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Parlamentsstenografen und NS-Diktatur Teil 3: Protokollierung von Recht und Unrecht

Authors:
  • Deutsche Thomas-Gesellschaft
1
NEUE STENOGRAFISCHE PRAXIS
Zeitschrift des Verbandes der Parlaments- und Verhandlungsstenografen e. V.
63. Jahrgang, 1/2015
Parlamentsstenografen und NS-Diktatur
Teil 3: Protokollierung von Recht und Unrecht
Dr. Detlef Peitz (Berlin)
Selbst im wissenschaftlichen Diskurs
wenig Beachtung erfuhren bislang die
umfangreichen Protokolle, die zu
Rechtsetzung, bei Gerichtsverfahren
und zu Verwaltungshandeln während
der NS-Zeit entstanden sind. Erst recht
nicht thematisiert wurden in den we-
nigen Veröffentlichungen diejenigen,
die diese Protokolle erstellten, nämlich
die Stenografen aus dem ehemaligen
Preußischen Landtag und dem Reichs-
tag. Da Protokollierung parlamenta-
rischer Vorgänge nicht mehr anel,
konnten die Parlamentsstenografen
von den NS-Machthabern für vielfäl-
tige andere Aufgaben in Regierungs-
und Parteistellen und in der nach und
nach ebenfalls gleichgeschalteten Jus-
tiz he rangezogen werden. Im Bereich
Rechtsprechung, Rechtndung und
Rechtsetzung – wobei der Begriff
„Recht“ im Sinne der Nationalsozialis-
ten immer mehr gedehnt wurde –
waren die ehemaligen Parlamentsste-
nografen insbesondere bei NS-(Schau-)
Prozessen, bei den Plenar- und Aus-
schusssitzungen der Akademie für
Deutsches Recht sowie bei Regierungs-
konferenzen tätig, wobei der Über-
gang zu Parteiveranstaltungen durch-
aus ießend war.
Ordentliche Gerichtsverfahren und
Schauprozesse
Zur stenograschen Aufnahme von
Gerichtsverhandlungen – bis 1933 eine
Domäne freiberuich tätiger Steno
grafen – von besonderem öffentlichen
oder regierungsamtlichen Interesse
wurden die Reichstagsstenografen
über die ganzen Jahre des NS-Regimes
dienstlich verpichtet. Inwieweit dabei
die im ersten Teil des Aufsatzes1 ge-
schilderten positiven Erfahrungen, die
Hitler mit Stenografen vor Gericht
gesammelt hatte, eine Rolle spielen,
lässt sich nur vermuten. Im Eden-
palast-Prozess von 1931 jedenfalls war
Hitler durch einen der Nebenankläger,
nämlich Hans Litten – deswegen häu-
g auch als LittenProzess apostro-
phiert2 –, in mehrstündigen Befragun-
1 Vgl. Teil 1 dieser Artikelserie, in: NStPr 62 (2014), H. 1, 13.
2 Hans Litten (*19.06.1903 in Halle/Saale, † 05.02.1938
Selbstmord in Dachau) – Auf die geschilderten Zusam-
menhänge wurde Vf. erst durch die am 21.03.2014
ausgestrahlte Fernsehdokumentation Hitler vor Gericht
– Die Geschichte von Hans Litten, Hardy Pictures/ZDF
2011, 45 Min, aufmerksam. Das ansonsten sehr infor-
mative Buch von Benjamin C. Hett, Crossing Hitler, The
man who put the Nazis on the witness stand, New
York 2008, geht leider nicht auf die bei diesem Prozess
2Neue Stenografische Praxis | 1/2015
gen bis an den Rand einer Anklage
gebracht worden, der sich Hitler nur
durch Berufung auf die von den von
ihm beauftragten Stenografen wörtlich
festgehaltenen Vorhaltungen entzie-
hen konnte. Diese deutete Goebbels
nämlich spitzndig in falsche Sachver-
haltsdarstellungen um und schlachtete
das dann in den Parteizeitungen pro-
pagandistisch aus.
Max Dorn, einer der beiden Stenogra-
fen, der damals für Hitler stenograert
hatte, hatte bei den Rechtsberatern Hit-
lers wohl nachhaltig Eindruck hinter-
lassen. Er machte ab 1933 Karriere als
persönlicher Sekretär des Reichskom-
missars für die Gleichschaltung der
Justiz und für die Erneuerung der
Rechtsordnung (seit April 1933) Dr.
Hans Frank, der in Personalunion Lei-
ter der Rechtsabteilung der NSDAP
und bayerischer Justizminister (März
1933 bis zur Auösung der Länder im
Dezember 1934) war. Gleichsam von
höchster Ebene stellte Dorn in der NS-
Hauszeitschrift unter der Überschrift
„Rechtspege und Schnellschrift“ die
Bedeutung der Stenograe in der
Rechtspege heraus:
Der Reichsjustizkommissar, Staats-
minister Dr. Frank, hat die ungeheure
Bedeutung auch der Stenographie klar
erkannt. Er hat mit Entschiedenheit
zum Ausdruck gebracht, daß die Steno-
graphie aus ihrer Aschenbrödelrolle
befreit werden müsse und daß er auf
eine Steigerung der stenographischen
Leistungsfähigkeit aller Justiz beamten
und der Richter größten Wert lege. (…)
von Meidinger und Dorn gefertigten stenografischen
Wortprotokolle ein.
Das nach außen hin am meisten in die
Erscheinung tretende Anwendungs-
gebiet der Stenographie im Aufgaben-
kreis der Justiz ist die Protokollfüh-
rung im Prozeß. Die Anforderungen
sind teilweise außer ordentlich groß
und werden nur allzuoft unterschätzt.
Zu solchen Protokollführungen wur-
den auch die Reichstagsstenografen
herangezogen. So soll nun zunächst
der Blick auf einige dieser Schaupro-
zesse gelenkt werden.
Von September bis Dezember 1933
wurde der Reichstagsbrandprozess
durchgeführt. Die NS-Regierung hatte
als Zielvorgabe dieses Prozesses ins
Auge gefasst, dass in ihm der Reichs-
tagsbrand vom Februar 1933 als kom-
munistisches Komplott erwiesen und
die vor der Wahl im März 1933 einge-
leitete Verhaftungswelle von Nazigeg-
nern – insbesondere Kommunisten
und ihnen Nahestehenden wie bei-
spielsweise auch Hans Litten als häu-
ger Prozessvertreter aufseiten der
Kommunisten – nachträglich gericht-
lich legitimiert würde. Indem die Na-
tionalsozialisten alle Aussagen vor
Gericht wörtlich mitstenograeren lie-
ßen, erhofften sie sich vor allem
Möglichkeiten zur propagandistischen
Ausschlachtung wie zur medialen
Bloß stellung der Angeklagten.
Inwieweit die Stenografen schon in die
Voruntersuchungen zum Reichstags-
brand, bei denen über 500 Zeugen ver-
nommen und 32 Aktenbände erstellt
wurden, eingebunden waren, lässt sich
nicht mehr sagen. Den vom 21. Sep-
tember bis 23. Dezember 1933 stattn-
denden eigentlichen Prozess stenogra-
erten jedenfalls insgesamt bis zu zehn
3
Reichstagsstenografen mit. Namentlich
eruiert werden konnten die Reichstags-
stenografen und Gabelsbergerianer
Dr. Ewald Reynitz3 und Dr. Vinzenz
Koppert4 sowie der schon erwähnte
Fachgruppenführer und nachmalige
Leiter des Stenografenbüros im Reichs-
tag Ludwig Krieger5.
Die ersten Verhandlungen fanden vor
dem Reichsgericht in Leipzig statt. Es
waren zunächst sieben Stenografen
3 Ewald Otto Reynitz (*22.08.1901 in Braunschweig,
† nach 1990), 1922 Abitur, 1924 Hilfsstenograf beim
Stenografischen Landesamt Braunschweig, ab 1924
Studium der Volkswirtschaft in Berlin, 1926 Stenogra-
fenanwärter beim Reichstag, 1929 Promotion zum
Dr. phil. in Berlin, 1929 Hilfsstenograf beim Reichs-
tag, 03/1941 Einberufung zur Wehrmacht, 09/1941
Reichstagsstenograf, 1945 für amerikanische Stellen in
Dachau tätig, 1949 Bundestagsstenograf, 1964 bis zur
Pensionierung 1965 Leiter des Stenografischen Diens-
tes des Bundestages. – Vgl. BArch R 601/2188 Akte
1941; G. He[rrgesell], Dr. Ewald Reynitz im Ruhestand,
in: NStPr 13 (1965), H. 1, 18 f.
