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Von der Zusammenarbeit zwischen Linguistik und Fachdidaktik : Plädoyer für eine phänomenologische Linguistik mit didaktischem Aha-Effekt

Authors:
Hans-Ingo Radatz
Von der Zusammenarbeit zwischen Linguistik und
Fachdidaktik: Plädoyer für eine phänomenologische
Linguistik mit didaktischem Aha-Effekt
Moderner Fremdsprachenunterricht ist bekanntermaßen längst nicht mehr
ausschließlich auf die Vermittlung norm- und schriftsprachlicher
Fähigkeiten ausgerichtet, sondern räumt der aktiven Ausdrucksfähigkeit
und der interkulturellen Komponente im Sprachunterricht einen wichtigen
Platz ein. Bei allem Fortschritt in dieser Hinsicht bleiben allerdings auch
heute die Vermittlung von Wortschatz und Grammatik weiterhin im
Zentrum des neusprachlichen Unterrichts, während die interkulturelle
Kompetenz die aktiven und rezeptiven sprachlichen Fertigkeiten zwar
begleitet, ohne diese aber nicht denkbar ist. Insofern steht die Reflektion
über sprachliche Strukturen und ihre Didaktisierbarkeit weiterhin im
Zentrum des Aufgabenprofils der neusprachlichen Fachdidaktik, und es ist
daher auch kein Zufall, dass die Dozenten der akademischen Fachdidaktik
ihr Fach nahezu ausnahmslos auf der Basis einer linguistischen Ausbildung
betreiben. Die Linguistik ist daher eine der engsten Hilfs- und
Nachbardisziplinen der Fremdsprachendidaktik.
So naheliegend eine enge Zusammenarbeit von Fachdidaktik und
Linguistik aber auch sein mag, so ist sie doch an vielen romanischen
Instituten keine praktizierte Selbstverständlichkeit; wo sie überhaupt
stattfindet, so ist sie typischerweise eine Einbahnstraße, in der die
Fachdidaktiker sich zwar mit linguistischen Fragestellungen befassen, von
linguistischer Seite aber davon kaum Notiz genommen wird. Aus Sicht der
Sprachwissenschaft wird die Fachdidaktik generell als ein Problem anderer
Menschen wahrgenommen, das diese sicher für sich selbst lösen werden.
Der vorliegende Beitrag möchte diese Sprachlosigkeit vonseiten der
Linguistik ein wenig überbrücken, indem er sich, aus der Perspektive der
spanischen Sprachwissenschaft an einer deutschen Universität, der Frage zu
stellen versucht, welchen Beitrag die romanische Sprachwissenschaft im
Rahmen des Lehramtsstudiengangs Spanisch zur fachdidaktischen
Komponente dieses Studiengangs leisten kann. Die Motivation für diesen
fachfremden out of area-Einsatz eines Linguisten entspringt den
Alltagsrealitäten des akademischen Unterrichts, welche die Dozenten
zusehends zwingen, alte arbeitsteilige Konzepte aus der eigenen Studienzeit
radikal zu überdenken.
Damals boten die sprachwissenschaftlichen Professoren weithin das an,
was ihnen individuell gerade wichtig erschien vor allem aus der
Perspektive ihrer eigenen Forschungsinteressen. Die Idee schien zu sein,
dass die Studenten schließlich, in geheimnisvoll selbstorganisierender
Weise, auch auf diese anarchische Art und Weise am Ende ihres Studiums
alle relevanten Informationen erhalten würden, wenn sie nur lange genug
am Ball blieben.
Das war schon damals eine fast fahrlässig optimistische Annahme.
Heute, im Zeitalter modularisierter Studiengänge und straffer
Semesterhöchstzahlen, ist sie schlicht absurd und verantwortungslos, denn
die Zeiten haben sich mittlerweile so verändert, dass das Langzeitstudium
mit umfassenden Phasen des Selbststudiums heute nicht mehr nur
unwahrscheinlich, sondern vielmehr formal unmöglich geworden ist. Leider
gibt es auch heute noch Kollegen, deren Lehrveranstaltungsangebot sich
thematisch an diesem alten anarchischen Prinzip zu orientieren scheint.
Die Wahrscheinlichkeit, am Ende eines unstrukturierten Studiums
schließlich doch alles Relevante gelernt zu haben, ist aber auch dadurch auf
nahezu Null gesunken, dass der Anteil der Sprachwissenschaft am Studium
der Romanistik in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich geschwunden ist
und nun an einigen Orten (wie z.B. meiner Universität) einen Punkt erreicht
hat, an dem ein sinnvolles Studium der Hispanistik ernsthaft in Frage
gestellt werden muss.
1. Ein Paradox: Gerade das Wichtigste wird oft nicht unterrichtet
Eine oft ungenügende Abstimmung zwischen Sprachpraktikern,
Fachdidaktikern und Sprachwissenschaftlern resultiert paradoxerweise oft
darin, dass gerade die allergrundsätzlichsten Fragen der Grammatik im
Studium letztlich nicht behandelt werden, gerade weil sie so fraglos
grundsätzlich sind. An welchem systematischen Ort im Studium werden
beispielsweise die Feinheiten der spanischen Pronominalsyntax
(Objektklitika, clitic doubling, leísmo), die semantische Kasuistik der
Vergangenheitstempora oder die Kopula-Alternanz analytisch am
sprachlichen Material so eingeübt, wie es später in der Examensklausur
erwartet wird?
