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Der graue Markt für Altenpflege, Institutionelle Voraussetzungen und Ambivalenzen transnationaler Pflege

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Abstract

In den alternden europäischen Gesellschaften entwickelt sich seit einigen Jahren transnational praktizierte Altenpflege. Der wachsende Pflegebedarf für Ältere wie auch die abnehmenden Pflegepotentiale der mittleren Generation einerseits und die Zunahme der temporären weiblichen Arbeitsmigration in Haushaitstätdgkeiten andererseits münden in graue Pflegemärkte. Tätigkeiten der Versorgung, Pflege und Haushaltsarbeit - eben ‚Care‘ - werden zunehmend von Frauen übernommen, die von ärmeren in reichere postindustrielle Länder wandern und auf einem informellen transnationalen Pflegearbeitsmarkt landen (Sassen 2001; Gather et al. 2002).
Der graue Markt für Altenpflege - institutionelle
Voraussetzungen und Ambivalenzen transnationaler Pflege
Ursula Dallinger, Antje Eichler
1. Einführung
In den alternden europäischen Gesellschaften entwickelt sich seit einigen Jahren
transnational praktizierte Altenpflege. Der wachsende Pflegebedarf für Ältere wie
auch die abnehmenden Pflegepotentiale der mittleren Generation einerseits und die
Zunahme der temporären weiblichen Arbeitsmigration in Haushaltstätigkeiten
andererseits münden in ‘Graue Pflegemärkte’. Tätigkeiten der Versorgung, Pflege
und Haushaltsarbeit – eben ‚care’ – werden zunehmend von Frauen übernommen,
die von ärmeren in reichere postindustrielle Länder wandern und auf einem infor-
mellen transnationalen Pflegearbeitsmarkt landen (Sassen 2001; Gather u.a. 2002).
In Deutschland handelt es sich vor allem um Frauen aus Polen und anderen mittel-
und osteuropäischen Ländern; weitere Länder mit einem nennenswerten Arbeits-
markt für graue Pflege wie Italien oder Österreich weisen andere länderspezifische
Migrationsmuster auf. Der Begriff eines ‚Grauen Marktes für Altenpflege’ umfasst
sowohl Tätigkeiten in Privathaushalten im Rahmen der Regelungen des Arbeit-
nehmer-Entsendegesetzes (AEntG) der grenzüberschreitenden Erbringung von
Dienstleistungen wie auch Schwarzarbeit.
Unser Beitrag diskutiert 'Graue Pflegemärkte' als das Ergebnis bestimmter
Dienstleistungsregime und als das nicht intendierte Ergebnis einer mehr Markt an-
strebenden Pflegepolitik. Diese will den Kunden, der mit 'Pflegegeld' bedarfsge-
rechte Pflegearrangements wählt und neue Pflegepotenziale jenseits familialer und
formeller Pflege erschließt. Pflegebedürftige und ihre Familien machen Ernst da-
mit, sich als Kunden zu verhalten. Ausgestattet mit Geldleistungen suchen sie sich
die günstigste und bedarfsgerechteste Pflegedienstleistung. Die wird angeboten von
Migrantinnen, die sich über die partiell offenen Grenzen Europas bewegen und
häusliche Pflege zu einem viel niedrigeren Preis zugänglich machen als sie der
Dallinger, Ursula ; Eichler, Antje. (2010). Der graue Markt für Altenpflege : institutionelle
Voraussetzungen und Ambivalenzen transnationaler Pflege. In Hans-Georg Soeffner ;
Kathy Kursawe ; Margrit Elsner ; Manja Adlt (Hrsg.), Unsichere Zeiten (pp. 169-182).
Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss..
Ursula Dallinger, Antje Eichler
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nationale Markt für formelle Altenpflege anbietet. Im Folgenden soll gezeigt wer-
den, dass bestimmte Pflege- und Dienstleistungsregime die Entstehung von grauen
Pflegemärkten gewissermaßen nahelegen. Informelle Pflegemärkte bilden sich,
wenn Pflegedienstleistungen weder durch den Staat leicht zugänglich gemacht
werden, noch ein Markt für billige personenbezogene Dienstleistungen möglich
oder erwünscht ist und wenn hohe Preise für Dienstleistungen das "Selbermachen"
in der Familie fördern. Der Beitrag argumentiert, dass graue Arbeitsmärkte für
Altenpflege institutionell bedingt sind. Zu diesen Bedingungen gehört erstens die
unterschiedliche Stellung von Care’ in verschiedenen Dienstleistungsökonomien.