4 Vinzenz Koppert (*16.06.1894 in München,
14.05.1969 ebd.), 1914 Abitur, bis 1918 Wehrdienst,
dann Studium der Rechts- und Staatswissenschaften
in München, 1920 Referendar, 1922 Dr. jur. et rer.
pol. an der Universität Würzburg, 1924 Assessor, seit
1920 Vertragsstenograf im Bayerischen Landtag, 1927
Reichstagsstenograf, ab 1945 Stenograf beim Magist-
rat von Groß-Berlin, 1947 Ernennung zum Direktor der
Bayerischen Landesanstalt für Kurzschrift und damit
zugleich Leiter des Stenografischen Dienstes in Mün-
chen, 1953 Leiter des Stenografischen Dienstes des
Deutschen Bundestages, 1958 Pensionierung. – Vgl.
Kr[ieger], Regierungsdirektor Dr.Koppert 60Jahre, in:
NStPr 2 (1954), H. 3, 119 f. – S. 119 auch der Hinweis
auf seine Tätigkeit beim Reichstagsbrandprozess –,
Pe[schel], Dr.Koppert im Ruhestand, in: NStPr 7/1
(1959) 38–40; Ost[ermeyer], Zum Tode von Dr.Vinzenz
Koppert, in: NStPr 17 (1969), H. 3, 62–64; N. N., Regie-
rungsdirektor Dr. Koppert †, in: Bayerische Blätter für
Stenographie [BBl] 102 (1969), H. 6, 95 f.; E. Dankerl,
Ein Münchner baute nach dem Krieg den Stenografi-
schen Dienst im Deutschen Bundestag auf, in: BBl 133
(2000), H. 3, 36–39, H. 4, 53–56.
5 Zur Tätigkeit beim Reichstagsbrandprozess vgl. K. Thöt,
In memoriam Ludwig Krieger, in: NStPr 22 (1974), H. 3,
62–70.
hinzugezogen worden; aus diesen
wurden drei Paare gebildet, die sich
jeweils halbstündlich abwechselten. Es
stenograerten also jeweils zwei Ste
nografen gleichzeitig. In der Fach-
zeitschrift Blitz des Stenograesystems
Stolze-Schrey wird das weitere Verfah-
ren wie folgt beschrieben:
Die Uebertragung erfolgte ebenso wie
im Parlament sofort nach der Ab-
lösung in den Kanzleiräumen des
Reichsgerichts. Die auf Eierpapier
hergestellte Maschinenniederschrift
wurde dann ohne weitere Durchsicht,
abgesehen von der des Stenographen
selbst, vervielfältigt, sodaß einige
Stunden nach Schluß der Sitzung (die
Sitzungen dauerten gewöhnlich von
halb 10 bis gegen 3 Uhr mit einer etwa
halbstündigen Pause) das ganze
Protokoll in der erforderlichen Anzahl
von Stücken für die Prozeßbeteiligten,
d. h. den Senat, die Reichsanwalt-
schaft, die Verteidiger und die Regie-
rung, fertig vorlag.6
Originale der stenograschen Proto-
kolle der insgesamt 57 Sitzungstage be-
nden sich jetzt wieder in Berlin, und
zwar im Bundesarchiv in Lichterfelde;
aber auch die Stasi-Unterlagen-Behör-
de besitzt Originalmitschriften einiger
Verhandlungstage.
Auch wenn bei diesem Prozess erst-
mals die Aufnahme einer Gerichts-
verhandlung auf aus Wachs hergestell-
ten Schallplatten stattfand, wurde die
so bespielten Wachsplatten aufgrund
technischer Unzulänglichkeiten nicht
6 Zitat aus N. N., Die Kurzschrift im Reichstagsbrand-
Pro zeß, in: Wiener Stenographen-Zeitung 33 (1933),
H. 12, 85.
4Neue Stenografische Praxis | 1/2015
zur stenograschen Übertragung he
rangezogen,7 allerdings für Rundfunk-
übertragungen benutzt. Eine zeitgenös-
sische Einschätzung der Qualität der
Aufnahmen ndet sich ebenfalls in der
gerade zitierten Zeitschrift:
Stellenweise war die Wiedergabe recht
gut und deutlich, an anderen Stellen
aber stark beeinträchtigt durch alle
möglichen Nebengeräusche … Außer-
dem sind manche Ausführungen, die
nicht direkt ins Mikrophon gesprochen
wurden … teilweise oder ganz verloren
gegangen. Jedenfalls hat sich gezeigt,
daß die Aufnahme auf Schallplatten …
nicht imstande ist, das wörtliche
Stenogramm zu ersetzen. Hinzu
kommt noch, daß ein bequemes
Nachlesen oder Nachschlagen einzel-
ner Stellen nur bei einer gedruckten
Unterlage möglich ist.
Mit der Verlegung des Prozesses ab
10. Oktober 1933 von Leipzig nach Ber-
lin, und zwar in den ehemaligen Saal
des Haushaltsausschusses im Reichs-
tagsgebäude, der für diesen Zweck
wiederhergerichtet worden war,8 pro-
tokollierten zehn Stenografen in fünf
Paaren die Verhandlungen (Sitzungen
13 bis 41) mit, so auch die Sitzung am
4. November, in der der später freige-
sprochene Angeklagte Dimitrov, bul-
7 Vgl. N. N., Der Reichstagsbrandprozeß, in: StPr 22
(1933), H. 3, 65: „Neben der stenographischen
Aufnahme werden die Verhandlungen fortlaufend auf
Wachsplatten aufgenommen. Soweit sie gelungen
sind, werden regelmäßig wichtige Abschnitte dieser
Aufnahmen über alle deutschen Sender verbreitet.“,
sowie L. Krieger, Maschinenschriftliche und technische
Aufnahme von Gerichtsverhandlungen, in: Mittei-
lungsblatt der Fachgruppe Verhandlungsstenografen in
der Deutschen Stenografenschaft 1936/4, 45.
8 Vgl. N. N., Der Reichstagsbrandprozeß, ebd.
garischer Kommunist und KPÖ-Vor-
sitzender, der sich beim Brand illegal
in Deutschland aufhielt, den Zeugen
Göring mit Fragen und Zwischenrufen
so in die Bredouille brachte, dass sich
der Eindruck eines Schauprozesses im
Ausland immer mehr verstärkte. Die
Stenografen erbrachten hier durch die
Protokollierung der rasanten Wortge-
fechte, der Zwischenrufe, von Beifällen
und Heiterkeit sowie der Reaktionen
im Zuschauerraum eine Höchstleis-
tung; so sind gerade Auszüge dieses
Tages auch mehrfach gedruckt wor-
den.9
66 Jahre nach diesem Prozess waren
übrigens wieder Stenografen in diesem
Saal, nunmehr Großer Protokollsaal
genannt, tätig: Nach dem Berlin
Umzug bis zur Fertigstellung der nach
dem damaligen Zentrumspolitiker und
späteren Widerstandskämpfer Jakob
Kaiser benannten neuen Verwaltungs-
gebäude an der Dorotheenstraße arbei-
9 Vgl. etwa Fritz Tobias, Der Reichstagsbrand – Legende
und Wirklichkeit, Rastatt 1962, S. 380 ff.
Auftritt Görings (mit dem Rücken zum Betrachter
stehend, die Fäuste in die Taille gedrückt) beim
Reichtstagsbrandprozess
5
tete hier während der Plenarsitzungen
der Stenograsche Dienst des Deut-
schen Bundestages in durch Stell-
wände abgetrennten Kabinen.
Am 18. November 1933 fand letztmals
eine Verhandlung im Reichstag statt;
zu den nachfolgenden zehn Sitzungen
ab 23. November 1933 mit Schluss-
plädoyers und Urteilsverkündung am
23. Dezember tagte das Gericht wieder
in Leipzig. Hitler hatte in seiner Regie-
rungserklärung am 23. März noch die
Forderung erhoben,
… nichts unversucht zu lassen, um in
kürzester Frist dieses Verbrechen
durch die öffentliche Hinrichtung des
schuldigen Brandstifters und seiner
Komplizen zu sühnen.
(Lebhafter Beifall bei den Nationalsozia-
listen und den Deutschnationalen)10
Hierfür war eigens ein Gesetz, das die
nachträgliche Bestrafung der Reichs-
tagsbrandstifter ermöglichen sollte, er-
lassen worden. Doch die Wucht dieses
alle rechtsstaatlichen Prinzipien miss-
achtenden Gesetzes traf nur Marinus
van der Lubbe, der zum Tode verur-
teilt und am 10. Januar 1934 hingerich-
tet wurde. Alle anderen Angeklagten
von der Kommunistischen Partei wur-
den freigesprochen und nach ihrer
Freilassung in Russland wie Helden
empfangen. Ob es Mittäter gab und
von welcher Seite diese kamen, ist bis
heute nicht zweifelsfrei erwiesen.11
10 Verhandlungen des Reichstags. VIII. Wahlperiode
1933, Bd. 457, Berlin 1934, 26 C
[www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w8_
bsb00000141_00030.html (11.02.2015)].
