Als im Mai 2013 der Spiegel seine Story über die „Günstige Teststrecke“ lancierte, machten Worte von „schnellem Profit“ und „Menschenversuchen“ die Runde. Es war die Rede vom „Versuchslabor Ost“, in dem „unerprobte Arzneien“ eingesetzt wurden. Nur wenige Stimmen rieten zur Besonnen-heit und Genauigkeit im Umgang mit diesem Kapitel der west-östlicher Vergangenheit, das kei-neswegs so unbekannt war, die der Spiegel damals glauben machen wollte.
Der vielfach geäußerte Verdacht ethischer und rechtlicher Grenzverletzungen gab den Anlass für ein breit angelegtes Forschungsvorhaben. Es wurde wesentlich von dem bzw. der Bundesbeauf-tragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert und finanziert. Auch die Bundesärztekammer, die Landesärztekam-mern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Saarland und Sachsen sowie der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA) und der Bundesverband der Pharmazeuti-schen Industrie (BPI) haben sich an der Finanzierung beteiligt.
Die Studie wurde von einem unabhängigen Forschungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Volker Hess am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Charité in Berlin durchgeführt. Ein internationaler wissenschaftlicher Beirat von unabhängigen Experten und Exper-tinnen aus Medizin und Geschichtswissenschaft unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Carola Sachse (Universität Wien) hat die Forschungen begleitet.
Nach zweieinhalb Jahren intensiver historischer Aufarbeitung zieht die vorliegende Monografie Bilanz:
• Für den Zeitraum von 1961 bis 1990 fanden sich Hinweise auf bis zu 900 klinische Studien, die im Auftrag von Westfirmen in der DDR durchgeführt wurden. Davon sind 321 Studien für eine genauere Analyse archivalisch hinreichend dokumentiert.
• Auftraggeber waren überwiegend branchenführende bundesdeutsche, aber auch schweizeri-sche, französische, britische und US-amerikanische Firmen. Insgesamt wurden Aufträge von 75 Firmen aus 16 westlichen Ländern nachgewiesen.
• Als Prüfzentren fungierten 120 Universitätskliniken, Bezirkskrankenhäuser und andere Einrich-tungen des Gesundheitswesens, die sich über das gesamte Gebiet der DDR verteilten.
• Die westlichen Auftragsstudien in der DDR waren überwiegend Teil von größeren multinational und multizentrisch angelegten Arzneimittelprüfungen. Die Teilstudien wurden in allen ange-schlossenen Prüfzentren, ob in der DDR oder in anderen Ländern, nach den gleichen Stan-dards durchgeführt.
• Diese Standards entsprachen – auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs – nicht den heutigen Regeln, sondern wurden im Zuge der Weiterentwicklung internationaler ethischer Regeln und nationaler Gesetze nach und nach konkretisiert. Systematische Verstöße gegen die historisch jeweils geltenden Regeln konnten für die in der DDR durchgeführten Studien nicht nachgewie-sen werden. Verstöße in Einzelfällen konnten wir für die DDR nicht in einem vermehrten Aus-maß feststellen.
• Der Befund hinsichtlich der Aufklärung und Einwilligung von Patientinnen und Patienten bleibt unvollständig: In allen von uns geprüften archivierten Studienberichten sind Einverständniser-klärungen anonymisiert und listenförmig dokumentiert. Über die tatsächliche Praxis der Aufklä-rungsgespräche liegen jedoch nur vereinzelte Informationen aus Interviews mit Patient/inn/en und Prüfärzten der DDR-Kliniken sowie Monitoren der auftraggebenden Firmen vor. Sie lassen vermuten, dass zumeist den jeweils geltenden Regel und dem je historischen Verständnis des Arzt-Patientenverhältnisses entsprechend gehandelt wurde.
• Die DDR-Behörden stellten westlichen Unternehmen das Gesundheitssystem ihres Staates als Forschungseinrichtung zur Verfügung, um knappe Devisen für die eigene überschuldete Plan-wirtschaft zu erwirtschaften.
• Die Annahme, die klinischen Studien seien in der DDR besonders „billig“ zu haben gewesen, wird der komplexen Sachlage nicht gerecht. Der entscheidende betriebswirtschaftliche Vorteil auf Seiten der westlichen Auftraggeber war nicht das geringere Honorar, sondern der beträcht-liche Zeit- und Effizienzgewinn, den die aufsichtführenden Behörden des diktatorischen DDR-Regimes gewährleisteten, indem sie Einzelinteressen von Prüfzentren und Prüfärzten deckelten und öffentliche Kritik ausschalteten und so für eine zügige operative Durchführung sorgten.
• Das ökonomische Ungleichgewicht bot westlichen Arzneimittelherstellern noch weitere Vorteile: Anhand einer Reihe von Einzelfällen lässt sich zeigen, wie sich Pharmafirmen gezielt das Gefäl-le der medikamentösen Versorgung zwischen Ost und West zunutze machten, um in der DDR Studiendesigns zu realisieren, die im Westen zum jeweiligen Zeitpunkt so nicht mehr durchführbar waren.