Das zeigen wir im Anschluss an Überlegungen von Esping-Andersen (1993) und
Iversen/Cusack (2000) zur unterschiedlichen Stellung sozialer Dienstleistungen, die
sich auch auf Altenpflegepolitiken beziehen lassen (2). Zu den Bedingungen gehört
weiter eine Pflegepolitik, die Vermarktlichung fördert (3). Drittens werden die
Möglichkeiten transnationaler Pflege von grenzregulierenden Praktiken der Länder
geprägt, besonders von denen, die die Europäisierung der Arbeits- und Dienstleis-
tungsmärkte begleiten (4). Ein Fazit bezieht das sog. Dienstleistungs-Trilemma auf
die Debatte um Graue Altenpflege (5).
2. Die Organisation von Dienstleistungen
Beim Übergang zur postindustriellen Gesellschaft ändern sich Muster geschlechts-
spezifischer Arbeitsteilung. Die expandierende Dienstleistungsökonomie bietet
'weibliche' Arbeitsplätze an, durch die die Arbeitsmarktpartizipation von Frauen
steigen kann. Dies schafft aber eine Pflegelücke, weil Frauen immer weniger nur
für unbezahlte Haushalts- und Pflegearbeit verfügbar sind. Die Dienstleistungs-
ökonomie sollte aber auch jene sozialen Dienstleistungen bereitstellen, durch die
Frauen traditionelle familiale Versorgungs- und Pflegeaufgaben abgeben können
(Esping-Andersen 1990). Deren Verfügbarkeit und wie diese organisiert sind - als
marktliche und/oder öffentliche Dienstleistung oder eben neuerdings auch als
Beschäftigung von Migrantinnen - schwankt jedoch. Wie Versorgungs- und Haus-
haltstätigkeiten für Kinder und ältere Menschen organisiert werden, hängt vom
Dienstleistungsregime einer Gesellschaft ab.Bisher betrachtete man Pflegepolitiken
in der vergleichenden Forschung im Rahmen international variierender Sozialpoli-
tik-Regime (Kondratowitz 2005; Ungerson/Yeandle 2007). Die dabei benannten
care-regime’ (auch ‚care arrangements’ oder ‚systems of care provision’) entsprechen
im Großen und Ganzen den ‚drei Welten’ des Wohlfahrtskapitalismus - liberale,
konservative und sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten - von Esping-Andersen
Der graue Markt für Altenpflege
3
(1990). Die kritische Rezeption des Regimemodells durch feministische Ansätze
ergänzte die von Esping-Andersen verwendeten Klassifikationskriterien der De-
kommodifizierung und Stratifizierung um die Dimension des Familialismus. Das
meint die Art und Weise, in der Wohlfahrtsstaaten die Sorgearbeit der Frau in der
Familie behandeln, mit sozialen Rechten ausstatten oder auf Dienstleistungsmärkte
auslagern (Lewis 1998; Leitner 2003). Auch der hier eingeführte Begriff der Dienst-
leistungsregime schließt an diese Regimetypologie an, betrachtet aber unterschiedliche
Formen der Organisation des Dienstleistungssektors über die engere sozialpoliti-
sche Beeinflussung hinaus. Wir schließen an diese Überlegungen an, die ursprüng-
lich im Kontext der breiteren Debatte um die Folgen der De-Industrialisierung für
Beschäftigung, Einkommensverteilung und staatliche Sozialausgaben entwickelt
wurden (Esping-Andersen 1993; Iversen/Cusack 2000; Iversen/Wren 1998).1
Diese Typologie betrachtet die Organisation und Rolle von formellen und infor-
mellen Dienstleistungen im Kontext von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wie auch
im Rahmen der in einer Gesellschaft akzeptablen Ungleichheit. Das Konzept ver-
bindet also unterschiedliche Pflegeregime, Arbeitsmärkte und Ungleichheit.
