussolinis, mit der «Ligue Nationale
Suisse» in der Waadt die erste frontistische Organisation
der Schweiz. Der SVV verlagerte seine Tätigkeiten in der
Folge auf andere Gebiete, zunächst den «Werkdienst» zur
Aufrechterhaltung von Infrastrukturleistungen im Streik-
fall, dann den Nachrichtendienst in linken Organisatio-
nen sowie rechtsbürgerliches Lobbying in Parlamenten
und Behörden.
Bürgerwehren und SVV suchten rasch die internati-
onale Vernetzung. Bircher unternahm Ende 1919 eine
Deutschlandreise zum Studium der dortigen Einwohner-
wehren.136 Dabei tauschte er sich mit Waldemar Pabst
und Erich Ludendor aus. Ersterer war im Januar 1919 als
Freikorpsozier wesentlich an der Ermordung von Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht beteiligt gewesen, hat-
te im Juli gleichen Jahres einen Putsch vorbereitet, spielte
dann im März 1920 eine wichtige Rolle beim Kapp-Lütt-
witz-Putsch und wurde in der Folge Stabschef der Heim-
wehr in Österreich. Letzterer hatte seit dem Ausscheiden
aus der Heeresleitung Ende Oktober 1918 massgebend an
der Verbreitung der Dolchstosslegende mitgewirkt, der
gemäss die Niederlage Deutschlands nicht von der mili-
tärischen Führung, sondern von Demokraten, Sozialisten
und Juden zu verantworten sei, beteiligte sich dann am
Kapp-Lüttwitz-Putsch und stand im November 1923 im
Hitler-Ludendor-Putsch mit an der Spitze eines erneu-
ten Staatsstreichversuchs gegen die Weimarer Demokratie.
Nach seiner Rückkehr schrieb Bircher am 14. Janu-
ar 1920 in einem Bericht an den SVV-Vorstand, für das
Frühjahr sei ein Vorstoss der «momentan auf allen Fron-
ten siegreichen Soviet-Armeen» zu erwarten: «Die ganze
Schweizer Soldat gegen jüdischen Weltrevolutionär:
Antisemitisches Flugblatt des «Nationalen Blocks» für die
Regierungsratswahlen in Basel-Stadt vom Februar 1919
(Staatsarchiv Basel-Stadt, Politisches JJ.9-6).
112
europäische Kultur steht vor dem Zusammenbrechen, die
bolschewistische Gefahr ist bald in unmittelbare Nähe ge-
rückt.»137 In der Folge publizierte er die Broschüre Mili-
tärische Erfahrungen aus den Kämpfen zur Unterdrückung
innerer Unruhen in Deutschland, die eine detaillierte An-
leitung zum militärischen Vorgehen bei Unruhen enthielt
und die er im März auch dem EMD zukommen liess.
Die Schrift hatte grossen Einuss auf eine vom EMD im
April 1920 erlassene Instruktion für Ordnungstruppen
(«Scheurer-Erlass»), die bei Aufruhr präventive Verhaftun-
gen, Unterbrechung des Telefonverkehrs und ausgiebigen
Einsatz von Maschinengewehren, Kavallerie und Artillerie
vorsah.138 Deren Bekanntwerden führte zu einer Empö-
rungswelle in der sozialdemokratischen Presse und einer
Interpellation Grimms.139 Im Juni 1920 verbreitete die
SP unter dem Titel Die Vorbereitung zum Arbeitermord ein
Flugblatt, das den Erlass als «Dokument der Schande» und
Vorbereitung für den «weissen Terror» skandalisierte.140
Am 16. April 1920, einen Monat nach dem Kapp-Lütt-
witz-Putsch, sandte Bircher im Namen des SVV ein alar-
mistisches Exposé an den Bundesrat. In Deutschland sei
«die Gefahr eines vollkommenen Zusammenbruches und
der Errichtung der Räterepublik in unmittelbare Nähe
gerückt», was auch Konsequenzen für die Schweiz habe:
«Überall sind die Gegner unseres Staates eifriger denn je
an der Minierarbeit. Wir haben alle sichern Beweise, dass
bei einem nächstmaligen Putsch in Form eines General-
streikes weite Teile des Post- und Telegraphenpersonals
mitmachen werden. Sichere Anhaltspunkte sind vorhan-
den, dass fast täglich Handwaen und Munition in die
Schweiz eingeschmuggelt werden. Ein reger Gedanken-
austausch mit ausländischen Bolschewisten ndet statt.»
Es könne «nur eine internationale Abwehr» noch helfen,
bei der Bircher die Zusammenarbeit der Schweiz und an-
derer bislang neutraler Staaten mit den USA, Grossbritan-
nien, Italien und Frankreich in den Raum stellte.141 Im
November 1920 organisierte der SVV einen internationa-
len Bürgerwehr-Kongress in Luzern, an dem sich indessen
Spannungen zwischen deutschen und französischen Orga-
nisationen manifestierten. Der SVV wurde auch Teil der
«Werkdienst-Internationale», die von der aus den deut-
schen Freikorps erwachsenen «Technischen Nothilfe» ins
Leben gerufen worden war und sich von 1921 bis 1931
zu jährlichen Konferenzen traf. éodore Aubert, SVV-
Sekretär für die Romandie, initiierte 1924 die «Entente
Internationale Anticommuniste», die Ableger in 20 Län-
dern erhielt und bis 1950 existierte.
In konzeptioneller Analogie zur Kriegführung des Ers-
ten Weltkriegs, der nebst dem militärischen und propa-
gandistischen wesentlich ein Wirtschaftskrieg war, gab es
Überlegungen, in internen Konikten nebst den Bürger-
wehren auch die Lebensmittelversorgung als Machtmit-
tel zu verwenden. Solche Ideen waren insbesondere in
der landwirtschaftlichen Funktionärselite populär. Am
10. August 1918 beschloss eine gemeinsame Konferenz
der Vorstände des Schweizerischen Bauernverbandes, der
Zürcher Bauernpartei und des Zentralverbandes schwei-
zerischer Milchproduzenten eine Proklamation, in der es
hiess: «Wird dem Schweizervolke früher oder später mit
einem Generalstreik der Kampf angesagt, so werden wir
jede Behörde rückhaltlos unterstützen, welche das Miss-
lingen und den Zusammenbruch des Streiks mit Kraft
und Energie vercht. [...] Städte und Ortschaften, in de-
nen ein wesentlicher Teil der Arbeiterschaft [...] streikt,
können nicht erwarten, dass die [...] Zufuhr von Lebens-
mitteln von der Bauernsame geliefert werden wird.»142
Zwei Wochen darauf regte Ernst Laur, in Personalunion
Direktor des Bauernverbandes, schweizerischer Bauernse-
Basler Bürgerwehr bei Aufräumarbeiten
nach dem lokalen Generalstreik 1919
(Staatsarchiv Basel-Stadt, Bild 13-9).