Lektoren besitzen oft nicht einmal die linguistische Ausbildung, um eine
solche Verbindung aus linguistischer Reflexion und textanalytischer Arbeit
zu leisten; in jedem Fall scheint dafür in der Sprachpraxis üblicherweise
auch die Zeit zu fehlen. Von mir befragte Lektoren sind überzeugt, dass dies
nicht ihre, sondern vielmehr die Aufgabe der romanistischen
Sprachwissenschaft ist und gehen davon aus, dass diese die betreffenden
Themen schon vermitteln wird. Sprachwissenschaftler fühlen sich vor allem
für Theorie zuständig und gehen davon aus, dass die praktische
Anwendung und Umsetzung des Gelernten selbstverständlich durch
Lektoren und Fachdidaktiker geschieht. Fachdidaktiker glauben
typischerweise, dass sie in ihrem Unterricht auf ein solides sprachpraktisch-
grammatisches Fundament bauen könne, das ihre Studenten durch
Sprachpraxis und wissenschaft erworben haben. Nur so ist es zu erklären,
dass Kandidaten im Staatsexamen am Ende ihres Hispanistikstudiums
vielfach zwar besser Spanisch können als zuvor, in der intellektuellen
Durchdringung der grammatischen Prinzipien dieser Sprache aber auf dem
intellektuellen Niveau ihrer alten Schulgrammatik stagnieren.
2. Der Sprachwissenschaftsanteil des Studiums sinkt unter die kritische
Grenze
Neben dieser fehlenden Abstimmung zwischen den Teildisziplinen ist aber
auch die schiere Kürze der zu Verfügung stehenden Studienzeit für die
Sprachwissenschaft mittlerweile zu einem bedrohlichen Problem geworden.
Die deutsche Tradition der obligatorischen Fächerkombination im
Lehramtsstudium reduziert den Anteil des Spanischen schon einmal auf
50% des Gesamtstudiums. Nahezu die Hälfte dieser Zeit entfällt zudem auf
Sprachpraxis und Fachdidaktik, sodass für das Fachstudium höchstens noch
ca. 30% übrig bleiben, also je 15% für Sprach- und Literaturwissenschaft.
Einer allgemeinen Tendenz folgend wurde nun an meinem romanischen
Institut vor einigen Jahren neben den beiden klassischen Fachbestandteilen
Literatur- und Sprachwissenschaft die Kulturwissenschaft als dritte und
gleichberechtigte Säule des fachwissenschaftlichen Romanistikstudiums
eingeführt, sodass nun auf jede dieser drei Disziplinen nur noch etwa 10%
der Zeit und Ressourcen des Studiums entfallen. Das sind dann
typischerweise die folgenden Lehrveranstaltungstypen:
Vorlesung „Einführung in die Linguistik“ (= Einführung 1)
Seminar „Strukturen des Spanischen(= Einführung 2)
Proseminar
Vorlesung
(Hauptseminar)
Übung Altspanisch
Examenskurs
Ein tatsächliches sprachwissenschaftliches Fachstudium beschränkt sich
also auf ein Proseminar und eine Vorlesung sowie, fakultativ in einem der
drei Teilbereiche, ein Hauptseminar; der Examenskurs ist als Repetitorium
ausgelegt.
3. Freiheit von Forschung und Lehre auf Kosten der Studenten?
Es herrscht natürlich weiterhin die Freiheit von Forschung und Lehre, die
den Status eines deutschen Professors definiert. Ich kann selbstverständlich
unverändert am traditionellen Ideal festhalten, von Semester zu Semester
stets neue Seminarthemen anbieten und die Wiederholung der Themen auf
ein Minimum beschränken. Ich kann mein Fach so in voller Breite auch in
der Lehre vertreten und womöglich meinen Kollegen gegenüber die Vielfalt
meiner wissenschaftlichen Interessen dokumentieren. Ich kann mich der
Verschulung der Universität verweigern und mich auf den Standpunkt
stellen, dass das Staatsexamen am Ende des Studiums nicht mein Problem
ist. Ich kann im Unterricht meine Steckenpferde reiten und die Studenten für
die examensrelevanten Inhalte auf die einschlägigen Repetitorien verweisen
(auch wenn dann von einer Repetition im eigentlichen Sinne keine Rede sein
kann…).
Ich kann mich andererseits allerdings auch auf den Standpunkt stellen,
dass die langjährige Erosion der romanistischen Sprachwissenschaft in der
Philologie nun einen Punkt erreicht hat, an dem das sprachwissenschaftliche
Fachstudium zur Farce zu werden droht: zu einer reinen Einführung in ein
Fach, das mit dem Examen endet, bevor es im eigentlichen Sinne begonnen
hätte. Die geschilderten äußeren Umstände sind den Studenten gewiss nicht
vorzuwerfen; kurzfristig können wir Hochschullehrer nichts an ihnen
ändern. Es kann allerdings auch kein Weiter-So geben, da die sinkende
fachwissenschaftliche Qualifikation der Absolventen irgendwann der (für
uns existenzbedrohenden) Frage Tür und Tor öffnen würde, warum denn
die Lehrerausbildung überhaupt noch an den Universitäten geschehen
sollte. Wissenschaftlichkeit ist das Alleinstellungsmerkmal der Universität
und, wenn dieses Element für die Lehrerausbildung verzichtbar werden
sollte, dann wird auch die Universität für die Lehrerausbildung verzichtbar.
4. „Schmutzige“ pragmatische Lösung hier und heute
Man könnte nun auf Grundlage dieser Erwägungen ein Plädoyer für
grundlegende strukturelle Änderungen in der Konzeption romanischer
Seminare und akademischer Lehrpläne halten und auf Lösungen
hochschulpolitischer Natur verweisen. Die Studiengänge sind in ihrer Dauer
und ihren Spezialisierungsmöglichkeiten viel zu unflexibel geworden; die
Studierenden gestalten ihr Studium nicht mehr, sondern werden durch ein
enges Regelkorsett fremdbestimmt durch ihr Studium geschleust. Die
Hoffnung, dass dadurch zumindest eine verlässliche Grundversorgung und
das zentrale kanonische Wissen gewährleistet werden könnten, wird durch
eine zeitgleiche Überfrachtung des Studiums mit immer mehr
obligatorischen Inhalten schnell wieder zunichte gemacht. Ein kürzeres
Studium, dass z.B. durch die Kulturwissenschaft zugleich durch ein neues
Teilfach erweitert wird, kann in einer Welt begrenzter Ressourcen eben die
alten Inhalte nicht mit derselben Intensität wie früher vermitteln.