11 In der jüngsten Veröffentlichung hierzu von Benjamin
Der nächste große Schauprozess, den
die Reichstagsstenografen zu proto-
kollieren hatten, war der sogenannte
Rundfunkprozess vom 5. November
1934 bis Juni 1935. In diesem ging es
dem Reichsminister für Volksaufklä-
rung und Propaganda Dr. Joseph
Goebbels darum, mit den für den
System-Rundfunk“ der Weimarer
Republik Verantwortlichen abzurech-
nen, insbesondere mit dem ehemaligen
Staatssekretär im Reichspostminis-
terium, Rundfunkkommissar Hans
Bredow, der zeitgleich mit der Ernen-
nung von Hitler zum Reichskanzler
zurückgetreten war, und mit dem seit
1929 amtierenden Berliner Rundfunk-
Intendanten Dr. Hans Flesch. Als Ste-
nografen wurden neben weiteren wie-
derum Koppert und Krieger eingesetzt.
Der Vorwurf lautete „Verschleuderung
von Geldern“. Der Prozess endete nach
89 Verhandlungstagen allerdings in
einem Fiasko für die Ankläger und die
NS-Propaganda. Von 53 Anklagepunk-
ten hatten nur 4 vor Gericht Bestand.
Und:
Die Strafe für Bredow und die übrigen
Angeklagten fällt so aus, daß sie propa-
gandistisch nichts hergibt und im übri-
gen durch die Untersuchungshaft ver-
büßt ist. 1937 hebt das Reichsgericht
in der Revision das Urteil teilweise auf
und ordnet neue Verhandlung der
Erstinstanz an; diese stellt allerdings
im März 1938 das Verfahren ein.12
C. Hett, Burning the Reichstag. An Investigation into
the Third Reich’s Enduring Mystery, Oxford 2013, fin-
det sich eine plausible Indizienkette; ein letztgültiger
Beweis wird sich aufgrund des Ablebens aller damals
Involvierten aber wohl nicht mehr erbringen lassen.
12 Hans-Jürgen Koch/Hermann Glaser, Ganz Ohr:
Eine Kulturgeschichte des Radios in Deutschland,
Köln 2005, 193; siehe auch 89.
6Neue Stenografische Praxis | 1/2015
Über den Verbleib der Protokolle der
Verhandlungen, die auch im Ausland
starke Beachtung fanden,13 ließ sich lei-
der nichts in Erfahrung bringen; auch
in der einschlägigen Literatur zu die-
sem Prozess wird kein Bezug auf sie
genommen. Bredow jedenfalls betrau-
ten die Amerikaner im April 1945 mit
dem Amt des Regierungspräsidenten
von Nassau, und er spielte auch in
der Nachkriegszeit beim Wiederauf-
bau des Rundfunks in Deutschland
eine bedeutende Rolle.
Nach diesen beiden propagandistisch
bzw. außenpolitisch durchaus als De-
bakel für das Regime zu bezeichnen-
den Prozessen wurde zunächst kein
weiterer Schauprozess zu Propaganda-
zwecken inszeniert. Auch über die Pro-
tokollierung von anderen Verfahren
durch ehemalige Parlamentsstenogra-
fen ist nichts bekannt. Erst knapp drei
Jahre später gab es wieder Gerichtsver-
fahren, deren Verhandlungen steno-
grasch protokolliert wurden, diesmal
allerdings wohl mehr aufgrund per-
13 Vgl. etwa Der Staatsanwalt fordert Gefängnis für die
Hauptangeklagten, in: Pariser Tageblatt 3 (1935),
Nr. 485 (11.04.1935) 2 C.
sönlichen Interesses der Reichsfüh-
rung.
Hier ist zunächst der seit Oktober 1937
mehrfach verschobene Niemöller-Pro-
zess, also der Prozess gegen Martin
Niemöller, den Gründer des Pfarrer-
notbundes, vor einem Sondergericht in
Berlin-Moabit zu nennen, bei dem als
Ankläger kurioserweise drei Reichs-
minister, nämlich Reichskirchenminis-
ter Kerrl, Reichspropagandaminister
Goebbels und Reichsjustizminister
Gürtner, fungierten.14 Am 7., 8. und
19. Februar sowie am 2. März 1938 hielt
unter anderem wieder das bewährte
Gabelsberger-Team Reynitz, Koppert
und Krieger die Aussagen vor Gericht
stenograsch fest. Reynitz gibt in der
Rückschau an, dass er als Lutheraner
außerordentlich interessiert an dem
Prozess war und in diesem Verfahren
auch von den Niemöller zur Last geleg-
ten Vorwürfen, in Predigten Vorgehen
von Nationalsozialisten und speziell
Misshandlungen von Juden angepran-
gert zu haben, hörte.15
14 Vgl. W. Niemöller, Macht geht vor Recht. Der Prozeß
Martin Niemöllers, München 1952, sowie H. Buch-
heim, Ein NS-Funktionär zum Niemöller-Prozess, in:
vfzg 3 (1956) 307–315. Hier geht es um die Rolle des
ehem. Theologiestudenten und damaligen Kirchenre-
ferenten im Amt Rosenberg, SS-Obersturmführer Dr.
Matthes Ziegler, während des Prozesses.
15 Vgl. Horace R. Hansen, Witness to Barbarism, St. Paul/
Minnesota 2002, 205: “I was one of the reporters at
his second trial before a Nazi special court. A Luthe-
ran myself, I was particularly interested in the trial,”
Reynitz continues. “Gestapo men testified against
him, saying they attended his services where he spo-
ke from the pulpit against Nazi actions and especially
about mistreatment of the Jews. Niemoeller testified
firmly in his own defense about people being put in
concentration camps without a trial, among other
things.”
Reichsrundfunkkommissar Dr. Hans Bredow bei
einer Grundsteinlegung im Jahre 1929
Bundesarchiv, Bild 102-07834 / CC-BY-SA
7
Es ging in diesem Prozess allerdings
nicht in erster Linie um die Abrech-
nung mit einem Regimekritiker, son-
dern um das Eintreten des Pfarrer-
notbundes für die „Unabhängigkeit
des kirchlichen Bekenntnisses gegen-
über der nationalsozialistischen Staats-
räson“16 und damit die Ablehnung der
nationalsozialistischen Glaubensbewe-
gung „Deutsche Christen“ und von
Person und Amt des Reichsbischofs.
So verwundert es nicht, dass der Pro-
zess von einem großen Medienecho,
auch im Ausland, begleitet wird. Die
Strafe fällt dann so milde aus, dass sie
mit der Untersuchungshaft abgegolten
ist. Auf Befehl Hitlers wird Niemöller
aber gleich aus dem Untersuchungsge-
fängnis ins KZ verbracht. Als ehemali-
ger U-Boot-Kommandant und Verfas-
ser eines im Sinne des Regimes recht
heroischen Buches über diese Zeit ge-
nießt er jedoch noch immer eine gewis-
se Achtung unter NS-Größen – so wird
er in einem Gespräch zwischen Hitler,
Goebbels und Himmler im Dezember
1940 erwähnt17 – und erhält als Häft-
ling im sogenannten Prominentenblock
von Dachau eine Sonderbehandlung.
Ebenfalls von Interesse für die Reichs-
führung ist das Verfahren gegen
Generaloberst Freiherr von Fritsch
aufgrund von Vorwürfen wegen Ho-
mosexualität im März 1938. Diesem
Prozess vor dem Ehrengericht des
Reichskriegsgerichts saß auf Geheiß
16 Karl Brauer, Mit Bibel und Pistole: Eugen Gersten-
maier im Widerstand gegen den Nationalsozialismus,
in: Historisch-Politische Mitteilungen 21 (2014) 349–
378, hier S. 360 [http://dx.doi.org/10.7788/hpm-2014-
0118].
17 Vgl. den von einem Stenografen erfassten Eintrag
in den Goebbels-Tagebüchern vom Freitag, dem
20.12.40.
Hitlers Göring vor, und es fand in des-
sen neugebautem Ministerium, dem
Reichsluftfahrtministerium, dem heu-
tigem Bundesministerium der Finan-
zen, statt. Unter strengster Geheim-
haltung stenograerten Koppert und
Krieger mit;18 letzterer berichtet knapp
20 Jahre später eine für die NS-Ge-
richtsbarkeit bezeichnende Episode
aus diesem Verfahren:
Auf eine eindringliche Vorhaltung des
Vorsitzenden, die Wahrheit zu sagen,
drehte sich der Hauptbelastungszeuge
ängstlich zu den im Hintergrund des
Saales sitzenden Kriminalbeamten um
und sagte dann zu Göring mit der
Gebärde des Aufhängens: „Mir ist
doch gesagt worden: wenn ich etwas
anderes sage, dann fahr’ ich gen
Himmel!“ Die vernichtende Schärfe
der folgenden Bemerkung Görings –
der wohl die Hintergründe des Prozes-
ses schon kannte – an die Adresse
dieser Kriminalbeamten ist mir noch
im Ohr: „Meine Herren!“ – Der Zeuge
gab dann eine Erklärung ab, aus der
sich die völlige Haltlosigkeit der
erhobenen Anschuldigungen ergab.