113
kretär und Agronomie-Professor am Polytechnikum Zü-
rich, in einem Brief an Sprecher militärische Massnahmen
für den Fall eines Generalstreiks an, lehnte aber die Schaf-
fung von womöglich aufreizend wirkenden Bürgerwehren
noch ab.143
Am 11. November 1918 rief der Bauernverband dazu
auf, einstweilen von Lebensmittelsperren abzusehen144
– dieser Anordnung wurde nicht überall Folge geleis-
tet. Der urgauer Regierungsrat erliess ein Verbot der
Milchausfuhr in den Kanton Zürich, das erst nach Inter-
vention des Bundesrates rückgängig gemacht wurde.145
Wenige Tage später unterbreitete Laur dem Bundesrat
Vorschläge zur Verhinderung eines abermaligen Landes-
streiks, unter anderem eine «besondere Strafgesetzgebung
für Vorbereitung von Generalstreiks» und ein «Gesetz für
die Organisation von Hülfsdiensten, Bürgerwehren und
dergleichen».146 Rudolf Mingers Berner Bauernpartei be-
schloss am 26. November die Bildung, Organisation und
Bewanung von Bürgerwehren auf dem Land sowie eine
Regelung der Lebensmittelversorgung im Streikfall.147
Ungefähr zur selben Zeit sah ein geheimes Programm
«Massnahmen gegen den Generalstreik» des Bauernver-
bandes die Kontrolle der Lebensmittelverteilung durch
Bürgerwehren vor.148 Während der lokalen General-
streiks 1919 warnte der Bauernverband in einem Aufruf
vor einem «neuen Versuch, die Revolution in der Schweiz
vorzubereiten und anzufachen, um [...] den Bolschewis-
mus einzuführen». Als Gegenmassnahme erging folgende
Order zur organisierten bäuerlichen Streikabwehr: «Für
den Fall, dass der örtliche Generalstreik zum allgemeinen
Landesstreik auswächst, gelten die frühern, den Sektio-
nen, den Milchverbänden und den kantonalen Vereinen
gegebenen Instruktionen. Die kantonalen Ausschüsse sind
sofort zu bestellen und einzuberufen. Die Zentralleitung
der Bauernsame hat Sitz in Bern. Einstweilen sollen die an
der Lebensmittelzufuhr nach den Streikstädten beteiligten
Sektionen nach ihrem Gutdünken handeln.»149 Birchers
Broschüre zur Aufstandsbekämpfung propagierte dann
die «Unterbindung der Zufuhr von Lebensmitteln [...],
deren Abgabe nur an arbeitende Elemente und zuverläs-
sige Lokale geschieht».150
Der Bedeutungsverlust der Bürgerwehren in den 20er
Jahren war wesentlich dadurch bedingt, dass die «Ge-
genseite» es unterliess, gleichermassen aufzurüsten. Der
Diebstahl von elektrischen Zündern und Sprengpatronen
im Wert von 170 Franken aus dem Zeughaus Brugg ist
vermutlich im Zusammenhang mit Bestrebungen von
Splittergruppen zur Bewanung der Arbeiterschaft zu
sehen. Das Bundesstrafgericht stufte den Fall als relativ
unbedeutend ein: Die vier Angeklagten (von denen ei-
ner immerhin wegen Spionage vorbestraft war) erhielten
im September 1919 Gefängnisstrafen zwischen 4 und 13
Monaten, wobei das Gericht in zwei Fällen verminder-
te Zurechnungsfähigkeit attestierte.151 Selbst bei der in
der Landesstreikzeit weit linksstehenden Arbeiterunion
Zürich blieben Stimmen, die als Reaktion auf die Bür-
gerwehren die Bewanung der Arbeiterschaft forderten,
isoliert; der Vorstand lehnte im März 1920 die Gründung
einer Arbeiterwehr ab.152 Robert Grimm erteilte solchen
Bestrebungen bereits am kantonalbernischen Parteitag
1919 eine Absage, auch wenn er es «angesichts der ver-
brecherisch-tollen Rüstungen des Bürgertums psycholo-
gisch durchaus begreiich» fand, «wenn da und dort von
der Bewanung des Proletariats gesprochen wird».153 Erst
1927 entstand dann die kommunistische «Arbeiterschutz-
wehr» unter der Leitung Jakob Herzogs, die sich im Zei-
chen der Sozialfaschismus-Doktrin der Komintern aber in
erster Linie gegen die Sozialdemokratie richtete.
Anders als die labilen Nachbarländer kam die Schweiz
damit nicht in die Situation, dass sich die politischen
Lager mit aufgerüsteten Streitkräften gegenüberstanden.
In Deutschland wuchsen aus den paramilitärischen Ver-
bänden der Umbruchszeit – Freikorps, Einwohnerweh-
ren (mit Mitgliedern von der Sozialdemokratie bis zum
rechten Rand) und linksradikaler «Roter Soldatenbund»
Milizen hervor, die die politische Kultur der Weima-
rer Republik bis zum Schluss schwer belasteten: «Pro-
letarische Hundertschaften» (1921–1923) bzw. «Roter
Frontkämpferbund» (ab 1924) links aussen, «Stahlhelm»
(ab 1918) und SA (ab 1920/21) rechts aussen und das
«Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold» (ab 1924) als Miliz der
staatstragenden Parteien (SPD, liberale DDP, katholisches
Zentrum). In Österreich kam es als Reaktion auf die den
Christlichsozialen und Deutschnationalen nahestehende
«Heimwehr», die aus bürgerlichen Selbstschutzverbänden
der Umbruchszeit hervorgegangenen war, 1923 zur Kon-
stituierung des «Republikanischen Schutzbundes» als so-
zialdemokratischer Miliz. In der Schweiz besassen in den
frühen 30er Jahren nur die kleinen Gruppierungen der
antidemokratischen Ränder Parteimilizen: die Nationale
Front den mit Stahlruhten und Schlagringen bewane-
ten «Harst» und die für Sprengstoattentate ausgebildete
«Gruppe Säntis», die Kommunisten den «Kampfbund ge-
gen Faschismus». Diese Organisationen wurden im Kan-
ton Zürich, wo sie ihre Hochburgen hatten, 1934 verbo-
ten.154
Auch in den USA gab es während des «Red Scare» be-
wanete antisozialistische Organisationen, deren Genese
sich aber von den Freikorps und Bürgerwehren in Euro-
pa unterschied. Bewanete Einsätze durch Private gegen
Streikende hatten in den USA Tradition: Die «Pinkerton
National Detective Agency» hatte im späten 19. Jahrhun-
114
dert eine Miliz von 30’000 Mann. 1892 hatten sich bei
einem Stahlarbeiterstreik in Homestead (Pennsylvania)
Streikende und 300 Pinkerton-Agenten ein stundenlan-
ges Feuergefecht mit Toten auf beiden Seiten geliefert.
Ähnlich betätigte sich die bereits erwähnte «Baldwin-Felts
Detective Agency». Im Juli 1917 mobilisierten bei einem
Streik in Bisbee (Arizona) die Bergwerksbesitzer eine im
Vorjahr aufgebaute Bürgergarde («Citizens’ Protective
League»), welche – wie eine Kommission des Präsidenten
feststellte: illegal – 1’300 Streikende festnahm, ins 200
Meilen entfernte New Mexico deportierte und für meh-
rere Monate die Macht in Bisbee übernahm. Im August
1917 wurde in Butte (Montana) der führende IWW-Ak-
tivist Frank H. Little von sechs Maskierten entführt, ge-
foltert und ermordet. Im März 1917 entstand die «Ame-
rican Protective League» (APL) als private Organisation,
übernahm aber bald oziöse Funktionen bei der Über-
wachung von deutschfreundlichen Personen, Pazisten,
Anarchisten, linken Organisationen und Gewerkschaften.