Ich möchte hier aber davon Abstand nehmen, die Lösung der
beschriebenen Probleme in einer Änderung von Studiengängen oder
Modulhandbüchern zu suchen, sondern mich stattdessen auf die Elemente
einer hier und heute praktikablen Lösung beschränken, deren Umsetzung
nicht von der hypothetischen Kooperation von Ministerien,
Hochschulleitungen und Studiengangsbeauftragten abhängt. Die Frage
lautet daher: Was kann ich selbst sofort tun, um unter den gegebenen neuen
Bedingungen zu gewährleisten, dass meine Studenten im Verlaufe ihres
Studiums die Chance bekommen haben, zumindest die zentralen
„kanonischen“ Inhalte der hispanistischen Sprachwissenschaft kennen zu
lernen? Zu den möglichen pragmatischen Antworten gehören:
Selbstbeschränkung meiner Lehrfreiheit
Engere Abstimmung mit der Fachdidaktik
Festlegung und Garantie eines Minimalkanons grammatischer
Phänomene, die vertieft behandelt werden müssen.
Die Präsentation und Begründung eines solchen aufs Notwendigste
komprimierten Themenkanons der hispanistischen Sprachwissenschaft im
Lehramtsstudium ist Gegenstand dieses Beitrags.
5. Die Aufgaben der Sprachwissenschaft im Lehramtstudiengang
Welchen Beitrag kann also nun die Linguistik dazu leisten, dass nicht-
muttersprachliche Spanischlehrer mit naturgemäß unzuverlässigen
spanischen Sprachintuitionen in die Lage versetzt werden,
eigene idiomatische Unsicherheiten durch Anwendung
sprachwissenschaftlich fundierter Selbstanalyse zu überbrücken;
Korrekturen im Rahmen des engen Zeitfensters der Schulpraxis zu
erledigen;
sich durch selbständige und kritische Lektüre einschlägiger
Fachliteratur über ein ganzes Berufsleben hinweg fortzubilden;
fremdsprachendidaktische Konzepte kritisch zu hinterfragen;
eigene didaktische Konzepte für die Vermittlung zentraler
grammatischer Probleme zu entwickeln.
All diese Fertigkeiten sind Konkretisierungen einer intellektuellen
Selbständigkeit, die eine spezifisch wissenschaftliche Ausbildung an einer
Universität liefern kann und die hypothetisch den Unterschied zwischen
einer akademischen Ausbildung und einem reinen Lehrberuf ausmachen
sollten.
Fremdsprachenlehrer sind an deutschen Schulen zumeist keine
Muttersprachler der unterrichteten Fremdsprache. Dennoch sollte ihre
Durchdringung der systematischen Strukturen dieser Fremdsprache eine
Qualität besitzen, die über die eines einfachen fortgeschrittenen Lerners
hinausgeht. Diese weitergehende, verstehende Durchdringung kann von
einer verantwortungsbewussten Linguistik entscheidend befördert und in
vielen Aspekten auch nur von dieser geleistet werden.
6. „Fachdidaktik für Lehrer“ vs. „Fachdidaktik für Lerner“
Eine Konsequenz dieser Forderung ist es, dass angehende Spanischlehrer in
ihrer linguistischen aber auch in ihrer sprachpraktischen Ausbildung mit
einer deutlich stärker begrifflich-expliziten und analytischen Didaktik
behandelt werden sollten, als sie den eigentlichen Endabnehmern (Schüler)
sinnvollerweise zugemutet werden könnte:
Spanischstudenten müssen ex officio belastbarer für theoretisch-
begriffliche Analysen sein, als Schüler und können dafür auch eher von
einer solchen Sprachanalyse profitieren.
Zudem werden an ihre aktive Beherrschung (und Fähigkeit zur
Bewertung des Sprachvermögens Anderer) hinterher auch höhere
Ansprüche gestellt.
Insofern ist die universitäre Fachdidaktik eine „Didaktik für Didaktiker“
und darf, ja soll sich von der Schulpraxis als einer „Didaktik für
Endverbraucher“ deutlich unterscheiden. Die größere begriffliche
Explizitheit ermöglicht vor allem in den stärker regelgesteuerten Bereichen
des Sprachsystems wie Syntax und Morphosyntax ein tieferes Verständnis
der Zusammenhänge, das zwar nicht 1:1 an die Schüler weitergegeben
werden kann, wohl aber eine sicherere Basis für die Beurteilung von
Korrektheit bzw. Idiomatizität der fremdsprachlichen Produktion der
Schüler liefert.
7. Obligatorische Sprachreflexion zu ausgewählten Grammatikbereichen!
Die Linguistik kann diesen Aspekt der universitären Ausbildung liefern und
sollte darin im Rahmen der Lehramtsstudiengänge eine Kernaufgabe ihrer
Lehre sehen. Leider reicht es dabei nicht aus, die nötigen
Lehrveranstaltungen anzubieten man muss auch dafür sorgen, dass diese
Inhalte tatsächlich obligatorisch studiert werden müssen. In der
universitären Praxis ergibt sich nämlich erfahrungsgemäß immer wieder das
Problem einer scharfen Diskrepanz zwischen denjenigen Themen, die
Studierende im Studium am liebsten belegen und denjenigen, die sie als
Junglehrer später am nötigsten gebrauchen könnten, wenn sie beispielsweise
die sechste Stunde in der 10e oder die Korrektur der 60 Schulaufgaben (bis
nächste Woche) bewältigen müssen. Die Erfahrung lehrt, dass bei fehlender
Regelung und völliger Wahlfreiheit 90% der Studierenden es vorziehen, das
sprachwissenschaftliche Proseminar z.B. in dem Kurs „Das Spanische in den
USA“ zu absolvieren, während vielleicht gerade einmal 10% zögernd die
Alternative „Spanische Morphosyntax“ wählen. Welche dieser beiden
Alternativen hinterher für die genannten schulischen Verpflichtungen den
größeren Nutzen verspricht, ist bei dieser Verteilung der Präferenzen
offenbar kein zentrales Kriterium.