Fritsch wurde dadurch rehabilitiert.19
Im Kriegsjahr 1942, in dem sich das
Regime auf dem Höhepunkt der Macht
wähnte, plante man, den Prozess ge-
gen Herschel Grynszpan bzw. Grün-
span, der am 8. November 1938 in Paris
den damaligen deutschen Botschaftsrat
Ernst vom Rath erschossen hatte, groß
zu inszenieren. Grünspan war nach
seinem Schulabschluss in Hannover
18 Vgl. K. Thöt, In memoriam Ludwig Krieger, a. a. O.
[Fn. 5], 66
19 H. Ferdinand, Fünfzig Jahre im Dienste des Parla-
ments, in: NStPr 5 (1957), H. 1, 27.
8Neue Stenografische Praxis | 1/2015
zunächst zu Verwandten nach Brüssel
gegangen und lebte dann bei seinem
Onkel in Paris.20 Nachdem er aufgrund
eines polnischen Gesetzes vom März
1938 seine polnische Staatsangehörig-
keit verloren hatte, sein Aufenthaltsti-
tel für Frankreich daraufhin nicht mehr
verlängert worden war, sein Heimat-
land Deutschland ihm die Wiederein-
reise verweigerte und er zugleich per
Postkarte von der Abschiebung seiner
Eltern aus Hannover nach Polen erfah-
ren hatte, saß er persönlich zwischen
allen Stühlen und entschloss sich wohl
zu einer Verzweiungstat in der Deut-
schen Botschaft. Einen Prozess in
Frankreich verhinderte der Kriegsbe-
ginn; zwar gelangte er noch in den un-
besetzten Teil Frankreichs, wurde aber
vom Vichy-Regime an deutsche Stellen
übergeben und von diesen in das KZ
Sachsenhausen und dann im Sommer
1941 in das Untersuchungsgefängnis
Berlin-Moabit gebracht. Nachdem von
der Reichsanwaltschaft zunächst Be-
denken geäußert wurden, ob der Fall
überhaupt in die Kompetenz des
Volksgerichtshofes falle, wurde 1942
ein Ministerialrat aus dem Propagan-
daministerium – also einer Dienststel-
le, zu deren Aufgabenbereich weder
Rechtsprechung noch Rechtsndung
gehörten – beauftragt, „den Prozeß
gegen den Mörder Grünspan unter
propagandistischen Gesichtspunkten
zu bearbeiten“, und Grünspan wurde
auf Befehl Hitlers von der Gestapo
dem Volksgerichtshof zur Aburteilung
übergeben.21
20 Vgl. Helmut Heiber, Der Fall Grünspan, in: vfz 5
(1957), H. 2, 141.
21 Ebd. 147.
Zu den äußeren Umständen, die den
Prozessbeginn immer wieder verzö-
gerten, gehörte neben der Heranbrin-
gung französischer Zeugen auch die
Frage der fremdsprachlichen Proto-
kollierung. Dieses Problem sollte auf
Geheiß von Goebbels in der Form
gelöst werden, dass man den ehema-
ligen Schweizer Bundesstenografen
Dr. Hellmuth Kittelmann22, der wegen
fortbestehender Mitgliedschaft in der
NSDAP gemäß Regierungsratsbeschluss
am 27.10.1938 mit Frau und drei min-
derjährigen Kindern aus zü richischem
Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht
und damit auch aus dem Schweizer
Bürgerrecht entlassen worden und
nunmehr in Berlin im Jus tizdienst tätig
war, am 8. Mai 1942 aufforderte, sich
bei dem Leiter des Stenografenbüros
des Reichstags, Ludwig Krieger, zu
melden,23 um die Modalitäten für sei-
nen Einsatz beim Grünspan-Prozess zu
klären. Doch nicht einmal eine Woche
22 Hellmuth Ernst Friedrich Kittelmann (*19.10.1891
in Dresden, † 20.03.1943 in Berlin), 1895 Umsied-
lung der Eltern nach Zürich, dort Abitur und ab WS
1910/11 Studium der Rechtswissenschaft, 1914 in
Zürich eingebürgert, 1916 Dr. iur. und Heirat, zunächst
stellv. Substitut am Bezirksgericht Zürich, 1926
Rechtsanwalt in Zollikon, dann in Zürich, 1932–35
Redaktor der Zeitschrift Schweizer Stenograph,
1933 Eintritt in die NSDAP, 1937 Umsiedlung nach
Berlin, nach Ablegung des deutschen Staatsexamens
am 27.03.1940 zum Landgerichtsrat, posthum am
23.12.1943 mit Wirkung vom 01.03.43 zum Land-
gerichtsdirektor ernannt. – Vgl. BArch R3001/63286
„Personalakte RM Justiz Jan 1938–“ sowie BArch ZB
II 6090 „Parteistatistische Erhebung 1939“.
23 Dass sich beide nicht unbekannt waren, geht aus der
Mitteilung von L. Krieger, Rubrik „Personal-Mitteilun-
gen“, in: Mitteilungsblatt der Fachgruppe Verhand-
lungsstenografen in der Deutschen Stenografenschaft
1940, H. 4, 39, hervor: „Dr. Hellmuth Kittelmann,
früher Stenograph der Schweizer Bundesversamm-
lung, zuletzt Rechtsanwalt in Berlin, ist am 27. März
d. J. vom Führer und Reichskanzler zum Landgerichts-
rat ernannt worden.“
9
später wird der Prozessauftakt auf
Anordnung von Hitler auf unbestimm-
te Zeit verschoben: Ob aus außenpoli
tischen Gründen, also um Frankreich
bei der „Kriegsschuldfrage“, die in
dem Prozess dem „Weltjudentum“ an-
gehängt werden sollte, nicht zu sehr zu
entlasten, oder wegen der Befürchtung,
dass der Angeklagte eine vorgebliche
homosexuelle Beziehung zu vom Rath
zur Sprache bringen würde, bleibt
dahingestellt. Das ganze Verfahren um
den möglichen Prozess wirft jedoch ein
Schlaglicht auf die Dinge, die bei NS-
Schauprozessen im Hintergrund ablie-
fen:
Die Juristen hatten in erster Linie
ihren Mordprozeß führen wollen, –
und den mit deutscher Gründlichkeit
und Akkuratesse … Erst nach Aus-
schaltung des Justizministeriums
konnten die Juristen dann beschränkt
werden auf die ihnen zustehende
dekorative Rolle, die Randbezirke eines
einwandfreien Politikums mit Para-
graphen zu verzieren.24
Bis zur perden Perfektion trieb dieses
Vorgehen der ehemalige Staatssekretär
im Justizministerium Roland Freisler,
der im Herbst 1942 Präsident des
Volksgerichtshofes wurde, eines Son-
dergerichts, das Hitler schon 1934 aus
Unzufriedenheit mit den Urteilen im
Prozess zum Reichstagsbrand gegrün-
det hatte und das bis 1935 zunächst im
Gebäude des Preußischen Herrenhau-
ses tagte. In erster Linie diente es dazu,
Entscheidungen über politische Straf-
taten wie Hochverrat oder Landesver-
rat außerhalb geordneter Gerichtsver-
24 Vgl. Helmut Heiber, a. a. O. [Fn. 20], 169.
fahren behandeln zu können, um im
wörtlichen Sinne mit Regimegegnern
kurzen Prozess zu machen; so war es
auch nicht möglich, Rechtsmittel ge-
gen Entscheidungen einzulegen. Logi-
scherweise war auch keine Öffentlich-
keit erwünscht. So war es vom Ziel und
Zweck her auch gar nicht opportun,
diese „Prozesse“ zu protokollieren.
Eine Ausnahme stellte der bekannteste
unter den vielen Schauprozessen am
Volksgerichtshof dar, nämlich der Pro-
zess gegen die Männer des 20. Juli.