a) Der angloamerikanische, liberale Pfad: Liberale Sozialstaaten, wie Großbritan-
nien, Kanada oder die USA, schöpfen wenig der Wirtschaftsleistung ab und finan-
zieren nur in geringem Umfang Transfers und personenbezogene soziale Dienst-
leistungen. Diese sollen sich im privaten Sektor entwickeln, was durch deregulierte
Arbeitsmärkte, dezentralisierte Arbeitsbeziehungen und durch das Zulassen von
Lohnunterschieden gefördert wird. Die im sekundären Sektor freigesetzte Arbeit
wird in privaten Dienstleistungsbeschäftigungen aufgefangen, wo sich ein Niedrig-
lohnsektor entwickelt. Die wenig produktiven, arbeitsintensiven und gering bezahl-
ten Dienstleistungen werden jedoch von Arbeitssuchenden auch wegen des gerin-
gen 'social wage' übernommen. Die Entstehung eines Dienstleistungsproletariats
wird hier offenbar hingenommen.
b) Der skandinavische, sozialdemokratische Pfad: Dieser Wohlfahrtsstaatstyp zeich-
net sich durch seine Dienstleistungsintensität und durch hohe Sozialausgaben aus
(Huber/Stephens 2001). Die hohe Beschäftigungsrate im öffentlichen Dienstleis-
tungssektor soll teils De-lndustrialisierung bewältigen, teils gehört sie zum sozial-
demokratischen Dienstleistungsregime. Die Regulation des Arbeitsmarkts und der
Arbeitsbeziehungen wird aufrecht erhalten. Dadurch fehlt die Lohnspreizung im
1 Ursprünglich zeigten Iversen/Cusack (2000) anhand des Modells, dass die Entwicklung der
Sozialausgaben wenig mit der Globalisierung zu tun hat, sondern von internen Faktoren wie der
De-Industrialisierung und dem Übergang in eine Dienstleistungsgesellschaft bestimmt wird. Die
hier gemeinte Forschung kombiniert Dienstleistungs- und Produktionsregime (Scharpf 1997; Hu-
ber/Stephens 2001) und betrachtet Unterschiede der Arbeitsmarktinstitutionen und Arbeitsbezie-
hungen als Ursache länderspezifischer ‚outcomeswie Arbeitslosigkeit oder Ungleichheit der Ein-
kommen. Eine Anwendung zum Problem des Wachstums der Dienstleistungsbeschäftigung fin-
det man bei Kemmerling (2003).
Ursula Dallinger, Antje Eichler
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Dienstleistungssektor, der eigentlich nur dann expandiert, wenn Löhne sich nach
unten bewegen können und so auch einfache personenbezogene Dienstleistungen
mit geringer Produktivität nachgefragt werden. Staatlich subventionierte Löhne
auch einfacher Dienstleistungen gleichen dies aus. Sozialpolitik fördert keine tra-
dierten Familienstrukturen (wie in den kontinentaleuropäischen und katholi-
schen/rudimentären Wohlfahrtsstaaten), sondern Frauenerwerbstätigkeit und
qualifizierte öffentliche Dienstleistungen.
c) Der kontinentale, korporatistische Pfad: Dieser Typ der Sozialpolitik hat wie der
sozialdemokratische Dienstleistungsstaat ein hohes Ausgabenvolumen, das aber
anders verwendet wird. Ausgaben fließen primär in monetäre Transfers und nicht
in öffentliche Dienstleistungen. Arbeitsmarktregulierung und Lohnkompression
verhindern, dass ein Sektor gering bezahlter privater Dienstleistungen entsteht, die
im Zuge des Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft redundante Arbeitskraft
auffängt. Kemmerling (2003) bezeichnete diesen Typ als "weinenden Dritten", weil
trotz hoher Sozialausgaben wenig Dienstleistungsbeschäftigung entsteht. Personal-
intensive, wenig rationalisierbare Pflegetätigkeiten werden wegen der ‚Baumolschen
Kostenkrankheit’ zu teuer für die Nachfrage durch Privathaushalte, zugleich sind
staatlich subventionierte Dienstleistungen gering. Dies fördert das 'Selbermachen'
(self-servicing) einfacher Dienstleistungen durch den Haushalt. Diesen Typ vertreten
Länder wie Deutschland, Österreich und Frankreich.