Auf ihrem Höhepunkt zählte sie 250’000 Mitglieder in
600 Städten. Nach der Auösung der APL im Frühjahr
1919 lebten verschiedene lokale Organisationen unter
neuen Namen weiter und während der «Palmer Raids»
wirkten (trotz Palmers Skepsis gegenüber der APL) ehe-
malige APL-Mitglieder als Informanten und Hilfstruppen
mit. Viele ehemalige APL-Mitglieder schlossen sich dann
dem Ku Klux Klan (KKK) an.
Fast gleichzeitig wie der SVV entstand am 15. März
1919 die «American Legion» (AL). Ziel dieses Veteranen-
verbandes war, sich für die Anliegen der Kriegsteilnehmer
einzusetzen und die demobilisierten Soldaten, die oftmals
entwurzelt und arbeitslos waren, vom Bolschewismus
fernzuhalten. Zwischen den beiden dominierenden Par-
teien war die AL, deren Mitgliederzahl rasch auf 800’000
anwuchs, neutral, was ihr beim Lobbying für ihre Interes-
sen zugute kommen sollte. Die formale Gründung erfolg-
te auf einem Kongress im November 1919. Zeitgleich, am
ersten «Armistice Day», war die AL in Centralia (Bundes-
staat Washington) in einen blutigen Zwischenfall verwi-
ckelt: Beim Versuch von Mitgliedern des lokalen AL-Ab-
legers, nach der Armistice-Parade das Gewerkschaftshaus
zu stürmen, entwickelte sich eine Schiesserei mit sechs
Toten. Trotz der parteipolitischen Neutralität erhielt die
AL in der Folge eine scharf rechte Schlagseite. Alvin M.
Owsley, Kommandant der AL in den Jahren 1922/23,
zeigte oene Sympathien für Mussolini und bezeichnete
den italienischen Faschismus als Modell zur Abwehr der
Linken auch für die USA: «If ever needed, e American
Legion stands ready to protect our country’s institutions
and ideals as the Fascisti dealt with the destructionists who
menaced Italy! [...] e American Legion is ghting every
element that threatens our democratic government – So-
viets, anarchists, IWW, revolutionary socialists and every
other red. [...] Do not forget that the Fascisti are to Italy
what e American Legion is to the United States.»155
Eine weitere bewanete Gruppe war der erwähnte Ku
Klux Klan. Der Geheimbund war bereits nach dem Bür-
gerkrieg und dem Verbot der Sklaverei gegründet worden,
um die afroamerikanische Bevölkerung in den Südstaaten
mit Gewalt (unter anderem Hunderten von Lynchmor-
den) an der Ausübung ihrer neuen Rechte zu hindern. In
den 1870er Jahren schliefen die Aktivitäten ein. 1915 kam
es als Reaktion auf D. W. Griths rassistischen Stumm-
lmepos Birth of a Nation zur Neugründung. In der Zeit
des «Red Scare» verbreiterte der KKK, unter anderem un-
ter dem Einuss von Henry Fords antisemitischen Pub-
likationen, sein Opferspektrum: Neben Afroamerikanern
richteten sich seine Gewaltakte nun auch gegen Juden,
Gewerkschafter, Katholiken und südeuropäische Immig-
ranten. So hatten bereits am 7. November 1917 KKK-
Mitglieder in Kollaboration mit einem lokalen Richter
in Tulsa (Oklahoma) 17 Männer, zumeist Angehörige
der IWW, ausgepeitscht, geteert und gefedert. Die KKK-
Mitgliedschaft, die zu einem bedeutenden Teil aus den
gebildeten städtischen Mittelschichten stammte, stieg in
der ersten Hälfte der 20er Jahre auf 5 Millionen an, sackte
dann aber bis 1930 auf 30’000 ab. Zugleich übte der KKK
in den frühen 20ern erheblichen Einuss auf die Parla-
mente verschiedener Bundesstaaten aus.
Fazit und Ausblick
Ein vergleichender Blick auf den «Red Scare» in der Schweiz
und den USA zeigt bei Ursachen, Wahrnehmungsmustern
und Reaktionsweisen zahlreiche Parallelen. Vieles, was
in der Schweiz ab 1917 geschah, wirkt als Miniatur der
Vorgänge in der amerikanischen «Schwesterrepublik». In
beiden Ländern fügten sich die welthistorischen Umbrü-
che mit internen Protestwellen sowie Sabotageakten der
Kriegführenden und terroristischen Aktivitäten von Split-
tergruppen zu einer Bedrohungswahrnehmung zusam-
men, die durch ständige Gerüchte weiter angeheizt und
mittels komplexitätsreduzierender Verschwörungstheorien
auf eine einfache Formel gebracht wurde.
Auch bei den Reaktionen gab es Parallelen: In beiden
Ländern wurde die Revolutionsgefahr als von aussen im-
plantiert wahrgenommen und zog dies bedeutende Ver-
schärfungen der Ausländerpolitik nach sich. Es bildeten
sich antirevolutionäre paramilitärische Organisationen,
die im Unterschied zu anderen Ländern aber weder das
115
staatliche Gewaltmonopol ernsthaft gefährden konn-
ten, noch die Formation bewaneter Organisationen der
«Gegenseite» nach sich zogen. In den USA, wo aufgrund
der speziellen «Gun culture» bei Unruhen und sozialen
Konikten der Colt generell lockerer sass, war hierbei die
Verletzung des staatlichen Gewaltmonopols bedeutend
grösser als in der Schweiz, ohne dass jedoch das Stadium
des latenten oder oenen Bürgerkriegs, wie es in den 20er
und 30er Jahren zahlreiche Länder kannten, erreicht wor-
den wäre. Auch bei der strafrechtlichen Bekämpfung der
«roten Gefahr» zeigen sich Unterschiede: Während in der
Schweiz die rechtsstaatlichen Prinzipien wenn auch in
der Spezialform der auf eigentlich zivile Belange ausge-
weiteten Militärjustiz – im Wesentlichen gewahrt blieben
und die direkte Demokratie Bestrebungen zur Beschnei-
dung der Freiheitsrechte enge Grenzen setzte, gab es in
den USA eine in zentrale Grundrechte massiv eingrei-
fende Gesetzgebung, die von Behörden und Gerichten
drakonisch umgesetzt wurde. Max Silberschmidt hat in
diesem Zusammenhang gar von «Gesinnungsterror» und
einem «Staatsterrorregiment» geschrieben.156 Noch nach
dem Abauen des «Red Scare» stützte der Oberste Ge-
richtshof in mehreren Revisionsprozessen Mitte der 20er
Jahre solche Urteile. Es waren nicht die Gerichte, sondern
die Gouverneure der Bundesstaaten, die durch Begnadi-
gungen bis Ende der 20er Jahre die meisten während der
«Red Scare»-Periode Verurteilten befreiten. Einige IWW-
Mitglieder blieben aber bis in die 30er Jahre inhaftiert.
Die Demokratien der Schweiz und der USA erwiesen
sich auch in der wirtschaftlichen und politischen Krisen-
situation der frühen 30er Jahre als stabil. Während labile
Demokratien in Zentral- und Osteuropa wie Kartenhäu-
ser zusammenbrachen – sei es, indem wie in Deutsch-
land eine auf die Umbruchszeit 1918/19 zurückgehende
rechtsradikale Bewegung die Macht übernahm, sei es wie
in Österreich durch Transformation der dominanten rech-
ten Kraft in eine Einheitspartei – waren die aus der Um-
bruchszeit hervorgegangenen rechten Kräfte in den beiden
hier betrachteten Staaten organisatorisch und ideologisch
zu heterogen, als dass sie eine ernsthafte Gefahr für die
Demokratie dargestellt hätten. Waren in Ländern, deren
Demokratien erst durch die Umbrüche 1918/19 ent-
standen waren, Antisozialismus und Ablehnung der De-
mokratie eng miteinander verknüpft, so traf dies in der
Schweiz und den USA mit ihren langen demokratischen
Traditionen nur auf eine Minderheit der «1918er Rech-
ten» zu.