Es ist insofern im (späteren) Interesse der Studierenden, wenn
romanische Institute dafür Sorge tragen, dass zentrale Themen zum
Pflichtprogramm und marginalere dagegen zur Kür gerechnet werden. Es
darf nicht mehr (wie vielerorts leider praktiziert) möglich sein, dass
Romanisten zum 1. Staatsexamen antreten, die ihren
sprachwissenschaftlichen Fachstudienanteil mit Themen wie „Das siglo de
oro“, „Die Reisen Alexander von Humboldts nach Lateinamerika“, „Das
Tier in der Kultur Spaniens“ oder „Die katholische Kirche und die Sprache“
absolviert haben, andererseits aber Begriffe wie Klitikon,
Grammatikalisierung, Verbalperiphrase, Aspekt oder Modalität noch nie
gehört haben. Aus dieser Beobachtung folgt nicht nur die Forderung, diese
Dinge regelmäßig zu unterrichten (was eine Selbstverständlichkeit sein
sollte), sondern weitergehend die Forderung, durch geeignete Maßnahmen
sicherzustellen, dass diese zentralen Inhalte studentischerseits nicht durch
soft options umgangen werden können. Bei aller wünschenswerten Offenheit
der Geisteswissenschaften haben Lehramtsstudiengänge eine moralische
Pflicht, die Vermittlung des praxisrelevanten Kernbereichs an alle
Absolventen sicherzustellen.
Sowie nun sichergestellt ist, dass angehende Spanischlehrer eine
linguistische Grundausbildung nicht mehr über randständige oder schlicht
fachfremde Lehrveranstaltungen umgehen können, muss eine
verantwortungsbewusste romanische Sprachwissenschaft nun ihrerseits
versuchen, in ihrem thematischen Angebot einen Weg zwischen zwei
Extrempunkten zu finden:
1. Zu meiden wäre einerseits eine ausschließliche Beschränkung auf
Themen der externen Sprachgeschichte, Sondersprachen
(„Jugendsprache“, „Werbesprache“, „Internetsprache“ oder auch das
phantasmagorische „Spanglish“ ungezählter Seminararbeiten),
Traditionen des Sprechens und andere Umgehungsstrategien zur
Vermeidung der deskriptiven Kernbereiche der Grammatik;
2. andererseits aber auch eine professionelle und am linguistischen
Forschungsstand orientierte „moderne Linguistik“, deren Themen und
Methoden sich nicht an einer zumindest potenziellen Anwendbarkeit in
der Schulpraxis orientieren, sondern vielmehr den Themenstellungen der
allgemeinen Sprachwissenschaft folgen.
Alle genannten Themen und Methoden sind selbstverständlich in einer
akademischen Romanistik legitim und meine Kritik betrifft daher auch nicht
das, was unterrichtet wird sondern vielmehr das, was nicht unterrichtet
wird. Während im ersten Fall interessante, aber nicht zentrale Themen als
(vermeintliche) soft option die Aufmerksamkeit der Studierenden vom
Kernbereich ablenkt, droht die wissenschaftliche tough option aus den Augen
zu verlieren, welche linguistischen Einsichten später zumindest mittelbar
praxisrelevant sein könnten und welche andererseits nur der derzeitigen
Theoriedebatte geschuldet sind. Es gilt also einerseits im Auge zu behalten,
dass wir Linguisten sind, andererseits aber auch, dass wir Lehrer ausbilden
wollen.
8. Eklektizistische Problemlinguistik als Kompromiss zwischen Theorie
und Praxis
Der Mittelweg zwischen diesen Extremen kann nur in einer implizit
komparatistischen eklektizistischen „Problemlinguistik“ bestehen, die nicht
den Anspruch erhebt, die Gesamtheit des spanischen Sprachsystems
innerhalb eines kohärenten Theoriegebäudes beschreiben zu wollen,
sondern vielmehr nur einen überschaubaren Kanon von Einzelphänomenen
beschreibt diesen dafür aber in angemessener analytischer Tiefe.
Kandidaten für diesen Kanon sind einerseits kontrastive Phänomene und
Lernerprobleme, andererseits die klassischen Forschungsthemen der
hispanistischen Linguistik; vielfach stimmen diese beiden Kriterien ohnehin
überein.
Studierende treffen auf viele dieser Probleme mit Vorkenntnissen aus
ihrem praktischen Sprachunterricht, in denen sich typischerweise
Bedenkliches mit durchaus Zutreffendem vermischt. Hier sollte es Aufgabe
der Linguistik sein, die so erworbenen Faustregeln zu erfragen und
argumentativ auf ihre Schlüssigkeit hin zu überprüfen. Oft besteht die
Schwierigkeit schon darin, das betreffende grammatische Phänomen
überhaupt präzise zu formulieren. Das „ser-estar-Problem“ kennt jeder
Spanischlerner; präzise auszuformulieren, worin es eigentlich besteht, ist
dagegen etwas, das nur wenige schaffen. Oft entsteht der Aha-Effekt schon,
indem man ein solches Phänomen einfach sprachwissenschaftlich
kontextualisiert. Im konkreten Fall könnte man hier das Konzept der Kopula
und der kopulativen Verben einführen und funktional gegenüber anderen
Verben abgrenzen.
