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Maike SCHINDLER, Köln, Achim J. LILIENTHAL, Örebro,
Florian SCHINDLER, Dortmund & Eveline BADER, Köln
Vorgehensweisen bei der Anzahlerfassung am 100er Feld und
100er Rahmen. Eine Eye-Tracking Studie bei Kindern mit
und ohne Rechenschwierigkeiten
Zusammenfassung. Arbeitsmittel werden im Mathematikunterricht zum Auf-
bau von Zahl- und Operationsvorstellungen genutzt. Gerade für Kinder mit
Schwierigkeiten im strukturierten Erfassen von Anzahlen und mit unzu-
reichenden Zahl- und Operationsvorstellungen ist die Nutzung von Arbeits-
mitteln beim Rechnenlernen zentral. Wie gehen jedoch Kinder mit Rechen-
schwierigkeiten bei der Anzahlerfassung bei unterschiedlichen Arbeitsmit-
teln vor und wie unterscheiden sich ihre Vorgehensweisen von jenen Kin-
dern ohne Schwierigkeiten? Die vorgestellte explorative Studie untersucht
Vorgehensweisen bei der Anzahlerfassung am 100er Feld und 100er Rah-
men bei 20 Kindern (davon 10 mit Rechenschwierigkeiten) zu Beginn der
fünften Klasse. Eye-Tracking ermöglicht dabei neue Erkenntnisse gerade bei
Kindern, die Schwierigkeiten haben, ihre Vorgehensweisen zu beschreiben.
Anzahlerkennung und Arbeitsmittel
Im Zuge des Zahlerwerbs
werden strukturierte Ar-
beitsmittel – wie etwa der
100er Rahmen oder das
100er Feld – als externe Re-
präsentationen genutzt, um
Zahl- und Operationsvor-
stellungen zu fördern (vgl. Lindmeier & Heinze, 2016; Obersteiner et al.,
2014; Rottmann & Schipper, 2002). Dabei wird die Struktur des dekadischen
Zahlsystems veranschaulicht. Gleichzeitig unterstützt die Verwendung von
strukturierten Arbeitsmitteln ein so genanntes „conceptual subitizing“, bei
dem Substrukturen wie 10er und 5er quasi-simultan erfasst werden; und es
kann den „cognitive effort“ reduzieren, da die Lernenden dabei nicht ein
mentales Bild im Kopf behalten müssen (Obersteiner et al., 2014).
Schwierigkeiten im Rechnenlernen
Gerade für Kinder mit Schwierigkeiten im Rechnenlernen kommt Arbeits-
mitteln wie dem 100er Rahmen eine besondere Bedeutung zu, da diese Ler-
nenden oft über unzureichende Zahl- und Operationsvorstellungen verfügen
(vgl. Moser Opitz et al., 2016; Wartha & Schulz, 2017). Schwierigkeiten be-
100er Feld
100er Rahmen
Abbildung 1. 100er Feld und 100er Rahmen
In Fachgruppe Didaktik der Mathematik der Universität Paderborn (Hrsg.)
Beiträge zum Mathematikunterricht 2018. Münster: WTM-Verlag 1591
treffen daneben u.a. das verbale Zählen (z.B. in Gruppen), das Gruppieren,
das Verständnis des Dezimalsystems und des Stellenwertes sowie das Lösen
von Textaufgaben (Moser Opitz et al., 2016; Scherer et al., 2016). For-
schungsergebnisse deuten darauf hin, dass sich solche Schwierigkeiten im
mathematischen Basisstoff bei rechenschwachen Lernenden mit durch-
schnittlicher Intelligenz ebenso zeigen wie bei Lernenden mit unterdurch-
schnittlicher Intelligenz (Moser Opitz, 2013). Selbst in höheren Jahrgangs-
stufen persistieren teilweise Schwierigkeiten mit dem Zählen in Gruppen
und dem Verständnis des Dezimalsystems (vgl. Moser Opitz et al., 2016).