In der Schweiz schlossen sich einige prominente
«1918er Rechte» wie Sonderegger und Aubert der Fron-
tenbewegung an. Jean-Marie Musy forderte, nachdem das
Stimmvolk 1934 auch die zweite Auage der «Lex Hä-
berlin» verworfen hatte, von seinen Bundesratskollegen
vergeblich eine autoritär-ständestaatliche Umgestaltung
der Schweiz und die Bekämpfung der Linksparteien und
Gewerkschaften und trat dann zurück, um in der Folge
mit hochrangigen Nazis wie Heinrich Himmler zusam-
menzuarbeiten. Andere «1918er Rechte» dagegen liebäu-
gelten zwar mit autoritären Staatsmodellen, ohne aber ins
oen antidemokratische Lager abzudriften. Prominen-
tes Beispiel war Verteidigungsminister Minger: 15 Jahre
nach der legendären «Volksgemeinde» von Vindonissa
frohlockte er am 9. Juli 1933 am selben Ort an einem
«Jugendtag», zu dem unter der Ägide Birchers neben der
SOG und anderen militärischen Organisationen auch der
SVV sowie mehrere Fronten eingeladen hatten,157 ange-
sichts der nationalsozialistischen «Gleichschaltung», nun
sei «der marxistische Wurzelstock in Deutschland ausge-
rottet». Er zeigte Verständnis für die von ihm als «Aufklä-
rungsorgane» bezeichneten Fronten, mit denen er in zen-
tralen Punkten «Übereinstimmung» konstatierte – so «im
Bestreben, das Schweizervolk, das heute aufgelöst ist in
verschiedene politische und wirtschaftliche Gruppen [...]
wieder zusammenzuführen zu einer eigentlichen Volksge-
meinschaft» und in der Notwendigkeit «den Marxismus
in die Verbannung [zu] schicken» –, und stellte eine «ein-
schneidende Verfassungsrevision» in Aussicht. Zugleich
betonte er aber die Untauglichkeit des deutschen Modells
angesichts des Umstandes, «dass sich unser Volk aus ver-
schiedenen Sprachen und Rassen zusammensetzt».158 Un-
gefähr zur selben Zeit teilte er dem deutschen Botschafter
Ernst von Weizsäcker bei dessen Antrittsbesuch ausweis-
lich dessen Bericht mit, «der Nationalsozialismus sei für
Deutschland eine naheliegende, ihm sympathische Ent-
wicklung. In die Schweiz passe der Nationalsozialismus
freilich nicht [...].»159
Auch in den USA entwickelte sich aus dem «Red Scare»
trotz der Infragestellungen des Rechtsstaates und des
staatlichen Gewaltmonopols nicht dieselbe verhängnisvol-
le Dynamik wie in Italien, Deutschland oder Österreich.
A. Mitchell Palmers politische Ambitionen wurden nicht
zuletzt durch seinen Aktivismus im «Red Scare» zunich-
tegemacht. Gleichzeitig wie Palmer bei den Demokraten
scheiterte 1920 der ehemalige Armeestabschef Leonard
Wood bei den Republikanern bei der Nomination um die
Präsidentschaftskandidatur, unter anderem wegen seiner
starken Unterstützung von Palmers Aktivitäten. Palmers
Assistent J. Edgar Hoover stand ab 1924 bis zu seinem
Tod 1972 dem FBI vor, trug wesentlich zu Ausbau und
Professionalisierung dieser Behörde bei und bildete ein
personelles Bindeglied zwischen dem «First Red Scare» am
116
Ende des Ersten Weltkriegs und dem «Second Red Scare»
der McCarty-Ära, strebte aber keine politischen Ämter an.
Henry Ford wurden zu Beginn der 20er Jahre Ambitionen
für eine Präsidentschaftskandidatur nachgesagt, die sich
aber nie konkretisierten. Die grösste Gefahr für die ame-
rikanische Demokratie ging mit dem Ku Klux Klan nicht
von einer politischen Organisation mit antidemokrati-
scher Stossrichtung, sondern von einem terroristischen
Geheimbund aus, der im Gefolge des «Red Scare» zwar
zu einer Massenbewegung anwuchs, aber keine oene
Machtübernahme anstrebte, sondern seinen politischen
Einuss vor allem mittels Bestechung von Amtsträgern
und Inltration beider grossen Parteien ausübte. Der Klan
war in den Worten omas Welskopps «ein spezisch
neuer Typ von Organisation mit einem innovativen po-
pulistisch-demagogischen Politikstil [...], der den Partei-
en nicht Konkurrenz machte, sie aber doch zu usurpieren
versuchte und sich bemühte, ihnen die eigene Agenda und
das eigene Personal aufzudrängen».160 Der Niedergang
setzte 1925 ein, als der wegen Mord und Vergewaltigung
verurteilte Klan-Führer D. C. Stephenson Namenslisten
dem Klan zugehöriger oder von ihm bestochener Politiker
und Staatsangestellter publik machte.
In der zeitgenössischen Selbstbezeichnung der beiden
«Schwesterrepubliken» fand sich immer wieder die Me-
tapher des Hauses; in den USA etabliert durch Abraham
Lincolns 1858 auf die Sklavereifrage gemünzte Verwen-
dung des Bibelzitats «A house divided against itself, can-
not stand», in der Schweiz durch die allgegenwärtige
Metaphorik vom «Schweizerhaus», die sich etwa in der
bundesrätlichen Begründung des Truppenaufgebots vom
7. November 1918 und in Calonders Erönungsrede zur
Landesstreiksession fand. Diese demokratischen Häuser
sahen sich am Ende des Ersten Weltkriegs und erneut in
den frühen 30ern heftigen Erdstössen ausgesetzt. Dabei
klappten sie aufgrund ihrer soliden Bauweise nicht wie die
Kartenhäuser in Mittel- und Osteuropa zusammen, ihre
Fassaden büssten aber einiges an Verputz ein.
Fussnoten
1 Schweizerisches Sozialarchiv Ar 19.105.2 Unsere Bolschewiki-
Fahrt, in: Wandervogel 10/9 (1919). S. 79f.
2 Hans Rudolf Fuhrer: Militarismus – Antimilitarismus und die
Soldatenbünde, in: ders. (Hg.): Innere Sicherheit – Ordnungs-
dienst, Teil 1: bis zum Oktober 1918. Zürich 2017. S. 45–66,
hier 65.
3 Vgl. Hew Strachan: e First World War as a global war, in:
First World War Studies 1 (2010). S. 3–14; Michael S. Neiberg:
Fighting the Great War: A Global History. Cambridge/Mass.
2006; Daniel Marc Segesser: Der Erste Weltkrieg in globaler
Perspektive. Wiesbaden 2010.
4 Jörn Leonhard: 1917–1920 and the Global Revolution of Rising
Expectations, in: Stefan Rinke/Michael Wildt (Hg.): Revolutions
and Counter-Revolutions: 1917 and its Aftermath from a Global
Perspective. Frankfurt 2017. S. 31–51.