Die traditionelle Lernergrammatik (d.h. die Didaktik für
Endverbraucher) sucht Regeln zu etablieren, mit deren Hilfe der Lerner
erlaubte (= „richtige“) und verbotene (= „falsche“) Strukturen zu
unterscheiden lernt. Sie beantwortet also die Frage: „Was muss ich tun, um
keinen Fehler zu begehen?“ Dem kann eine linguistisch-funktionalistische
Herangehensweise einen deutlich anderen Fragetyp zur Seite stellen, der,
zumindest in einer Fachdidaktik für Lehrer, geeignet ist, die intellektuelle
Durchdringung der Gesetzmäßigkeiten der Fremdsprache auf eine neue
Stufe zu heben. Statt einer reinen Kasuistik aus Verboten und Geboten
vermag die Linguistik Regeln zu liefern, mit deren Hilfe man die
unterschiedliche Semantik bzw. Funktion ähnlicher oder konkurrierender
Strukturen zu unterscheiden lernt. Diese Herangehensweise sieht die
Probleme der Grammatik in einem ganz anderen Licht. Eine typische
Fragestellung wäre dann: „Wie ändert sich der Ausdrucksgehalt dieser
Konstruktion, wenn ich a durch b ersetze?“. Die Konzepte „falsch“ und
„richtig“ (hier eher im Sinne von „markiert“ vs. „unmarkiert“) stehen hier
nicht mehr im Zentrum des Interesses, sondern sind nur noch zwei Aspekte
unter vielen anderen möglichen Faktoren.
9. Vorschläge für einen Kanon relevanter Phänomene
Ein Kanon grammatischer Phänomene, zu denen die Sprachwissenschaft
einen praxisrelevanten Theoriebeitrag leisten kann, mag unter anderem die
folgenden Phänomene umfassen, von denen einige bereits Klassiker der
spanischen Grammatiksind, andere dagegen es werden sollten.
(a) Klitische vs. freie Personalpronomina: Dass die spanischen
Personalpronomina sich syntaktisch in vielerlei Hinsicht völlig anders
verhalten, als die deutschen, ist zwar in dieser Form kein klassisches
„Problem“, wohl aber eine grundlegende theoretische Reflexion, die im
Rahmen des Studiums stattfinden muss, und die innerhalb der Sprachpraxis
so nicht stattfinden kann. Die Existenz zweier Pronominalreihen (freie vs.
klitische Pronomina) ist der wichtigste strukturelle Unterschied zwischen
germanischen und romanischen Sprachen. Die theoretische Reflektion sollte
(vielleicht auf Basis von Kaiser 2012) zu der Erkenntnis führen, dass die
freien Pronomina, die unseren deutschen Personalpronomina doch so
ähneln, viel weniger wichtig sind, als die uns fremden Klitika; dass zudem
die spanische Orthographie uns durch Zusammenschreibung der Enklitika
(¡Dámelo!) und Getrenntschreibung der Proklitika (¿Me lo das?) die
Allgegenwart der Proklise zu verschleiern droht.
(b) „Clitic doubling” die „pronominale Reprise“: Der seltsame
Doppelmoppel mancher Objekte im Spanischen lässt sich nur auf Grundlage
des vorigen Themas angemessen erklären. Es geht darum, die Konstruktion
erkennen zu lernen:
a. Me lo han dicho a mí. Man hat es mir gesagt *[mir]‘.
b. Le dijeron a Juan que viniera. Sie haben Hans *[ihm] gesagt ...
Es soll zudem erkannt werden, dass dies eine Struktur ist, die es im
Deutschen so nicht gibt, dass zwischen strengem und weiter gefasstem clitic-
doubling sowie zwischen obligatorischer, bevorzugter und unmöglicher
Reprise unterschieden werden muss. Diachronisch sollte dabei der
jahrhundertealte kontinuierliche Sprachwandel durch Grammatikalisierung
thematisiert werden, in dessen Verlauf die ursprünglich obligatorischen
freien Pronomina und fakultativ unterstützenden Klitika im siglo de oro ihre
Rollen wechselten, um zur modernen Situation der obligatorischen Klitika
und fakultativen freien Pronomina zu gelangen (cf. Rini 1990).
(c) Der präpositionale Akkusativ Differential Object Marking:
Dieses Phänomen wird in der Sprachpraxis zwar erklärt, nicht aber in seinen
linguistischen Kontext gestellt. Alle romanischen Sprachen markieren
indirekte Objekte (= „Dativ“) mit einem Marker, zumeist a:
a. Je donne le livre à Pierre. / Doy el libro a Pedro.
Anders als in den anderen romanischen Sprachen wird derselbe Marker
aber im Spanischen auch für einen Teil der direkten Objekte verwendet (=
„Akkusativ“):
b. Conozco a Pedro. / Je connais *à Pierre.
Durch diese Reinterpretation des Dativ-Markers als Belebtheits-Marker gibt
es im Spanischen also zwei morphologisch unterschiedene Typen direkter
Objekte: solche mit und solche ohne Differential Object Marking (DOM) (cf.
Körner 1987). Dabei muss auch thematisiert werden, dass „Belebtheit“ in der
versprachlichten Welt ist nicht deckungsgleich mit „lebendig“ in der realen
Welt (!):
c. Derribaron a dos aviones enemigos.
(d) Die letzten Reste des Kasussystems der Pronomina: leísmo, laísmo,
loísmo: Studierende sind zumeist verwirrt über die Variation in der
pronominalen Realisierung direkter Objekte der dritten Person:
a. ¿Conoces a Juani? , lei / loi conozco hace tiempo.