Neben einer lmtechnischen Erfassung
wurden die Verhandlungen auf Geheiß
Hitlers komplett stenograsch aufge-
nommen. Hierzu wurden aus dem Ste-
nografenbüro des Reichstags zumin-
dest Peter Vossen25 sowie Dr. Vinzenz
Koppert abgeordnet; außerdem wurde
trotz der angespannten Kriegslage
Ludwig Krieger aus dem Führerhaupt-
quartier, wo er seit anderthalb Jahren
tätig war, abgezogen. Der auf den 7.
und 8. August 1944 terminierte Prozess
war von Propagandaminister Goebbels
sorgfältig vorbereitet worden, wie er in
seinem Tagebuch (4. August) vermerk-
te:
Zum Volksgerichtshof … werde ich
eine Reihe von erstklassigen Journalis-
25 Peter Vossen (*01.03.1888 in Stolberg, † 13.12.1963),
Sekretär des Stenographenverbandes Stolze-Schrey,
1912 Hilfsstenograf, 1918 planmäßiger Reichstags-
stenograf, 1945 stellv. Leiter, 1947–1949 Parlaments-
stenograf u. stellv. Leiter bei der Stadtverordneten-
versammlung von Groß-Berlin, 1950 Leiter des
Stenografischen Dienstes beim Deutschen Bundesrat,
1953 Pensionierung. – Vgl. Kr[ieger], Peter Vossen
65Jahre, in: NStPr 1 (1953), H. 1, 30–31, [R. Egge-
ling], Peter Vossen 75Jahre, in: NStPr 11 (1963), H. 1,
27, sowie Ders., Peter Vossen†, in: NStPr 11 (1963),
H. 4., 111 f.
10 Neue Stenografische Praxis | 1/2015
ten entsenden, die darüber einen
großartigen Bericht für die Öffentlich-
keit schreiben sollen. Ich selbst werde
Freisler noch am Sonnabend vorher
empfangen und werde ihn bestand-
punkten, wie der Prozeß vor sich zu
gehen habe. Es werden keine langatmi-
gen Verteidigungsreden und Debatten
geduldet; die Angeklagten haben nicht
die Möglichkeit, ein albernes Friedens-
gerede von sich zu geben …
Dass Koppert seine Arbeit als Steno-
graf bei diesem Prozess des Volks-
gerichtshofs später, als er als Leiter des
Stenograschen Dienstes des Parla-
mentarischen Rates tätig war, vorge-
halten worden sei, wird immer wie-
der kolportiert. So berichtet Christian
Bommarius, dass Koppert, als im Par-
lamentarischen Rat ein Film über die-
sen Prozess gezeigt worden sein soll,
von zwei kommunistischen Abgeord-
neten erkannt und ihm seine damalige
Tätigkeit vorgeworfen worden sein
soll.26 Weder für die Filmvorführung
noch für die Vorwürfe ndet sich in
den Protokollen des Parlamentarischen
Rates und in Berichten von Teilneh-
mern ein Beleg.27 Vielmehr trugen um-
gekehrt die stenograschen Mitschrif-
ten maßgeblich zur Aufarbeitung
dieses Prozesses nach dem Krieg bei.
Während nämlich die Originalproto-
kolle sämtlicher angeführter Gerichts-
prozesse wohl gegen Kriegsende ver-
nichtet wurden, bewahrte Peter Vossen
„wesentliche Teile der Originalsteno-
26 Vgl. Christian Bommarius, Die Stunde Null?, in: NStPr
58 (2010), H. 3, 65–72; Separatabdruck aus Ders.,
Das Grundgesetz. Eine Biographie, Berlin 2009.
27 Vf. stützt sich hier auf im persönlichen Gespräch
dargelegte Aussagen des Historikers Dr. Michael F.
Feldkamp.
gramme“28 auf und diktierte sie später
wieder ab. Diese wurden dann unter
anderem bei den Nürnberger Prozes-
sen sowie in dem Dokumentarbericht
Die Wahrheit über den 20. Juli verwen-
det.29
Plenar- und Ausschusssitzungen der
Akademie für Deutsches Recht
Außer auf dem Gebiet der Rechtspre-
chung, wobei das Recht bei einer Reihe
der oben genannten Verfahren stark
gebeugt wurde, waren die Stenografen
nach wie vor auch im Bereich der
Rechtsetzung gefragt. Die umfangrei-
chen Beratungsprozesse fanden aber
nicht mehr in Ausschüssen des Reichs-
tags statt, sondern vornehmlich in
Ausschüssen der sogenannten Akade-
mie für Deutsches Recht. Sie war im
Juni 1933 vom oben erwähnten Reichs-
kommissar Dr. Hans Frank gegründet
worden, der selber seit 1930 Mitglied
des Reichstags war und als alleinver-
antwortlicher Präsident der Akademie
1934 zum Reichsminister ohne Ge-
schäftsbereich ernannt wurde.
Die Beratungen in den am Ende fast
hundert Ausschüssen, Unterausschüs-
sen und Arbeitsgemeinschaften der
Akademie traten gleichsam an die
28 Kr[ieger], Peter Vossen 65Jahre, in: NStPr 1 (1953), H.
1, 30.
29 Vgl. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor
dem Internationalen Militärgerichtshof: Nürnberg,
14. November 1945–1. Oktober 1946 (amtlicher Text
in deutscher Sprache), Vol. XXXIII, hier S. 299–530:
Stenographische Niederschrift der Verhandlung vor
dem deutschen Volksgerichtshof am 7. und 8. August:
Verfahren gegen Generalfeldmarschall von Witzleben
und 7 andere Offiziere wegen des Attentats auf Hitler
am 20. Juli 1944, sowie E. Budde/P. Lütsches, Die
Wahrheit über den 20. Juli, Düsseldorf 1952, 35–127.
11
Stelle parlamentarischer Beratungen,
allerdings nicht mehr mit gewählten,
sondern mit erwählten Mitgliedern,
die ein breites Spektrum umfassten.
Neben der NS-Politprominenz wie
Hermann Göring, Joseph Goebbels
und Innenminister Wilhelm Frick so-
wie Reichsminister ohne Geschäfts-
bereich Rudolf Heß und dem NS-Chef-
ideologen Alfred Rosenberg waren
Großindustrielle wie Carl Friedrich
von Siemens, Carl Bosch, Wilhelm von
Opel und Fritz Thyssen sowie der NS-
Bewegung nahestehende Professoren
wie etwa der Jurist Carl Schmitt, des-
sen Tagebücher in Gabelsberger Kurz-
schrift dank der Übertragung durch
Hans Gebhardt der Forschung zugäng-
lich wurden,30 und beispielsweise der
Kirchenrechtler Hans Barion31 Mitglie-
der verschiedener Ausschüsse der
Akademie. Manche der über dreißig
Gremien wurden aber auch durch
Fachexperten geleitet wie etwa dem
Wasserrechtler Professor Paul Gieseke,
der auf Basis des Entwurfes eines
Reichswassergesetzes von 1941 das
Wasserhaushaltsgesetz von 1957 maß-
geblich mitbestimmte.32
Zunächst wurde ein Teil der Räume
des Preußischen Landtags benutzt, so-
dass die nicht aufgrund von NS-Geset-
zen aus dem Amt entfernten Stenogra-
30 Vgl. W. Schuller (Hg.), Carl Schmitt, Tagebücher 1930
bis 1934, Berlin 2011.
31 Vgl. Th. Marschler, Kirchenrecht im Bannkreis Carl
Schmitts. Hans Barion vor und nach 1945, Bonn 2004,
hier Kapitel 7: Die Tätigkeit im „Ausschuss für Reli-
gionsrecht“ der Berliner „Akademie für Deutsches
Recht“ (1938–40), 292–311.
32 Vgl. W. Schubert/Cl. Rönnau (Hg.), Akademie für Deut-
sches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse,
Bd. XVI: Ausschuß für Wasserrecht, Frankfurt/M. u. a.
2004.
fen des Preußischen Landtags, die in
den ersten Jahren hauptsächlich die
Sitzungen der Akademie für Deutsches
Recht protokollierten, zum Teil in ih-
ren alten Büros arbeiten konnten. Mit
der Eingliederung des „Stenographen-
bureaus des früheren Landtags in der
Stiftung Preußenhaus“ in den Steno-
graschen Dienst des Reichstags 1938
wurden auch Reichstagsstenografen
zur Protokollierung herangezogen. In
Würdigungen und Nachrufen wurde
meist nur allgemein auf dieses Tätig-
keitsfeld hingewiesen. Erwähnenswert
sind allerdings Martin Daue33, der
„führend an der Organisierung des
Stenographischen Dienstes dieser
öffentlich-rechtlichen Körperschaft“34
mitwirkte, sowie Dr. Martin Günther35,
der über die Arbeit der Akademie
sowie der noch zu behandelnden amt-
lichen Strafrechtskommission als „Re-
gierungsstenograph“ Ende 1937 seine
juristische Dissertation36 verfasste. Au-
33 Martin Daue (*20.01.1878 in Berlin, † 02.01.1944
ebd.), 1896 Abitur am Grauen Kloster, bis 1901 Studi-
um der Theologie, dann bis 1905 der Volkswirtschaft,
1902 Stenografenanwärter im Preußischen Landtag,
1905 diätarischer Stenograf, 1918 Landtagsstenograf,
1941 Pensionierung. – Vgl. BArch (ehem. BDC) PKB,
Daue, Martin, 20.01.1878.
34 L. Krieger, Unsere Toten der letzten 10 Jahre, in:
NStPr 1 (1953), H. 2, 51.
