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Dogma.

Authors:
Sonderdruck aus:
Handbuch
religionswis s ens ch aftlicher
Grundbegrlffe
herausgegeben von
Hubert Cancik
Burkhard Gladigow
Matthias Laubscher
Band II
Alle Rechte vorbehalten
@ 7990 W. Kohlhammer GmbH
Stuttgart Berlin Köln
Printed in Germany
Dogma
1. Kennzeichnend für den gegenwärtigen Gebrauch des Begriffes ,Dogma. ist seine
Arnbivalenz. In der christlichen Theologie gibt Dogma seit dem 16.Jh. immer häufiger
den mittelalterlichen Ausdruck articulus fidei wieder und ist im Sinne eines von Gott
offenbarten und von der Kirche verkündeten Glaubenssatzes zu verstehen, dessen
Anspruch auf unbedingte'§Tahrheit es erlaubt, ,Häresien. zu erkennen und zu ver-
werfen.
Für die Aufklärer sind'Dogmen. unkritisch angenommene und mit Intoleranz vertretene
Lehrrneinungen oder Anschauungen; in der Folge wird der Begriff im nichttheologischen
Kontext fast ausschließlich im Hinblick auf den von der Aufklärung geprägten und
ebenfalls negativ besetzten Terminus ,Dogmatismus( gebraucht. Teils im Rückgriff auf
die antike Bedeutung ,philosophischer Lehrsatz., teils in Übertragung der neuzeitlich
theologischen Bedeutung bezeichnet man als ,Dogma. auch die zentralen Bekenntnisse -
z. B. die Shahada des Islam - bzw. Grundüberzeugungen - z. B. die ,vier 'Wahrheitenn
des Theravada-Buddhismus - nichtchristlicher Religionen; ein derartiger Gebrauch ist
freilich wegen der Konnotationen aus der weitgehend christlichen Prägung des Begriffes
religionswissenschaftl ich u mstritten.
2. Für das zunr griechischen Verb dokein - scheinen - gehörende Substantiv dogmaldßt
sich eine Grundbedeutung ,was als richtig erschienen ist. annehmen. Dogma im antiken
Sinne bezeichnet (a) eine Meinung, bzw. die daraus abgeleitete pl.rilosophische Lehre,
(b) den Beschluß, bzw. die Veröffentlichung des Beschlusses (Verordnung, Edikt),
(c) eine religiöse Lehre oder die göttliche Verordnung der Tora im hellenistischen
Judentum. Bei PmroN und in der Bibel ist das §üort selten. Die Stoa präzisiert den Begriff
als ein der skeptischen epochö (Urteilsenthaltung) entgegengesetztes Verstandesurteil.
JusrrN (t ca. 165) gebraucht den Begriff polernisch, um die Lehren der sich im Christen-
tum bildenden ,häretischen, Schulen - in Analogie zu den Philosophenschulen - zu
definieren. Obwohl cler Gebrauch von Dogma im Sinne einer kirchlich sanktionierten
Lehre bereits in der Patristik bezeugt ist, war der im ganzen selten anzutreffende
Terminus im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein vorwiegend der Typisierung von
unorthodoxen theologischen Lehren vorbehalten.
Entscheidend für die §Teiterentwicklung des Begriffes in der Theologie war die \Tieder-
entdeckung von VrNzsNz voN LERTNUM (f vor 450) im 16. Jh. Dieser spricht ausdrück-
lich von einem von Gott offenbarten, der Kirche anvertrauten und als Auslegungskrite-
rium der Schrift dienenden dogma catholicum. Die Rezeption dieser Bestimmung zur
Zeit der Konzils von Trient hat das katholische Verständnis von ,Dogma. bis heute
geprägt und damit - bei aller von Schrift-, Traditions- und Kirchenverständnis gebote-
nen Modifizierung - auch seine Verwendung in der protestantischen Theologie bedingt.
\m »Cat1chisme positiuiste", der als Einleitung in die "Religion der Menschheit. dienen
soll, bestimmt Aucusre Couru ,Dogma. als "l'ölaboration thöorique, destinöe ä nous
faire connaitre l'ordre fondamental et le Grand-Etre qui le modifieo und setzt damit die
theologische Verwendung des Begriffs im Bereich der postchristlichen, philosophisch
gestifteten Religionen fort.
232 Dogma
3. Der von der Kirche vertretene §Tahrheitsanspruch der Dogmen bot der aufkläreri-
schen Religionskritik eine breite Angriffsfläche. Diese griff bei ihrer teils historisch-
exegetischen, teils philosophischen Dogmenkritik auf reformatorisches und deistisches
Gedankengut zurück. W'as Benucs DE SprNozA begonnen harte, endet in einer die
Religion in die Philosophie aufhebenden spekulativen Neuinterpretation der Zertral-
dogmen des Christentums bei Hccrr.
Der Erweis der Zeitbedingtheit von dogmatischen Formulierungen und Definitionen hat
auf katholischer Seite zwar zD einer Betonung der Geschichtlichkeit der Dogmen
geführt; diese wird jedoch im traditionellen Sinne als vom Lehramt geleitete Enrwick-
lung zurn tieferen und expliziteren Verständnis der Offenbarungswahrheit verstanden.
Der evangelische Kirchenhistoriker Aoorr voN HenNecK har dagegen das dogmatische
Christentum als eine Entwicklungsstufe dargestellt, der er grundsätzlich kritisch gegen-
übersteht. "Die Dogmengeschichte macht bei Luther haIt", denn mit der Reformation
trete der evangelische Glaube an die Stelle des Dogmas. "Alle Autoritäten, welche das
Dogma begründen, sind niedergerissen - wie sollte sich da das Dogma als unfehlbare
Lehre zu halten vermögen, was aber ist ein Dogma ohne Unfehlbarkeit?«
Literatur
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J.Edgar Bawer
---> Aufklcirwng, D eismus, Toleranz
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Hellenisierung und Judaisierung des Christentums als Deuteprinzipien der Geschichte des christlichen Dogmas
  • A Gnrrrunren
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  • H R Scurntru
Scurntru, H. R., Dogmengeschichte und Geschichtiichkeit des Dogmas, in: V. BBnNrNc u. a., Geschichtlichkeit und Offenbarungswahrheiten, 1964. J.Edgar Bawer ---> Aufklcirwng, D eismus, Toleranz