Unsere deutsche Intuition lässt uns hier beim complemento directo einen
„Akkusativ“ erwarten, den wir mit der Form lo assoziieren. Diese
Intuitionen eines Dativ vs. Akkusativ-Kontrasts werden allerdings von
immer weniger Spanischsprechern geteilt. In diesem Zusammenhang stellt
sich die Frage: Wo gibt es im Spanischen noch „Kasus“? Wenn überhaupt,
dann nur noch bei den Klitika in der 3. Person (Akkusativ vs. Dativ); doch
angesichts des Schwunds der Kasusintuition bei vielen Spanischsprechern
haben wir im leísmo stattdessen eine Reinterpretation des alten Dativmarkers
als Belebtheitsmarker; da es dieselbe Unterscheidung durch die DOM-
Markierung in den lexikalischen NPs bereits lange gibt, lässt sich leísmo als
Versuch deuten, die Belebtheitsmarkierung der lexikalischen Objekte auch
auf den Bereich der Klitika zu übertragen. Dies funktioniert bisher aber nur
bei maskulinen Objekten und stellt einen natürlichen Sprachwandel dar, der
sich normativ (RAE) aber nicht entfalten darf (cf. Radatz 2011).
(e) Die Stellung des attributiven Adjektivs: Sie ist zwar frei, aber nicht
beliebig. Das Problem ist üblicherweise bekannt, wird dann aber zumeist auf
die klassischen Beispiele mit sogenannten „bisemantischen Adjektiven“
(viejo amigo vs. amigo viejo) reduziert. Es ist also zunächst zu zeigen, dass
diese nur eine Anekdote am Rande des eigentlichen Problems sind (auch
dtsch. ‚alter Freund‘ ist polysem). Es kann dann zwischen prädikativem und
attributivem Gebrauch unterschieden werden; zudem müsste
problematisiert werden, dass es unter den Adjektiven relevante
Unterklassen gibt, die sich sehr unterschiedlich verhalten. Die meisten
„Adjektive“ sind Relationsadjektive, bezeichnen normalerweise keine
Eigenschaft und stehen nach. Nur Eigenschaftsadjektive sind „echte
Adjektive und können daher voran- und nachstehen. Manche
Relationsadjektive können allerdings sekundär auch als
Eigenschaftsadjektive verwendet werden:
a. Café descafeinado / ?descafeinado café
b. Descafeinadas negociaciones / negociaciones descafeinadas
Bei echten Kernadjektiven herrscht Stellungsfreiheit:
c. Una buena cena / una cena buena
Vorangestellte Adjektive werden allerdings nie referenzeinengend
(schnittmengenbildend) verwendet (cf. Radatz 2012).
(f) Der Subjunktiv: Nirgends bringen Studenten mehr Halbwissen und
Irrtümliches mit, als zum Thema Subjunktiv. Eine Reduktion des
Subjunktivs auf die Funktion eines redundanten morphosyntaktischen
Subordinationsmarkers wird all den Fällen nicht gerecht, in denen eine
Modusalternanz möglich ist und tatsächlich dem Ausdruck der Modalität
dient; eine Reduktion des Subjunktivs auf seine Modusfunktion wird
demgegenüber der überwiegenden Mehrheit der Fälle nicht gerecht, in
denen der Subjunktiv ohne jegliche Wahlmöglichkeit syntaktisch ausgelöst
wird und damit keinen semantischen Gehalt transportieren kann.
Studierende müssen lernen, diese beiden Fälle voneinander zu
unterscheiden. Im Fall des „modalen“ Subjunktivs müssen sie lernen, die
konkrete Semantik aus dem Grundprinzip abzuleiten, dass der Subjunktiv
die Assertion der Proposition des Nebensatzes unterdrückt (cf. gute
Beispiele in Gebhardt 1979). Beim syntaktischen Subjunktiv dagegen (cf.
Takagaki 1984) sollte gelernt werde, dass semantische Erwägungen dort ins
Leere greifen. Während der deutsche Konjunktiv ausschließlich dem
Ausdruck von Modalität dient, tritt diese Funktion in den romanischen
Sprachen statistisch weit hinter der Funktion eines obligatorischen
Subordinationsmarkers zurück.
(g) Präteritum vs. imperfecto: Wir haben im Deutschen ein einziges
Erzähltempus, im Spanischen dagegen zwei, die funktional komplementär
sind. Nach welchen Kriterien wählen wir zwischen diesen beiden? Ganz
allgemein werden Tempusfragen im Sprachunterricht anscheinend so
unterrichtet, als sei die Versprachlichung der Realität ein mechanischer
Vorgang ohne Gestaltungsmöglichkeit durch den Sprecher. Studenten
versuchen daher die „korrekte“ Tempuswahl aus einer Analyse des zu
beschreibenden Sachverhalts zu gewinnen. „Wenn eine Handlung
abgeschlossen ist, nehme ich indefinido, wenn nicht, imperfecto“. Dabei
wird die Funktion des Imperfekts als Gestaltungsmittel der
Versprachlichung (RAE: „co-pretérito“!) regelmäßig übersehen und
stattdessen nach Regeln gesucht, die einen bestimmten Tempusgebrauch
erzwingen.
Hier müsste zuerst zwischen Tempus und Aspekt unterscheiden werden
und die temporale Gleichwertigkeit beider Formen herausgearbeitet
werden. Parallel bzw. alternativ zur klassischen satzbasierten Analyse mit
ihrer Zuspitzung des Kontrasts im sogenannten Inzidenzschema sollte die
Funktion der beiden Präterita bei der Erzeugung eines Erzählreliefs gezeigt
werden (cf. Hopper 1979). Relevant ist nicht die Struktur des beschriebenen
Ereignisses, sondern die Art und Weise, wie der Sprecher es zu
versprachlichen wünscht. Das Imperfecto impliziert keine sequenzielle
Ikonizität und ist daher für sich allein kein Erzähltempus (daher „Ko-
Präteritum“). Seine Funktion besteht vielmehr darin, die
Informationsvergabe im Text in zwei Ebenen zu strukturieren, indem es eine
Hintergrundebene der Uneigentlichkeit ermöglicht, die klar von der
eigentlichen Erzählung im Indefinido unterschieden ist.