5 Vgl. Birgit Aschmann (Hg.): Gefühl und Kalkül: Der Einuss von
Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts. Stuttgart
2005; Christian Koller: «Es ist zum Heulen»: Emotionshistorische
Zugänge zur Kulturgeschichte des Streikens, in: Geschichte und
Gesellschaft 36 (2010). S. 66–92.
6 David Clay Largue: e Politics of Law and Order: A History of
the Bavarian Einwohnerwehr, 1918–1921. Philadelphia 1980, S. 1
7 Robert Gerwarth/John Horne: Bolschewismus als Fantasie:
Revolutionsangst und konterrevolutionäre Gewalt 1917 bis 1923,
in: dies. (Hg.): Krieg im Frieden: Paramilitärische Gewalt nach
dem Ersten Weltkrieg. Göttingen 2013, S. 94–107.
8 Hans von Greyerz: Der Bundesstaat seit 1848, in:
Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2. Zürich 1980,
S. 1019–1267, hier 1176.
9 Paul Stauer: Die Aäre Homann/Grimm, in: Schweizer
Monatshefte 53 (1973/74). S. 1–30; Paul Widmer: Bundesrat
Arthur Homann: Aufstieg und Fall. Zürich 2017.
10 Karl Kautsky: Die Diktatur des Proletariats. Wien 1918; ders.:
Terrorismus und Kommunismus: Ein Beitrag zur Naturgeschichte
der Revolution. Berlin 1919; Julius Martow: Marx und der Staat,
in: Die Gesellschaft 2/2 (1925). S. 305–322; Robert Grimm:
Demokratie und Diktatur. Bern 1920, S. 16f.; Paul Levi (Hg.):
Die Russische Revolution: Eine kritische Würdigung. Aus dem
Nachlass von Rosa Luxemburg, o. O. 1922; Peter Kropotkin:
Unterredung mit Lenin sowie andere Schriften zur russischen
Revolution. Hannover 1980; Herman Gorter: Oener Brief an
den Genossen Lenin. Eine Antwort auf Lenins Broschüre
«Der Radikalismus eine Kinderkrankheit des Kommunismus».
Berlin o. J. [1920].
11 Christian Koller: «... der Wiener Judenstaat, von dem wir uns
unter allen Umständen trennen wollen»: Die Vorarlberger An-
schlussbewegung an die Schweiz, in: Helmut Konrad/Wolfgang
Maderthaner (Hg.): Das Werden der Ersten Republik: ... der Rest
ist Österreich, Bd. 1. Wien 2008. S. 83–102.
12 Walter Stucki: Der Schweizerische Gewerkschaftsbund in der
Kriegszeit (1914–1920). Bern 1928, S. 52f.
13 Christian Pster et al. (Hg.), «Woche für Woche neue Preis-
aufschläge»: Nahrungsmittel-, Energie- und Ressourcenkonikte
in der Schweiz des Ersten Weltkriegs. Basel 2016; Maria Meier:
Von Notstand und Wohlstand: Die Basler Lebensmittelversorgung
im Krieg 1914–1918. Diss. Univ. Luzern 2017.
14 Historische Statistik der Schweiz HSSO, 2012. Tab. G.17. URL:
hsso.ch/2012/g/18 (eingesehen 10.5.2018).
15 Records of the Department of State Relating to World War I and
its Termination, 1914–29, Roll 90, Volume 82. Washington 1962,
S. 29f.
117
16 Robert Shogan: e Battle of Blair Mountain: e Story of
America’s Largest Labor Uprising. New York 2006.
17 New York Times, 5.10.1919.
18 Protokoll des Allgemeinen Schweizerischen Arbeiterkongresses.
Bern 1918, S. 93.
19 Schweizerisches Sozialarchiv Ar SMUV 01A-0001 Kongress
8./9.12.1918.
20 Protokoll des II. Allgemeinen Schweizerischen Arbeiterkongresses.
Bern 1919, S. VIIIf. und 166f.
21 Robert Grimm: Ziel und Taktik der Partei: Referat an den
kantonalen Parteitag 1919 der bernischen Sozialdemokratie. Bern
1919, S. 25–28; ders., Demokratie, S. 16f.; Programm der Sozial-
demokratischen Partei der Schweiz (Angenommen durch den
Parteitag vom 10./12. Dezember 1920 in Bern), o. O. u. J., S. 9.
22 Schweizerisches Bundesarchiv E 21 1000/131, Nr. 10056,
Schreiben des Generals Ulrich Wille an Bundesrat Camille
Decoppet, Chef des Eidgenössischen Militärdepartements,
4. November 1918, S. 2.
23 Records of the Department of State, S. 30f.
24 Werner Lüthi: Die Schweizerische Bundesanwaltschaft. Bern 1923,
S. 120f.; Ueli Wild: Zürich 1918: Ordnungsdiensteinsätze der
Schweizer Armee im Frühjahr und im Sommer 1918 in Zürich.
Frauenfeld 1987, S. 46–50.
25 Zit. Florian Weber: Die amerikanische Verheissung: Schweizer
Aussenpolitik im Wirtschaftskrieg 1917/18. Zürich 2016, S. 169.
26 Willi Gautschi (Hg.): Dokumente zum Landesstreik 1918.
Zürich/Köln 1971, S. 182f.
27 Vgl. Willi Gautschi: Der Landesstreik 1918. Zürich 1968, S. 299.
28 Adrian Zimmermann: Klassenkampf und Klassenkompromiss:
Arbeit, Kapital und Staat in den Niederlanden und der Schweiz,
1914–1950. Diss. Univ. Lausanne 2012, S. 157f.
29 Verhandlungen des Zürcherischen Kantonsrates über das Truppen-
aufgebot und den Generalstreik: Vom 11. bis 13. November 1918.
o. O. u. J., S. 7.
30 Schweizerisches Bundesarchiv E21/1000/131#14360* Hand-
granatenanschlag am 31.8./1.9.1919 gegen das Haus des Auto-
mobilfabrikanten E. Arbenz in Albisrieden ZH beim Streik der
Arbeiter der Autofabriken Arbenz und Tribelhorn in Albisrieden
im September 1919.
31 Vgl. Christian Koller: Fake News im Weltenbrand: Gewalt und
Emotionen in der Propaganda des Ersten Weltkriegs, in: Josette
Baer/Wolfgang Rother (Hg.): Terror. Basel 2017. S. 81–99.
32 Vgl. Alexandre Elsig: Les Shrapnels du Mensonge: La Suisse face à
la Propagande allemande de la Grande Guerre. Lausanne 2017.
33 Vgl. z. B. Armin Pfahl-Traughber: «Bausteine» zu einer eorie
über «Verschwörungstheorien»: Denitionen, Erscheinungs-
formen, Funktionen und Ursachen, in: Helmut Reinalter (Hg.):
Verschwörungstheorien: eorie – Geschichte – Wirkung.
Innsbruck 2002. S. 30–44; Michael Butter: «Nichts ist, wie es
scheint»: Über Verschwörungstheorien. Berlin 2018.
34 Henry Ford: Der internationale Jude, Bd. 1. Leipzig 1922, S. 142.
35 Walliser Bote, 24.11.1917.
36 Gazette de Lausanne, 6.4.1919 und 10.4.1919; Le Nouvelliste,
6.4,1919.