35 Martin Günther (*23.08.1910 in Berlin-Lankwitz,
† 09.06.1988), 1929 Reifeprüfung, 1930 stud. iur und
Stenografenanwärter im Preußischen Landtag, 1937
Dr. iur. in Leipzig, 1938 Reichstagsstenograf, 1945
Einberufung zum Volkssturm, ab 08/1945 Handels-
schullehrer für Kurzschrift, 1949 Bundestagsstenograf,
1950 Regierungsrat, 1957 Oberregierungsrat, 1966
Regierungsdirektor, 1972 Ministerialrat, 1973 bis
zur Pensionierung 1974 Leiter des Stenografischen
Dienstes des Dt. Bundestages. – Vgl. G. Ostermeyer,
Dr.Martin Günther im Ruhestand, in: NStPr 22 (1974),
H. 3, 70–77; F.-L. Klein, Dr. Martin Günther lebt nicht
mehr, in: NStPr 36 (1988), H. 3-4, 72–76.
36 Vgl. M. Günther, Die Bedeutung des Ehrenworts nachgel-
tendem und kommendem Strafrecht, Zeulenroda 1937.
12 Neue Stenografische Praxis | 1/2015
ßerdem war vor Kriegsbeginn auch der
ehemalige bayerische Landtagssteno-
graf Georg Paucker hier tätig, und
zwar als „Pressereferent des Reichs-
ministers Dr. Frank und des National-
sozialistischen Rechtswahrerbundes“37.
Welche Leistung die Stenografen in
den Jahren ihrer Tätigkeit bei der Aka-
demie für Deutsches Recht erbrachten,
kann noch heute an den umfangrei-
chen Protokollen abgelesen werden,
die seit 1986 ediert werden. Die Edition
umfasst bisher 28 Bände, die jeweils
circa 600 bis 800 Seiten umfassen.38 In
der Edition sind größtenteils die Origi-
nalprotokolle – mal maschinenschrift-
lich, mal zweispaltig gedruckt – in
Faksimile wiedergegeben; nur die
Protokolle, die aufgrund des Krieges
nicht mehr gedruckt wurden oder
deren Transkriptionen aufgrund von
Kriegsauswirkungen verloren gingen,
sind komplett neu ediert. Die meisten
Protokolle sind Wortprotokolle; es n-
den sich aber auch vereinzelt analyti-
sche Protokolle. Zum Teil sind auch
noch die als „Stenographisches Proto-
koll“ bezeichneten ursprünglichen Pro-
37 Georg Paucker (*25.10.1910 in München,
† 16.07.1979 ebd.), 1932 Stenografenanwärter
beim Bayerischen Landtag, nach dessen Auflösung
Pressereferent von Dr. Hans Frank und des NSRW in
Berlin, Soldat, nach Kriegsgefangenschaft als Kurz-
schrifttheoretiker und in der Erwachsenenbildung für
den DGB tätig. – Vgl. J. Brandenburg, Georg Paucker,
München†, in: NStPr 27 (1979), H. 3, 54–56. Zu
seiner Tätigkeit während der NS-Zeit vgl. Mitglieder-
Verzeichnis der Fachgruppe Verhandlungsstenografen
in der Deutschen Stenografenschaft e. V., Stand vom
1. Januar 1939, S. 3, sowie G. Paucker/W. Cuypers
(Hg.), Tag des Deutschen Rechts 1939, s. n. 1939.
38 Vgl. W. Schubert (Hg.), Akademie für Deutsches
Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse, Bd. I, II,
III,1–III,8, IV, Berlin/New-York 1986–1996, Bd. V–XXI,
Frankfurt/M. u. a. 1997–2014.
tokollfassungen erhalten geblieben. Es
gab also auch hier ein Rednerkorrek-
turrecht; neben Glättungen und stilisti-
schen Eingriffen wurden auch inhaltli-
che Straffungen von ausschweifenden
mündlichen Darlegungen vorgenom-
men.39
In der Bibliothek des Deutschen Bun-
destages fand sich übrigens von den
mehreren Hundert erstellten Proto-
kollen nur ein einziges Originalproto-
koll, nämlich die maschinenschriftliche
„Niederschrift über die Sitzung des
Völkerrechts-Ausschusses der Akade-
mie für Deutsches Recht und der Deut-
schen Gesellschaft für Völkerrecht und
Weltpolitik“, die am 2. Mai 1941 ab
10 Uhr vormittags und ab 15.08 Uhr
nachmittags und am 3. Mai 1941 von
10 bis 13.15 Uhr in den Räumen der
Akademie für Deutsches Recht am
Leipziger Platz 15 in Berlin abgehalten
wurde. Hier befand sich das Mosse-
Palais – 1945 durch Bombardement
zerstört, seit 1998 in neuer Form wie-
dererstanden –, in dem 1930 die Welt-
energiekonferenz mit Fachleuten aus
allen Erdteilen stattfand. Die USA
wollten es danach zu ihrer Botschaft
machen, es konnte aber keine Einigung
über den Kaufpreis erzielt werden.
Nach der Zwangsemigration der Fami-
lie Mosse 1934 nahm Frank dieses Ge-
bäude für sich in Beschlag und stattete
es luxuriös aus. Dabei hatte in jedem
Arbeitszimmer neben Hitlers Bild auch
sein eigenes zu hängen.40
39 Vgl. etwa ebd., Bd. III,2: Familienrechtsausschuss –
Unterausschuss für eheliches Güterrecht, Berlin/
New York 1989, S. 54 sowie Fußnoten ab S. 599 ff.
40 Vgl. Thea Koberstein, Das Mosse-Palais: eine feine
Adresse, in: Berlinische Monatsschrift beim Luisen-
städtischen Bildungsverein 1999, H. 6, 95.
13
Besonders hervorgehoben wurde in
allen Rückblicken von Stenografen auf
diese Tätigkeit, dass die Ausschuss-
sitzungen an Orten quer durch das
ganze damalige Deutsche Reich statt-
fanden, so zum Beispiel in Bad Brü-
ckenau, Baden-Baden, Bremen, Bres-
lau, Danzig, Dresden, Frankfurt/Main,
Hamburg, Königsberg, München – hier
ließ Frank überdies von 1936 bis 1939
ein „Haus des deutschen Rechts“ in der
Ludwigstraße errichten –, Oberhof,
Oberschreiberhau, Stettin, Stuttgart,
Swinemünde, Warnemünde, Trave-
münde, Würzburg und ab 1937 auch in
Wien, Salzburg und Zell am See. Sogar
die Namen der Gaststätten, in denen
man sich abends in gemütlicher Runde
traf, werden noch Jahrzehnte später
memoriert. Folgende Einschätzung der
Arbeit der Akademie wagte der frühe-
re Reichstags- und spätere Bundestags-
stenograf Dr. Martin Günther 1965:
Die Ausschüsse der Akademie waren
übrigens keineswegs so stark national-
sozialistisch ausgerichtet, wie man es
vermuten könnte. Gewiß, es gab den
einen oder anderen Ausschuß, für den
dies zutrifft – es genügt, den Namen
Thierack zu nennen –; aber in den
meis ten Ausschüssen wurden Gesetz-
entwürfe rein sachlich und mit äußers-
ter Gründlichkeit beraten. Trotz der
anderen Zusammensetzung ähnelten
die Beratungen denen der heutigen
Parlamentsausschüsse.41
Dieses Urteil hätte zumindest um die
Aspekte ergänzt werden müssen, dass
in der Akademie das „Führerprinzip“
41 M. Günther, Dr. Rolf Conrad †, in: NStPr 13 (1965),
H. 1, 23.
galt und dass im NS-Staat, dessen han-
delnde Personen vielfach auch bei der
Akademie aktiv waren, „Macht gegen
Recht stand … und dass der Staat zum
Instrument der Rechtszerstörung wur-
de – zu einer sehr gut organisierten
Räuberbande, die die ganze Welt be-
drohen und an den Rand des Abgrunds
treiben konnte“ (Papst Benedikt XVI.
in seiner Ansprache vor dem Deut-
schen Bundestag am 22. September
2011). Derartige Gedanken waren
Günther aber völlig fremd, da seine
Dissertation vom 20. Dezember 1937
gleichsam ein Substrat aus den Bera-
tungen ist, die von ihm und anderen
Steno grafen protokolliert wurden, und
er sich in der Einleitung sogar positiv
zu den Nürnberger Gesetzen äußert.42
Eine Verankerung der rechtlichen Stel-
lung der Akademie in der polykrati-
schen Struktur des NS-Staates gelang
Frank allerdings nicht. Mit dem von
ihm selbst formulierten Anspruch, der
Akademie Anregung, Begutachtung,
Vorbereitung und Ausarbeitung aller
Gesetzesentwürfe per Erlass zu über-
tragen, scheiterte er insbesondere am
Widerstand des Reichsjustizministers
Dr. Franz Gürtner, der auf dem Ticket
der DNVP schon 1932 Justizminister
wurde und bis zu seinem Tode 1941
amtierte. Einen ersten Tiefschlag erlitt
Frank durch die im Hauruckverfahren
auf einer Reichstagssitzung am Rande
des Parteitages in Nürnberg völlig an
der Akademie vorbei erlassenen Nürn-
berger Rassegesetze. In einer Vollsit-
zung der Akademie bezieht er dezi-
diert Stellung dazu, allerdings nicht in
42 Vgl. Martin Günther, Die Bedeutung des Ehrenworts
nach geltendem und kommendem Strafrecht, Zeulen-
roda 1937, S. 4.