(h) Präteritum vs. Perfekt: Hier gilt es zunächst einmal im Vergleich mit
dem Deutschen zu zeigen, dass die intuitive Assoziation des spanischen
Perfekts mit dem deutschen nicht funktionieren kann, weil das deutsche
Perfekt in der Sprechsprache ein echtes Erzähltempus geworden ist, das
spanische dagegen nicht. Wichtig ist zudem die Information, dass die
Semantik des spanischen HABEN-Perfekts ein Phänomen im Umbruch ist,
das an verschiedenen Orten der Hispanophonie zu unterschiedlichen
Resultaten geführt hat (vor allem Europa vs. Amerika). Harris (1982) stellt in
verständlicher Weise den Grammatikalisierungspfad dar, auf dem die
romanische Innovation des HABEN-Perfekts in der Romania zu neuen
Tempora geführt hat; neben einem Verständnis für die zugrundeliegenden
Sprachwandelphänomene ermöglicht seine Darstellung außerdem, die
unterschiedlichen semantischen Effekte dieser Form als eine von vier Stufen
auf ein und demselben Grammatikalisierungspfad darzustellen:
Stufe 1: Präsentisches Resultat aus einem in der Vergangenheit gelegenen
Vorgang.
Stufe 2: Vergangenheit mit objektivem Gegenwartsbezug.
Stufe 3: Vergangenheit mit subjektivem Gegenwartsbezug.
Stufe 4: Verdrängung des alten Präteritums.
Lateinamerika repräsentiert Stufe 2, Spanien Stufe 3 und Frankreich Stufe 4.
(i) Synthetisches vs. analytisches Futur: Das Problem scheint zunächst
darin zu bestehen, zwei konkurrierende Tempora zeitenlogisch
gegeneinander abzugrenzen. Der Wissensstand der Studenten sieht in etwa
so aus: Lo haré und lo voy a hacer bedeuten dasselbe, haben allerdings eine
leicht unterschiedliche Semantik. Man kann immer das eine durch das
andere ersetzen, außer manchmal nicht“. Auch hier bietet sich zuerst einmal
die diachronische Reflektion darüber an, welche der beiden Formen alt und
welche innovativ ist. Das GEHEN-Futur wird als eine romanische
Innovation erkannt, deren Grammatikalisierungspfad von Stufe 1: Vom
GEHEN zur ABSICHT zu Stufe 2: Von der ABSICHT zur ZUKUNFT
fortschreitet (cf. Detges 1999). Der Prozess ist nicht abgeschlossen, doch ist
das GEHEN-Futur tendenziell im Begriff, das synthetische in all seinen
temporalen Funktionen zu ersetzen, nicht aber in seinen modalen:
a. Lloverá = Va a llover.
Future haben nämlich normalerweise nicht nur temporale, sondern auch
modale Funktionen (cf. Ferrari 2001) eine Beobachtung, die in der
Sprachpraxis normalerweise nicht systematisch vermittelt wird. Hier wäre
die deontische von der epistemischen Modalität abzugrenzen und ihr
Ausdruck durch das futuro simple zu analysieren:
b. Serán las ocho.
Davon ausgehend lässt sich dann zeigen, dass das futuro simple in
seinen temporalen Verwendungen zusehends vom periphrastischen Futur
verdrängt werden mag, dass es im modalen Gebrauch dagegen
unangefochten fortbesteht:
c. Serán las ocho ≠ Van a ser las ocho.
(j) Das ser-estar-Problem: Dieser Klassiker der spanischen Grammatik
verliert allein durch eine präzise Ausformulierung in einschlägier
linguistischer Terminologie einen Großteil seiner Schrecken. Hier sollten die
Konzepte Kopula bzw. kopulatives Verb und Prädikation eingeführt
werden. Hilfreich ist erneut die diachronische Perspektive (cf. Pountain,
1982), anhand derer man die Grammatikalisierung von STARE zu einem
neuen kopulativen Verb zeigen kann und damit zugleich ser als die
eigentliche Kopula und estar als die Innovation identifiziert. Entgegen
studentischer Intuition bildet die Wahl zwischen ser und estar nur in einem
sehr kleinen Teilbereich möglicher Prädikatsnomen ein Problem, nämlich
ausschließlich mit „qualifikativen Adjektiven“, d.h. solchen, die der
semantischen Klasse der Eigenschaftsbezeichnungen angehören. Hier lässt
sich an das vorangegangene Adjektivstellungsthema anknüpfen. Die
semantische Regel für diesen problematischen Restbereich lässt sich aus der
noch nicht völlig abgeschlossenen Grammatikalisierung von estar zur
Kopula begründen, durch die estar im Zweifel nicht völlig atemporal
prädiziert, sondern zumindest die Möglichkeit einer Veränderung in der
Zeit offen lässt.
10. Resümee
Die Umwälzungen an der deutschen Universität durch Einführung
modularisierter Studiengänge haben die Studiendauer verkürzt, jegliche
Spezialisierung erschwert oder unmöglich gemacht und weitere
obligatorische Studieninhalte eingeführt. Der Anteil an Zeit und Energie, der
dadurch im Hispanistikstudium für die Sprachwissenschaft übrig bleibt,
wird im selben Maße immer geringer, so dass es zusehends schwierig wird,
auch nur die grundlegendsten Inhalte dieser Disziplin verlässlich zu
unterrichten. Als pragmatische Lösungen für dieses Problem wurde in
diesem Artikel ein Bündel von Maßnahmen vorgeschlagen: eine freiwillige
Einschränkung der Themenvielfalt in der Lehre, die Erarbeitung eines
Kanons unverzichtbarer grammatikalischer Phänomene, sowie eine engere
Abstimmung mit der Fachdidaktik, welche die linguistisch erarbeiteten
kanonischen Probleme durch Textarbeit und Didaktisierung vertiefen und in
die Unterrichtspraxis integrieren könnte.