37 Journal de Genève, 29.3.1919 und 28.7.1920.
38 Wider Bolschewik!, in: Nebelspalter 45/34 (1919). S. 2.
39 Zit. Hans B. Kunz: Weltrevolution und Völkerbund:
Die schweizerische Aussenpolitik unter dem Eindruck der
bolschewistischen Bedrohung, 1918–1923. Bern 1981, S. 43.
40 Kunz, Weltrevolution, S. 41.
41 Zit. Kunz, Weltrevolution, S. 44.
42 Walliser Bote, 1.9.1920.
43 Zit. Kunz, Weltrevolution, S. 45.
44 Gazette de Lausanne, 4.10.1919.
45 Z. B. Le Nouvelliste, 9.4.1918; Gazette de Lausanne, 13.4.1918,
5.8.1918; Journal de Genève, 14.4.1918, 3.8.1918.
46 Schweizerisches Bundesarchiv E 21 1000/131, Nr. 10056, Schrei-
ben des Generals Ulrich Wille an Bundesrat Camille Decoppet,
Chef des Eidgenössischen Militärdepartements, 4. November
1918, S. 2.
47 Bericht des Ersten Staatsanwaltes A. Brunner an den Regierungsrat
des Kantons Zürich über die Strafuntersuchung wegen Aufruhrs in
Zürich im November 1917 (Vom 9. November 1918).
Zürich 1919, S. 30.
48 Vgl. z. B. Conseil Fédéral: Procès-verbal de la séance du 2 novemb-
re 1918. URL: dodis.ch/43734 (eingesehen 11.5.2018).
49 Vgl. Peter Collmer: Zwischen Selbstdenition und internationaler
Behauptung: Frühe bolschewistische Diplomatie am Beispiel der
Sowjetmission in Bern (Mai bis November 1918), in: Ludmilla
omas/Viktor Knoll (Hg.): Zwischen Tradition und Revoluti-
on: Determinanten und Strukturen sowjetischer Aussenpolitik
1917–1941. Stuttgart 2000. S. 225–283, hier 281f.
50 Vgl. Conseil Fédéral: Procès-verbal de la séance du 12 novembre
1918, 12.11.1918. URL: db.dodis.ch/document/43750# (einge-
sehen 7.3.2018); Bundesgesetz über das Bundesstrafrecht vom 4.
Februar 1853, in: Bundesblatt 73/17 (1921). S. 381–389.
51 Der Landesstreik-Prozess gegen die Mitglieder des Oltener Akti-
onskomitees vor dem Militärgericht 3 vom 12. März bis 9. April
1919, Bd. 2. Bern 1919, S. 707f.
52 Gazette de Lausanne, 21.3.1938; Persky, Serge/
Перский, Сергей Маркович. URL: www.calames.abes.fr/
pub/#details?id=FileId-1998 (eingesehen 6.3.2018).
53 e National Archives, Kew, CAB 24/29/15 Memorandum on
Switzerland as a Bolshevik Centre, 2.11.1918.
54 Jean-François Fayet: Les Révolutionnaires Russes et Polonais instal-
lés en Suisse pendant la Première Guerre Mondiale, in: Christophe
Vuilleumier (Hg.): La Suisse et la Guerre de 1914–1918. Genf
2015, S. 387–403, hier 397 und 402.
55 Gazette de Lausanne, 29.10.1918.
56 Conseil Fédéral: Procès-verbal de la séance du 12 novembre 1918:
3335. Gerichtliche Untersuchung wegen Verbrechen gegen die
innere und äussere Sicherheit der Eidgenossenschaft. URL:
www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc/60003231.
pdf?ID=60003231 (eingesehen 7.3.2018)
57 Gazette de Lausanne, 23.4.1919.
58 Z. B. Basler Nachrichten, 24.4.1919.
59 Neue Zürcher Zeitung, 24.3.1919.
60 Walliser Bote, 29.3.1919.
61 Freiburger Nachrichten, 25.3.1919.
62 Henry Ch. Schmitt: Die rote Hölle in Ungarn: Bolschewistische
Momentbilder. Bern 1919.
63 Berner Tagwacht, 26.4. 1919; La Sentinelle, 26.4.1919 und
7.5.1919.
64 La Sentinelle, 3.5.1919; Gazette de Lausanne, 22.10.1921.
65 Gautschi, Landesstreik, S. 171, Anmerkung 49.
66 Bundesgesetz über das Bundesstrafrecht, S. 384.
67 [Paul de Vallière:] Les troubles révolutionnaires en Suisse de 1916
à 1919: Par un Témoin. Lausanne 1926 (Ndr. Sierre 2004),
S. 33–40.
68 R.[oger] Masson: La Suisse face aux deux guerres mondiales ou du
général Wille au général Guisan [suite], in: Revue Militaire Suisse
105 (1960). S. 468–476.
69 Gazette de Lausanne, 26.8.1937.
118
70 La Peste Rouge. URL: www.youtube.com/
watch?v=z10BWRkRNnU (eingesehen 6.3.2018), min. 1:10:36.
71 Marco Wyss: Un Suisse au Service de la SS: Franz Riedweg
(1907–2005). Neuchâtel 2002, S. 43–46.
72 Z. B. La Liberté, 31.10.1918, 26.12.1924, 3.1.1925, 9.1.1925,
10.4.1925; Gazette de Lausanne, 29.12.1924.
73 Der Landesstreik vor dem Nationalrat: Reden der Abgeordneten
Ernst Feigenwinter und Jean Musy. Luzern 1919, S. 28.
74 Protokolle der Bundesversammlung: NR 21. Sitzung vom
3.4.1925, S. 310–317.
75 De Vallière, Troubles, S. 39.
76 La Sentinelle, 6.12.1924, 15.12.1924, 10.1.1925.
77 Gill Bennett: «A most extraordinary and mysterious business»: e
Zinoviev Letter of 1924. London 1999.
78 Z. B. Gazette de Lausanne, 21.10.1919; Feuille d’avis du Valais,
21.10.1919; La Liberté, 24.10.1919; Walliser Bote, 25.10.1919
und 29.10.1919.
79 A. Mitchell Palmer: e Case Against the «Reds», in: e Forum
63 (1920). S. 173–180.
80 Dokumente zum Landesgeneralstreik 1918, in: Schweizer Monats-
hefte 48 (1968/69). S. 833–860, hier 835f.
81 Schweizerisches Bundesarchiv E 21 1000/131, Nr. 10056,
Schreiben des Generals Ulrich Wille an Bundesrat Camille
Decoppet, Chef des Eidgenössischen Militärdepartements,
4. November 1918, S. 2.
82 Lademacher, Horst: Die Zimmerwalder Bewegung: Protokolle und
Korrespondenz. 2 Bde. Den Haag 1967.
83 Archiv SGB, G 23/C, Protokolle der 1. und 2. Sitzung.
84 Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Protokoll über die
Verhandlungen des Parteitages vom 7., 8. und 9. November 1913
abgehalten im Saalbau in Aarau. Zürich 1914, S. 8.
85 Archiv SGB, G 190/3/23, Entwurf an die Konferenz vom
1.3.1918: Generalstreikfrage.
86 Schweizerischer Gewerkschaftsbund: Protokoll der Sitzung des
Gewerkschafts-Ausschusses in Verbindung mit der Geschäfts-
leitung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und dem
Bureau der Nationalratsfraktion, Freitag den 1. bis Sonntag den
3. März 1918 im Volkshaus in Bern. o. O. u. J. [Bern 1918], S. 4f.
87 Schweizerisches Sozialarchiv Ar 201.16.2 Marie Hüni: Notizbuch,
Nr. 6.