14 Neue Stenografische Praxis | 1/2015
erster Linie gegen den Inhalt dieser Ge-
setze, sondern gegen das formale Vor-
gehen. Eine weitere scharfe Reaktion
als Akademiepräsident zeigte Frank
dann im Sommer 1942 in vier Reden, in
denen er Hitlers Anmaßung als obers-
ter Gerichtsherr und Hüter des Rechts
bei der letzten Reichstagssitzung im
April 194243 eine eigene Auffassung
der Unabhängigkeit von Recht und
Justiz entgegenstellte. Diese indirekte
Kritik an Hitler führte zu seiner Ab-
setzung als Akademiepräsident und
als Reichsminister ohne Amtsbereich.
Franks Nachfolger als Präsident der
Akademie wurde der ab 1942 amtie-
rende Justizminister und ehemalige
Präsident des Volksgerichtshofes Otto
Georg Thierack. Von den vielen Optio-
nen zur stärkeren Einbindung bzw.
Gleichschaltung der Akademie, die er
nun in Personalunion als Justizminister
und Akademiepräsident innerhalb sei-
nes Machtbereichs gehabt hätte, nutzte
er allerdings keine, sondern ließ die
Arbeit der Akademie einschlafen. In
seiner Amtszeit fanden nur noch eine
Sondertagung der Akademie sowie
wenige Sitzungen insbesondere von
drei neu geschaffenen Ausschüssen
statt, während die Arbeit in den meis-
ten anderen im Frühjahr 1943 als nicht
kriegswichtig suspendiert wurde; am
12. August 1944 wurde die Arbeit der
Akademie schließlich ganz einge-
stellt.44 Ein Teil der bis dahin dort täti-
gen Stenografen wurde nun mit der
Protokollierung der Lagebesprechun-
43 Vgl. Teil 2 dieser Artikelserie: NStPr 62 (2014), H. 2, 57.
44 Vgl. H.-R. Pichinot, Die Akademie für Deutsches Recht
– Aufbau und Entwicklung einer öffentlich-rechtlichen
Körperschaft des Dritten Reichs, Kiel 1981, S. 146 f.
gen in den sogenannten Führerhaupt-
quartieren betraut.
Regierungskonferenzen und Partei-
veranstaltungen
Eine Parallelveranstaltung zu den Sit-
zungen der Akademie für Deutsches
Recht waren die 107 mehrstündigen
Sitzungen der Strafrechtskommission
des Reichsjustizministeriums unter
Vorsitz von Minister Gürtner45 im Zeit-
raum vom 3. November 1933 bis zum
31. Oktober 1936. Hier fanden, wie aus
dem parlamentarischen Betrieb be-
kannt, erste und zweite Lesungen der
zu ändernden Normen des Strafrechts
statt. Von den Sitzungen wurden Wort-
protokolle erstellt, in denen zum Bei-
spiel auch Zurufe verzeichnet sind. Sie
sind in vier Bänden in der Original-
fassung der 30er-Jahre, nur verkleinert,
ediert worden.46 Mit einiger Berech-
tigung wurde in Rezensionen dieser
Edition, die 2 642 doppelspaltige, in der
Reichsdruckerei in Berlin gedruckte
Seiten umfasst, bemängelt, dass „zu
wenig über die Arbeitsweise der Kom-
mission, ihre Unterausschüsse und den
unterstützenden amtlichen Apparat“
geschrieben wurde; die Antwort der
Herausgeber: „Es liegen hierzu keine
weiteren Quellen vor“47, befriedigt
nicht, da zumindest in dieser Zeitschrift
mehrfach darüber berichtet wurde und
45 Vgl. M. Günther, In memoriam Fritz Krämer und
Dr.Friedrich Dörr, in: NStPr 25 (1977), H. 1-2, 37,
sowie Ders., Dr.Kurt Haagen im Ruhestand, in:
NStPr 17 (1969), H. 1-2, 36.
46 Vgl. W. Schubert/J. Regge u. a. (Hg.), Quellen zur
Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, II. Abteilung,
NS-Zeit (1933–1939) – Strafgesetzbuch, Bd. 2,
Protokolle der Strafrechtskommission des Reichsjus-
tizministeriums, 4 Teile, Berlin/New York 1988–1994.
47 Beide Zitate ebd, Bd. 2,4, S. IX.
15
eine Reihe der involvierten Stenografen
Ende der 80er-Jahre noch lebten. Von
diesen wären auch Auskünfte zu erhal-
ten gewesen, ob es eine Reinschrift des
denitiven Protokolls der 37. Sitzung
vom 5. Juni 1934, die sich mit dem straf-
rechtlichen Rasseschutz befasste, ge-
geben hat. In den Archiven fand sich
nämlich nur die handschriftlich kor-
rigierte maschinenschriftliche Fassung
der stenograschen Aufnahme (vgl.
Bd. 2,2, S. V) – die Korrekturen bestan-
den hauptsächlich aus Straffung und
Streichung, sodass der Umfang um ein
Drittel abnahm (vgl. ebd. S. 223, Fn. 1)
– sowie eine vierseitige Druckversion,
die einen Zeitraum von 9.18 Uhr bis
19 Uhr umfasst, aber nur in indirekter
Rede auf die vertrauliche Aussprache
der Kommission über die Vorschläge
der Preußischen Denkschrift zur Frage
des strafrechtlichen Rasseschutzes ver-
weist (vgl. ebd. S. 219). Ein Druck wur-
de wohl gar nicht erst erwogen, um
„insbesondere im Ausland kein Auf-
sehen hervorzurufen“ (ebd. S. V).
Ein weiteres Organ, dessen Sitzungen
protokolliert wurden, war der formal
weiterbestehende Preußische Staatsrat,
in den der preußische Ministerpräsi-
dent Göring ihm genehme Personen
wie den oben schon genannten Carl
Schmitt oder den Osnabrücker Bischof
Wilhelm Berning48 berief. Göring setzte
als oberster Dienstherr „seine“ Steno-
grafen – er blieb ja die ganze NS-Zeit
über auch Reichstagspräsident – nach
Belieben im Rahmen seiner vielen Äm-
ter ein. Dies betraf Regierungshandeln
48 Vgl. die Arbeit meines Geschichtslehrers am Gym-
nasium Carolinum Klemens-August Recker, „Wem
wollt ihr glauben?“ Bischof Berning im Dritten Reich,
Paderborn 21998.
wie die unter seinem Vorsitz stattn-
denden Sitzungen des Reichsverteidi-
gungsrates49 und die Beratungen im
Rahmen des Vierjahresplanes50 als auch
das Festhalten von Gauleiterbespre-
chungen oder Propagandareden. So
fuhren die beiden ehemaligen Steno-
grafen des Preußischen Abgeordneten-
hauses Günther und Conrad mit Göring
nach München, um seine Auslassungen
zum Jahrestag des Hitlerputsches von
1923 zu protokollieren: „Manche Auf-
nahme verlangte das Letzte von uns,
so eine zweieinhalbstündige Rede
Görings, eines sehr temperamentvollen
Redners, an einem 8. November in
München, die wir beide noch mit Tinte
und Stahlfeder nach schrieben.“51 Zu
ähnlichen Verwendungen wurde auch
Karl Froherz52, ehemaliger thüringi-
scher Landtags stenograf, der nach Auf-
lösung des Landtags in der Pressestelle
beim Thüringischen Staatsministerium
tätig ist, herangezogen:
Sein hervorragendes Können und seine
reiche Erfahrung stellt Karl Froherz
auch heute noch bereitwilligst zur Ver-
fügung, wenn es gilt, die Reden unse-
res Gauleiters Sauckel oder anderer
politischer Führer aufzunehmen und
die Verhandlungsniederschriften bei
49 Vgl. K. Thöt, In memoriam Ludwig Krieger, a. a. O.
[Fn. 5], 66.
50 Vgl. M. Günther, In memoriam Fritz Krämer und
Dr.Friedrich Dörr, a. a. O. [Fn. 46], 37.
51 Vgl. M. Günther, Dr. Rolf Conrad †, a. a. O. [Fn. 43], 23.
52 Karl Froherz (*11.10.1883, † 28.08.1959), 1919
nebenamtlich, 1925 hauptamtlich Landtagsstenograf
in Thüringen, 1933 Leiter, dann Pressestelle beim
Thüringischen Staatsministerium, Wartestand, 1945
wieder Verwaltung von Thüringen, Mai 1946 Über-
siedlung nach Hessen, Juli 1946 Leiter Stenographi-
scher Landtagsdienst Hessen, Ende 1951 Pensionie-
rung. – Vgl. A. Stricker, Karl Froherz†, in: NStPr 7
(1959), H. 3, 111.