Dies unterstreicht die Bedeutung der Verwendung geeigneter Arbeitsmittel
zum Aufbau von Zahl- und Operationsvorstellungen.
Eye-Tracking
Eye-Tracking (ET) – die Erfassung und Aufzeichnung von Blickbewegun-
gen – hat in den letzten Jahren zunehmend an Interesse und Popularität als
Forschungsmethode in der Mathematikdidaktik gewonnen. Gerade für die
Diagnostik von Rechenschwierigkeiten verspricht ET neben traditionellen
diagnostischen Methoden wie Tests, Beobachtungen, diagnostischen Inter-
views und Lautem Denken neue Erkenntnisse und Perspektiven. Schindler
und Lilienthal (2018) weisen darauf hin, dass das ET potentiell auch einen
Zugriff auf unbewusste Strategien ermöglicht und einen Verbalisierungs-
schritt vermeidet, welcher zusätzliche kognitive Ressourcen binden sowie
durch Ängste oder sprachliche Schwierigkeiten beeinflusst sein kann. Ergeb-
nisse ihrer empirischen Studie weisen darauf hin, dass das ET gerade für
Kinder mit Schwierigkeiten im Rechnenlernen gegenüber dem Lauten Den-
ken einen höheren diagnostischen Informationsgehalt bereitzuhalten scheint.
Studie
In der vorliegenden explorativen Studie wird der Frage nachgegangen, wel-
che Vorgehensweisen sich bei der Anzahlerfassung am 100er Feld und 100er
Rahmen durch das ET zeigen. Dabei wird insbesondere untersucht, inwie-
fern sich Kinder mit und ohne Rechenschwierigkeiten im Nutzen von Struk-
turen (wie etwa 5er, 10er oder 50er) und der Verwendung von Vorgehens-
weisen unterscheiden. Bisherige ET Studien deuten z.B. darauf hin, dass
Erstklässler und Erwachsene sich in den Vorgehensweisen zur Anzahlbe-
stimmung z.B. an 20er Feld und 20er Rahmen signifikant unterscheiden
(Lindmeier & Heinze, 2016) bzw. dass es rechenschwachen Kindern am
100er Feld kaum gelingt, angemessene Strategien für die Addition und Sub-
traktion anzuwenden (Rottmann & Schipper, 2002).
In der Studie wurden 20 Kinder einer Gesamtschule in NRW zu Beginn der
fünften Klasse untersucht. 10 der Kinder waren im Vorfeld in diagnostischen
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Interviews (in Anlehnung an Wartha & Schulz, 2017) als rechenschwach
identifiziert worden. Alle Kinder erhielten Serien von Aufgaben je am 100er
Rahmen und am 100er Feld, bei denen Anzahlen (z.B. 54) präsentiert wur-
den, die die Kinder bestimmen sollten. Die Aufgaben wurden an einem Com-
puterbildschirm präsentiert. Es wurde die Eye-Tracking-Brille Tobii Pro
Glasses 2 genutzt, die wenig störend ist und zuverlässig funktioniert.
Ergebnisse
Es zeigten sich Unterschiede in der Strukturnutzung zwischen Kindern mit
und ohne Rechenschwierigkeiten (RS). Bei den Kindern ohne RS nutzten am
100er Rahmen und 100er Feld alle Kinder die 5er, 10er und 100er-Struktur.
Die 10er Struktur wurde z.B. genutzt, um Reihen abzuzählen (bspw. bei 31),
die 100er Struktur wurde z.B. verwendet, um 100 oder 92 zu bestimmen. Die
5er Struktur wurde z.B. genutzt, um bei 76 die 6 quasi-simultan zu erfassen.