88 Schweizerischer Gewerkschaftsbund: Protokoll der Sitzung,
S. 10–16.
89 Willi Gautschi: Das Oltener Aktionskomitee und der Landes-
Generalstreik von 1918. Zürich 1955, S. 76.
90 Schweizerisches Sozialarchiv Ar 1.110.9 Sozialdemokratische
Partei der Schweiz: Protokolle Nov.1915–Juli 1918, S. 146–153
(Geschäftsleitung, 15.3.1918) und 167–179 (Parteivorstand,
16./17.3.1918).
91 Schweizerischer Gewerkschaftsbund: Protokoll der Sitzung des
Gewerkschafts-Ausschusses in Verbindung mit der Geschäfts-
leitung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und dem
Bureau der Nationalratsfraktion, Freitag den 12. April 1918 in
Olten-Hammer. o. O. u. J. [Bern 1918], S. 11.
92 Archiv SGB, G 190/3/25/212, Instruktionen für die Durchfüh-
rung des allgemeinen Landesstreiks, undatiert.
93 Schweizerisches Sozialarchiv 335/140 Anny Morf: Generalstreik:
Warum? – Wofür?
94 Gautschi, Landesstreik, S. 359.
95 Der Grütlianer 19.7.1919 und 26.7.1919.
96 Bundesgesetz über das Bundesstrafrecht, S. 387f.
97 Rudolf Minger spricht: Vierundzwanzig Reden, ausgewählt und
eingeleitet von Hermann Wahlen. Bern 1967, S. 107.
98 Freiburger Nachrichten, 9.3.1934.
99 Bericht des Bundesrates an die eidgenössischen Räte betreend das
Streikaufgebot und die Streikunruhen (vom 12. November 1918),
in: Bundesblatt 70/5 (1918). S. 63–73.
100 Archiv SGB, G 23/C, Protokoll der 20. Sitzung des Aktions-
komitees, 6.11.1918, vormittags 10 Uhr.
101 Zit. Andreas Ernst/Erich Wigger: Innovation und Repression:
Die Restabilisierung der bürgerlichen Schweiz nach dem Ersten
Weltkrieg, in: Kurt Imhof et al. (Hg.): Zwischen Konikt und
Konkordanz: Analyse von Medienereignissen in der Schweiz der
Vor- und Zwischenkriegszeit. Zürich 1993, S. 109–171, hier
155f.
102 Schweizerisches Bundesarchiv J1.6#1000/1355#288*
Zentralverband schweiz. Arbeitgeberorganisationen.
103 Hans R. Guggisberg: Geschichte der USA. 4. erw. Au.
Stuttgart 2002, S. 175.
104 Ernst Altorfer: Die Dienstverweigerung nach schweizerischem
Militärstrafrecht. Zürich 1929, S. 200 und 214f.
105 Gautschi, Landesstreik, S. 299.
106 Schweizerisches Sozialarchiv 331/260aB Verordnung betreend
Massnahmen gegen die Gefährdung und Störung der innern
Sicherheit der Eidgenossenschaft (Vom 11. November 1918);
Gautschi, Landesstreik, S. 193.
107 Gautschi, Dokumente, S. 377–380.
108 Ernest Freeberg: Democracy’s Prisoner: Eugene V. Debs,
the Great War and the Right to Dissent. Cambridge/MA 2008.
109 Der Landesstreik vor dem Nationalrat, S. 26.
110 Palmer, Case Against the «Reds».
111 Zit. Uriel Gast: Von der Kontrolle zur Abwehr:
Die eidgenössische Fremdenpolizei im Spannungsfeld von
Politik und Wirtschaft 1915–1933. Zürich 1997, S. 33f.
112 La Division des Aaires étrangères du Département politique à la
Légation de Suisse à Vienne, 20.11.1918. URL: dodis.ch/43767
(eingesehen 29.3.2018).
113 Zit. omas Bürgisser: «Unerwünschte Gäste»: Russische
Soldaten in der Schweiz 1915–1920. Zürich 2010, S. 77.
114 Bundesratsbeschluss über Einreise, Aufenthalt, Niederlassung
und Ausweisung von Ausländern: Text der bundesrätlichen
Verordnung über die Kontrolle der Ausländer vom
17. November 1919. Zürich o. J. [1919].
115 Zit. Robert K. Murray: Red Scare: A Study in National Hysteria,
1919–1920. Minneapolis 1955, S. 250.
116 Christian Hartmann et al. (Hg.): Hitler, Mein Kampf:
Eine kritische Edition, Bd. 2. München/Berlin 2016, S. 1117.
117 René Zeller: Emil Sonderegger: Vom Generalstabschef zum
Frontenführer. Zürich 1999, S. 115.
118 Neue Zürcher Zeitung, 16.6.1886.
119 Tages-Anzeiger, 17.7.1906.
120 Stadtarchiv Zürich VI.AR.C.1: 10 Gemeinderatsprotokoll
Albisrieden, Januar 1906 bis Juni 1907, S. 70 und 73.
121 Otto Steinmann: Betrachtungen über den schwedischen
Generalstreik des Jahres 1909. o. O. 1910, S. 8–11.
122 Annette Frei: Die Welt ist mein Haus: Das Leben der Anny
Klawa-Morf. Zürich 1991, S. 104–107.
123 Vgl. Schweizerisches Sozialarchiv 331/260 Arbeiter heraus!
(Basel, November 1918).
124 Zit. omas Greminger: Ordnungstruppen in Zürich:
Der Einsatz von Armee, Polizei und Stadtwehr Ende November
1918 bis August 1919. Basel/Frankfurt 1990, S. 97.
125 Andreas ürer: Der Schweizerische Vaterländische Verband
1919–1930/31. Diss. Univ. Basel 2010, S. 50f.
119
126 Daniel Kauz et al.: Grenchen im 19. und 20. Jahrhundert:
Vom Bauerndorf zur Uhrenmetropole. Zürich 2018, S. 43.
127 Zit. Daniel Heller: Eugen Bircher: Arzt, Militär und Politiker:
Ein Beitrag zur Zeitgeschichte. Zürich 1990, S. 63.
128 ürer, Vaterländischer Verband, Anhang, S. 4.
129 Heller, Bircher, S. 66f.; ürer, Vaterländischer Verband,
S. 280 und Anhang, S. 257–259.
130 Staatsarchiv Zürich M 30.987 Stadtwehr der Stadt Zürich.
131 Staatsarchiv Zürich U 767.3 Stadtwehr Zürich (1919–1922).
132 ürer, Vaterländischer Verband, S. 281f.
133 Sébastien Guex: A propos des gardes civiques et de leur
nancement à l’issue de la Première Guerre mondiale, in:
Jean Batou et al. (Hg.): Pour une histoire des gens sans Histoire:
Ouvriers, exclues et rebelles en Suisse, 19e–20e siècles.
Lausanne 1995. S. 255–264; ürer, Vaterländischer Verband,
S. 243–257 und Anhang, S. 281–287.
134 Zit. Heller, Bircher, S. 70.
135 Staatsarchiv Zürich MM 3.36 RRB 1922/0201 Stadtwehrverein
Zürich, 19.1.1922.
136 Heller, Bircher, S. 73–75.
137 Zit. Heller, Bircher, S. 77.
138 Willi Gautschi: Geschichte des Kantons Aargau 1885–1953.
Baden 1978, S. 242; Heller, Bircher, S. 78–80; René Zeller: Ruhe
und Ordnung in der Schweiz: Die Organisation des militärischen
Ordnungsdienstes von 1848 bis 1939. Bern 1990, S. 100.