Da die hier als pragmatische Schnelllösung vorgeschlagene
Selbstbeschränkung in der Lehre natürlich kein erwünschter oder auch nur
erträglicher Zustand ist, müsste längerfristig dafür Sorge getragen werden,
dass Sprachwissenschaft und Fachdidaktik zumindest in den
Lehramtsstudiengängen wieder mit einem größeren Anteil an
Unterrichtsstunden bedacht werden, als sie derzeit bekommen. Dass dies
auf Kosten von Literatur- und Kulturwissenschaft geschehen müsste, ist
hinzunehmen, wenn man zu akzeptieren bereit ist, dass Sprachwissenschaft
und Fachdidaktik in der alltäglichen Schulpraxis klare must-haves, Literatur-
und Kulturwissenschaft dagegen nur nice-to-haves sind (cf. Edmondson
1993).
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... A second benefit that linguistics has, according to Rothstein (2010: 15), is that an early linking of the two disciplines in university education could be of interest to learners. It could promote the motivation of future teachers if the benefits of language theory content for language didactic issues are conveyed to them in an exemplary manner early on in their studies (see also, e.g., Radatz 2016). ...
... New journal: Pedagogical Linguistics (since 2020). Publications: (a) Edited volumes/monographs: e.g., Rothstein (2010), Bürgel & Siepmann (2013, 2016, Whong et al. (2013), Krifka et al. (2014), Trotzke & Kupisch (2020), Marqueta Gracia et al. (2022); (b) Articles: e.g., Hudson (2004Hudson ( , 2020, Bruhn de Garavito (2013), Rothman & Slabakova (2018), Sheehan et al. (2019Sheehan et al. ( , 2021, Feldhausen & Biedebach (2020), Trotzke (2020), Trotzke & Rankin (2020a), Pešková (2020), Feldhausen (2021), van Maastricht (2021 for itself: the field of (formal) linguistics has started to (re-)explore what the potential importance of formal linguistic research might be for language pedagogy. Let us call this area of research Pedagogical Linguistics. ...
Article
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Linguists tend to underestimate their educational and societal role, but linguistics matters. Therefore, this article is a plea for linguists to act accordingly and to fulfill their important role boldly and creatively. By dealing with pedagogical aspects of Romance linguistics, an area which I call Romance Pedagogical Linguistics (RPL), I highlight the crucial role of linguistics in various pedagogical contexts of Romance languages and how all involved parties benefit from a strong, confident, and open-minded linguistic component. I assume a wide definition of RPL, thus including not only foreign and heritage language learning and teaching, but also teaching of linguistics in higher education. I demonstrate how Romance Pedagogical Linguistics could look in practice with five examples. In order to illustrate how language pedagogy can benefit from linguistics and what the task of linguistics is in this regard, I discuss subjunctives as well as intonation in Spanish and French foreign language acquisition, and I refer to work on Spanish as a heritage language. Subsequently, I will exemplify two concrete implementations of RPL in higher education by using the method of research-led learning in advanced courses of linguistics dealing with intonation as well as by presenting the Hourglass-Portfolio-Method.
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A comparative account of the development of Latin esse(re) and stare in the Romance languages and the nature of the copular contrast which has emerged.
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El artículo trata de la variación morfológica en los pronombres clíticos de tercera persona conocida bajo los nombres 'leísmo', 'loísmo' y 'laísmo'. Todos estos fenómenos tienen en común que, en ellos, los clíticos no siguen las pautas del sistema pronominal tradicional, también llamado el “sistema etimológico”. Hay por lo menos dos aspectos bajo los que dichos fenómenos se relacionan con el proceso morfológico de sincretismo que nos ocupa en nuestra sección: 1. la extensión de formas en el dominio de otras dentro de un paradigma morfológica constituye un sincretismo en si; 2. la patente pérdida del concepto de caso en las innovaciones puede verse diacrónicamente como el último paso dentro de un proceso milenario de sincretismo que alcanzó a todas las lenguas románicas. Con vistas a dar una representación de conjunto de dichas innovaciones, se sugiere una diferenciación terminológica entre diversos grados de sincretismo: • Sincretismo parcial = homonimia de formas dentro de un paradigma flectivo sin alteración en la estructura del mismo. • Sincretismo total = homonimia masiva de formas dentro de un paradigma flectivo resultando en la reducción estructural del mismo (pérdida de categorías enteras). • Pansincretismo = sincretismo total de la última oposición de un paradgima erosionado por sincretismos anteriores, conllevando la desaparición del mismo paradigma. Considerando el sincretismo como un proceso esencialmente reductivo, hay que distiguir de él el fenómeno de la “reinterpretación sincretística”: • Reinterpretación sincretística = reinterpretación de las formas residuales de un paradigma en avanzado estado de sincretismo resultando en la creación de un (o varios) paradigma(s) esencialmente nuevo(s). Una comparación entre el francés y el español muestra que, tanto en los nominales como en los pronominales, el francés mantiene el concepto morfosintáctico de caso y no cuenta con importantes innovaciones en su sistema de clíticos de objeto. El español, en cambio, ha abandonado el concepto de caso en favor del Marcado Diferencial de Objeto (MDO) en sus nominales mientras que aún mantiene un sistema casual análogo al sistema francés en sus clíticos pronominales (“sistema etimológico”). El desajuste entre los dos sistemas de categorización de objetos en español (MDO en los nominales, caso en los pronominales) es presentado como una importante motivación para abandonar el sistema etimológico y para el surgimiento de innovaciones en los clíticos. Siguiendo este análisis, el leísmo el leísmo constituye una reinterpretación sincretística de la oposición lo(s) / la(s) / le(s) a base de una analogía con el sistema binario que establece el MDO en los nominales con la finalidad de llegar otra vez a un sistema unitario para la categorización de los objetos, tanto nominales como pronominales.
2012. Handbuch Spanisch. Spanien und Hispanoamerika. Sprache-Literatur-Kultur
  • Joachim Born
Born, Joachim et al. (ed.). 2012. Handbuch Spanisch. Spanien und Hispanoamerika. Sprache-Literatur-Kultur. Berlin: Schmidt.