Bei den Kindern ohne RS nutzten fast alle Kinder auch die 50er Struktur: So
zählten sie bspw. bei 54 nicht die Reihen ab, sondern erkannten auf einen
Blick, dass es sich um 50 handelte. Bei den Kindern mit RS zeigte sich ein
etwas anderes Bild. Hier nutzte nur die Hälfte der Kinder die 50er Struktur
bei entsprechenden Aufgaben. Die anderen Kinder zählten zum Großteil die
Reihen ab. Jedoch zeigte sich auch, dass einzelne Kinder offenbar nie auf die
10er-Stuktur zurückgriffen, indem sie Reihen zählten. Diese Kinder zählten
offenbar stets ausschließlich 5er – was das Ermitteln von Anzahlen langwie-
rig und fehleranfällig machte. Dieses Ergebnis ist bemerkenswert, da es sich
um Fünftklässler handelte, die zudem angaben, mit dem Material aus der
Grundschule vertraut zu sein. Es passt jedoch zu den Ergebnissen von Moser
Opitz (2013), dass rechenschwache Kinder in der Sekundarstufe durchaus
noch Schwierigkeiten mit dem mathematischen Basisstoff haben können.
Auch die Vorgehensweisen unterschieden sich zwischen den beiden Grup-
pen durchaus. Bei der Anzahlbestimmung von 54 bestimmte bspw. bei den
Kindern ohne RS etwa die Hälfte der Kinder die 50 mit einem Blick (quasi-
simultan), die andere Hälfte zählte die Reihen ab. Die 4 wurde anschließend
von allen Kindern dieser Gruppe simultan erfasst. Bei den Kindern mit RS
zählten die meisten Kinder die Reihen ab und nur zwei Kinder erfassten die
50er Struktur auf einen Blick. Einzelne Kinder zählten alle 5er. Das Erfassen
der 4 erfolge z.T. simultan – z.T. zählten die Kinder auch die Einer. Insge-
samt zeigte sich bei den Kindern ohne RS eine flexiblere, aufgabenadäqua-
tere Nutzung von Vorgehensweisen, während bei den Kindern mit RS einige
für jede Aufgabe die gleiche Strategie nutzten. Zudem zeigte sich, dass die
Kinder mit RS häufiger ihre Vorgehensweisen mehrfach wiederholten – z.B.
nachzählten – was auf Unsicherheiten hindeuten könnte.
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Ausblick
Die vorliegende explorative Studie deutet darauf hin, dass FünftklässlerIn-
nen mit und ohne RS sich in ihren Vorgehensweisen zur Anzahlerfassung
am 100er Feld und Rahmen und in der Strukturnutzung mitunter unterschei-
den. Zudem zeigte sich, dass das ET einen Mehrwert für die Diagnostik von
Schwierigkeiten im Rechnenlernen zu bieten scheint. Auch wenn die Aus-
wertung von Eye-Tracking Daten nicht trivial ist und die Daten durchaus
ambig sein können (Schindler & Lilienthal, 2017), hat das ET großes Poten-
tial – gerade bei Lernenden mit sprachlichen Schwierigkeiten (z.B. mit Mig-
rationshintergrund) und Lernenden, die unsicher oder ängstlich sind, ihre
womöglich fehlerhaften oder als nicht erwünscht erlebten Vorgehensweisen
zu äußern (Schindler & Lilienthal, 2018). Hier ermöglicht das ET Einblicke,
die mit Methoden wie dem Lauten Denken u.U. nicht erlangt würden (ebd.).
Für die Diagnostik von Rechenschwierigkeiten scheint daher eine Triangu-
lation von Methoden wie dem Lauten Denken und ET angezeigt.
Literatur
Lindmeier, A., & Heinze, A. (2016). Strategien bei der Anzahlerfassung in strukturierten
Zahldarstellungen – eine vergleichende Eye-Tracking Studie. In Institut für Mathema-
tik und Informatik der PH Heidelberg (Hrsg.), Beiträge zum Mathematikunterricht
2016 (S. 1381–1384). Münster: WTM.
Moser Opitz, E., Freesemann, O., Prediger, S., Grob, U., Matull, I., & Hußmann, S.
(2016). Remediation for students with mathematics difficulties: An intervention study
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Wartha, S., & Schulz, A. (2017). Rechenproblemen vorbeugen. Berlin: Cornelsen.
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