139 Übersicht über die Verhandlungen der Bundesversammlung:
Fortsetzung der Februartagung, 1920, S. 17f.
140 Schweizerisches Sozialarchiv Ar 1.250.5 Die Vorbereitung zum
Arbeitermord, Juni 1920.
141 Le Président du «Schweizerischer Vaterländischer Verband»,
E. Bircher, au Secrétaire de Légation au Département politique,
K. Egger, 16.4.1920. URL: dodis.ch/44515
(eingesehen 11.3.2018).
142 Zit. Werner Baumann: Bauernstand und Bürgerblock:
Ernst Laur und der Schweizerische Bauernverband 1897–1918.
Zürich 1993, S. 346f.
143 Gautschi, Landesstreik, S. 191f.
144 Vgl. Bürgerliche Presse Zürichs, 12.11.1918.
145 Gautschi, Landesstreik, S. 315.
146 Gautschi, Dokumente, S. 373–377.
147 Konrad Stamm: Minger – Bauer – Bundesrat:
Die aussergewöhnliche Karriere des Rudolf Minger aus Mülchi
im Limpachtal. Zürich 2017, S. 71.
148 Baumann, Bauernstand, S. 351.
149 Zit. Bote vom Untersee und Rhein, 6.8.1919.
150 [Eugen Bircher:] Militärische Erfahrungen aus den Kämpfen
zur Unterdrückung innerer Unruhen in Deutschland. o. O. u. J.
[1920], S. 54.
151 Grütlianer, 9.9.1919; Lüthi, Bundesanwaltschaft, S. 121f.
152 Schweizerisches Sozialarchiv Ar 2.20.9 Arbeiterunion Zürich:
Vorstands-Protokolle, 1.3.1920.
153 Grimm, Ziel und Taktik, S. 23.
154 Walter Wolf: Faschismus in der Schweiz: Die Geschichte der
Frontenbewegungen in der deutschen Schweiz, 1930–1945.
Zürich 1969, S. 223f.
155 Zit. Alec Campbell: Where Do All the Soldiers Go? Veterans and
the Politics of Demobilization, in: Diane E. Davis/Anthony
W. Pereira (Hg.): Irregular Armed Forces and their Role in
Politics and State Formation. New York 2003. S. 96–116,
hier 110 f.
156 Max Silberschmidt: Der Aufstieg der Vereinigten Staaten von
Amerika zur Weltmacht: Staat und Wirtschaft der USA im
20. Jahrhundert. Aarau 1941, S. 263 und 272.
157 Heller, Bircher, S. 126.
158 Rudolf Minger spricht, S. 91–101.
159 Akten zur deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945,
Serie C, Bd. II/1. Göttingen 1973, S. 50.
160 omas Welskopp: Amerikas grosse Ernüchterung:
Eine Kulturgeschichte der Prohibition. Paderborn 2010, S. 399.
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Article
Despair at Gallipoli. Victory at Vimy Ridge. A European generation lost, an American spirit found. The First World War, the deadly herald of a new era, continues to captivate readers. In this lively book, Michael Neiberg offers a concise history based on the latest research and insights into the soldiers, commanders, battles, and legacies of the Great War. Tracing the war from Verdun to Salonika to Baghdad to German East Africa, Neiberg illuminates the global nature of the conflict. More than four years of mindless slaughter in the trenches on the western front, World War I was the first fought in three dimensions: in the air, at sea, and through mechanized ground warfare. New weapons systems - tanks, bomber aircraft, and long-range artillery - all shaped the battle environment. Moving beyond the standard portrayal of the war's generals as "butchers and bunglers," Neiberg offers a nuanced discussion of officers constrained by the monumental scale of complex events. Diaries and letters of men serving on the front lines capture the personal stories and brutal conditions - from Alpine snows to Mesopotamian sands - under which these soldiers lived, fought, and died. Generously illustrated, with many never-before-published photographs, this book is an impressive blend of analysis and narrative. Anyone interested in understanding the twentieth century must begin with its first global conflict, and there is no better place to start than with Fighting the Great War.
Chapter
The positive relationship between war and state formation in Europe has been well established (Finer 1975; Mann 1988, 1993; Tilly 1990; Porter 1994). Its logic is contained in the “extraction-coercion cycle” discussed by Finer. States use coercion to extract military resources — men, money, and matériel — which increase their coercive powers for later rounds of extraction. States grew around the need to organize both coercion (armies and their supply) and extraction (taxation, requisition, conscription). Through this process, war served as a mechanism of natural selection for the hundreds of statelike entities in fifteenth-century Europe. Those states adapting in ways that allowed them to ride the upward spiral of the coercion-extraction cycle have survived; the rest have been swallowed up. This model of state formation emphasizes mobilization (extraction in preparation for war) over demobilization. To a degree this is justified. Mobilization is a risky proposition from the perspective of states and ruling classes, in part because the extraction of men, money, and matériel can engender resistance from subjects (Tilly 1990: 99–103). One way of reducing effective resistance is to monopolize the means of coercion. Thus, Tilly argues that disarming subjects was central to the process of state formation. States monopolized the use of force by building up “fearsome coercive means of their own as they deprived civilian populations to access to those means” by making it “criminal, unpopular, and impractical for most of their citizens to bear arms” (Tilly 1990: 70).
Article
This article discusses the widening of the First World War from a European war to a global war and what that meant for the participants. Today's politicians, who talk (albeit tautologically) of an ‘increasingly globalized world’, forget how already ‘globalized’ the world seemed in 1914, especially if you happened to live in London. The fact that the First World War was a global war was itself the product of a global order, shaped by the European great powers and held together by an embryonic economic system. The title ‘the world war’ was a statement about its importance, not a statement about its geographical scale. And yet the French and British official histories, unlike the German, did not use ‘world war’ in their titles, any more than they had used the phrase during the war itself. They preferred the title ‘the Great War’, and in English the war only became widely known as the First World War after 1945, in other words after there had been a Second World War. The article explores the implications of the title ‘the Great War’ and the idea that the war of 1914–1918 was a great European war (a name also used in Britain, especially during the war itself). The article also examines the role of finances in the widening of the war and the global economy during a worldwide conflict. It also discusses the role of empires in the expanding war. However, the financial situation of participants, including those who entered the war at a later date, and the desire for empire were not the only factors in the creation of a global conflict. Decisions made in the interest of individual nations also had an effect on the widening of the war from a regional dispute. The corollary of the article's argument, that the First World War was in some respects an aggregation of regional conflicts, was that the war would not simply end when the European war ended. All that was agreed on 11 November 1918 was the surrender of Germany, largely on terms which reflected the situation within Europe and specifically on the western front. Only here did the guns fell silent at 11am on that day. However, so imperative were the immediate demands of the conflict that there was scant consideration of their long-term effects. Some of the consequences of the fact that the First World War was waged as a global war remained with Europe throughout the Cold War, and others remain in the Middle East to this day.
Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive
  • Daniel Marc Segesser
Daniel Marc Segesser: Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive. Wiesbaden 2010.
Gefühl und Kalkül: Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19
Vgl. Birgit Aschmann (Hg.): Gefühl und Kalkül: Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2005; Christian Koller: «Es ist zum Heulen»: Emotionshistorische Zugänge zur Kulturgeschichte des Streikens, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010). S. 66-92.