16 Neue Stenografische Praxis | 1/2015
Arbeitstagungen nationalsozialisti-
scher Körperschaften, Verbänden und
Organisationen zu gestalten.53
Eine Konferenz verdient in diesem
Zusammenhang besondere Beachtung:
die „Kristallnacht-“ bzw. Vor-Wann-
seekonferenz am 12. November 1938.
Kurz nach der „Reichskristallnacht“
lud Göring wichtige Vertreter aus Par-
tei und Finanzwesen zu einer großen
„Besprechung über die Judenfrage“
ein, und zwar in das von ihm ebenfalls
geleitete Reichsluftfahrtministerium.
Auch zu dieser Konferenz zog er zur
Protokollierung zwei Stenografen hin-
zu. Ein Stenograf ist namentlich be-
kannt, und zwar Dr. Fritz Dörr54. Der
Name des weiteren Stenografen ist
nicht überliefert; in einem Verneh-
mungsprotokoll Görings vom 20. Ok-
tober 1945 zu diesem Komplex taucht
der Name von Peter Vossen auf. Es
könnte aber auch Ludwig Krieger ge-
wesen sein, der an Sitzungen unter
Vorsitz von Göring als dem General-
bevollmächtigten für den Vierjahres-
plan regelmäßig beteiligt war;55 hierfür
spräche, dass beide dasselbe Stenogra-
53 Vgl. Straube, Karl Froherz, Weimar, 60 Jahre alt, in:
Archiv für Stenografie und Maschinenschreiben,
Jg. 1943, Heft Dezember, 252 f.
54 Friedrich Dörr (*09.08.1899 in Ober-Ofleiden/Hessen,
† 1978), 1918–1923 Mathematik- und Physik-Studium
in Gießen und Berlin, 1923 Dr. phil., daneben ab 1919
Hilfsstenograf und ab 1921 Anwärter im Hessischen
Landtag sowie ab 1925 Hilfsstenograf im Reichstag,
1932 Reichstagsstenograf, 1939 Einberufung zu den
Feldzügen in Polen, Frankreich und Dänemark, 1942
Abkommandierung zu militärischen Dienststellen, ab
1945 im Schuldienst, 1947 Eintritt in das Stenogra-
phenbüro der Stadtverordnetenversammlung von
Groß-Berlin, 1953–1964 Leiter. – Vgl. M. Günther,
In memoriam Fritz Krämer und Dr. Friedrich Dörr,
a. a. O. [Fn. 46], 33–39.
55 Vgl. K. Thöt, In memoriam Ludwig Krieger, a. a. O.
[Fn. 5], 66.
esystem, nämlich Gabelsberger, be-
nutzten.
Nachdem das Originalprotokoll in den
Kriegswirren verloren ging bzw. ver-
nichtet wurde, brachte Dörr seinen Teil
der stenograschen Aufzeichnungen,
die er mit nach Hause genommen
hatte, im Sommer/Herbst 1945 erneut
maschinenschriftlich zu Papier und
übergab ihn dem früheren Direktor der
Reichstagsbibliothek. Auf Umwegen
gelangte die Abschrift schließlich in die
Hände der Amerikaner, die sie sofort
zum Militärtribunal nach Nürnberg
weiterleiteten, wo sie in den Nürn-
berger Kriegsverbrecherprozessen als
Dokument „PS-1816“ eine wichtige
Rolle spielte.56 Die wörtlich mitsteno-
graerten Aussagen dokumentieren in
einzigartiger Weise den mit Zynismus
und Menschenverachtung gepaarten
Antisemitismus der NS-Größen; ne-
ben Göring nahmen ja auch Goebbels
sowie Heydrich als Chef der Sicher-
heitspolizei und Reichsnanzminister
Lutz Graf Schwerin von Krosigk teil.57
So wurde dieser Protokollauszug auch
des Öfteren als Grundlage für szeni-
sche Inszenierungen insbesondere im
Gedenken an das Pogrom vom 9. No-
vember herangezogen.58
56 Vgl. ND 1816-PS, Stenographische Niederschrift
von einem Teil der Besprechung über die Judenfrage
unter Vorsitz von Feldmarschall Göring im RLM am
12. November 1938, in: Der Prozess gegen die Haupt-
kriegsverbrecher vor dem IMG, Vol. XXVIII, Nürnberg
1946, S. 499 ff. [http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/
pdf/deu/German34.pdf (07.04.2014)].
57 Vgl. Johannes Ludwig, Boykott, Enteignung, Mord:
die „Entjudung“ der deutschen Wirtschaft, Hamburg
1989 [zu Dörr vgl. S. 237, 243, 264], 21991,
München/Zürich 1998 (überarbeitete Neuauflage).
58 Vgl. etwa Der 9. November 1938 als Versicherungs-
fall – Das Protokoll der „Vor-Wannseekonferenz“ am
9. November 2003 im Wiener Burgtheater.
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Mord: die "Entjudung" der deutschen Wirtschaft
  • Johannes Vgl
  • Ludwig
  • Enteignung Boykott
Vgl. Johannes Ludwig, Boykott, Enteignung, Mord: die "Entjudung" der deutschen Wirtschaft, Hamburg 1989 [zu Dörr vgl. S. 237, 243, 264], 2 1991, München/Zürich 1998 (überarbeitete Neuauflage).
  • M Vgl
  • Dr Rolf Günther
  • Conrad Leiter
Vgl. M. Günther, Dr. Rolf Conrad †, a. a. O. [Fn. 43], 23. 52 Karl Froherz (*11.10.1883, † 28.08.1959), 1919 nebenamtlich, 1925 hauptamtlich Landtagsstenograf in Thüringen, 1933 Leiter, dann Pressestelle beim Thüringischen Staatsministerium, Wartestand, 1945 wieder Verwaltung von Thüringen, Mai 1946 Übersiedlung nach Hessen, Juli 1946 Leiter Stenographischer Landtagsdienst Hessen, Ende 1951 Pensionierung. – Vgl. A. Stricker, Karl Froherz †, in: NStPr 7 (1959), H. 3, 111. 12. November 1938, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem IMG, Vol. XXVIII, Nürnberg 1946, S. 499 ff. [http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/ pdf/deu/German34.pdf (07.04.2014)].
Unsere Toten der letzten 10 Jahre
  • L Krieger
L. Krieger, Unsere Toten der letzten 10 Jahre, in: NStPr 1 (1953), H. 2, 51.
Ministerialrat, 1973 bis zur Pensionierung
  • Regierungsdirektor
Regierungsdirektor, 1972 Ministerialrat, 1973 bis zur Pensionierung 1974 Leiter des Stenografischen Dienstes des Dt. Bundestages.-Vgl. G. Ostermeyer, Dr. Martin Günther im Ruhestand, in: NStPr 22 (1974), H. 3, 70-77;
Martin Günther lebt nicht mehr
  • F.-L Klein
F.-L. Klein, Dr. Martin Günther lebt nicht mehr, in: NStPr 36 (1988), H. 3-4, 72-76.
Die Bedeutung des Ehrenworts nach geltendem und kommendem Strafrecht
  • M Vgl
  • Günther
Vgl. M. Günther, Die Bedeutung des Ehrenworts nach geltendem und kommendem Strafrecht, Zeulenroda 1937.
H. 1-2, 37, sowie Ders
  • . M Vgl
  • Günther
Vgl. M. Günther, In memoriam Fritz Krämer und Dr. Friedrich Dörr, in: NStPr 25 (1977), H. 1-2, 37, sowie Ders., Dr. Kurt Haagen im Ruhestand, in: NStPr 17 (1969), H. 1-2, 36.
Mathematik-und Physik-Studium in Gießen und Berlin, 1923 Dr. phil., daneben ab 1919 Hilfsstenograf und ab 1921 Anwärter im Hessischen Landtag sowie ab 1925 Hilfsstenograf im Reichstag
Friedrich Dörr (*09.08.1899 in Ober-Ofleiden/Hessen, † 1978), 1918-1923 Mathematik-und Physik-Studium in Gießen und Berlin, 1923 Dr. phil., daneben ab 1919 Hilfsstenograf und ab 1921 Anwärter im Hessischen Landtag sowie ab 1925 Hilfsstenograf im Reichstag, 1932 Reichstagsstenograf, 1939 Einberufung zu den Feldzügen in Polen, Frankreich und Dänemark, 1942
als Versicherungsfall -Das Protokoll der "Vor-Wannseekonferenz" am 9
  • Vgl
Vgl. etwa Der 9. November 1938 als Versicherungsfall -Das Protokoll der "Vor-Wannseekonferenz" am 9. November 2003 im Wiener Burgtheater.