Tabelle 1 umreißt anhand von Indikatoren die verschiedenen Dienstleistungs-
regime. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen als Indikator der Kapazitäten der
Haushalte zum Selbstpflegen schwankt in erwarteter Weise zwischen den Regimen
mit einer hohen Frauenerwerbsquote in den skandinavischen Ländern. Zugleich
lässt sich an den höheren Zuwächsen der Frauenerwerbsbeteiligung in konservati-
ven und mediterranen Ländern der Nachholbedarf an familienersetzenden Dienst-
leistungen ablesen. Der Anteil der in staatlichen Dienstleistungen Beschäftigten
indiziert, wie stark Regime die Entlohnung auch niedrigqualifizierter Versorgungs-
tätigkeiten öffentlich stützen. Die hohe Quote der staatlich finanzierten Dienstleis-
tungsbeschäftigung skandinavischer Länder weist sie als Regime mit einer egalitäre-
ren öffentlichen Entlohnung aus. In eine ähnliche Richtung weist der Indikator
Niedriglohn. Der Anteil staatlicher Ausgaben für Altenpflege am Bruttosozialpro-
dukt zeigt die Verfügbarkeit von Alternativen zur Pflege Älterer durch die Familie.
Diese sind in Regimen mit niedrigem Ausgabenanteil geringer.
Der graue Markt für Altenpflege
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Länder Erwerbsbeteili-
gung Frau 2006
und Anstieg seit
2001 1
% Beschäftigte
in öffentl.
Dienstleistun-
gen 2
Niedriglohn in
personenbezoge-
nen Dienstleistun-
gen 3
Öffentliche
Ausgaben für
Altenpflege
2000 4
Schweden 70,7/ - 1,6 21,6 (1995) 6,9 (Fin) 2.74
Dänemark 73,4/ +1,4 20,8 (1995) - 2,60
Deutschland 62,2/ + 3,5 8,5 (1991) 16,6 0,95
Österreich 63,5/ +2,8 13,4 (1994) 16,5 1,32
Italien 46,3/ +5,2 8,4 (1994) - 0,60
GB 65,8/ +0,8 9,1 (1995) 20,2 0,89
USA 66,1/ -1,0 10,3 (1995) 24,9 0,74
Tabelle 1: Dienstleistungsregime - Konstellationen aus Dienstleistungssektor, öffentlichen Ausgaben und
Ungleichheit
Anmerkungen:
1) Eurostat (2008): Europa in Zahlen - Eurostat Jahrbuch, S. 253.
2) In % der Bevölkerung im Erwerbsalter; Civilian Government Employment, Producers of Govern-
ment Services; Quelle: Cusack, T.R. (1998): Data on public employment and wages for 21 OECD
countries. WZB.
3)Angaben in % Beschäftigte des Sektors. Niedriglohn = Einkommen Vollzeit-Beschäftigter unter zwei
Dritteln des Durchschnittseinkommens. Zahl = Beschäftigte mit Niedriglohn in Prozent der Beschäftig-
ten des Sektors personale Dienstleitungen. Personale Dienstleistungen sind eine Kategorie der Gliede-
rung wirtschaftlicher Aktivitäten nach Sektoren (manufacturing, construction, services: wholesale/ retail
trade, transport/ communica tion, finance/ business, public administration und personal services).
Quelle: OECD (1996): Employment Outlook. Earnings inequality, low-paid employment and earnings
mobility, Paris, S. 72.
4) Staatliche Ausgaben für Pflege in % des GDP, 2000. Quelle: OECD (2005): The OECD Health
Project. Long-Term Care for Older People, S. 26. Und OECD (2005): Projecting OECD Health and
Long-term care expenditure. Economics Departments Working papers No. 477, S. 31.
3. Pflegepolitik und Marktelemente
Die beschriebenen Konstellationen setzen sich in regimespezifischen Pflegepolitiken
fort. Liberale Staaten präferieren Märkte für Pflegedienstleistungen und bieten
diese nur wenig selbst an. Ein geringer ‚social wage’ (Lohnersatzleistungen) macht
niedrige Löhne auch für Pflegedienstleistungen möglich. Die Beschäftigung von
Migrantinnen in Privathaushalten für Pflege und Versorgung ist der Logik des
Ursula Dallinger, Antje Eichler
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liberalen Sozialstaats gewissermaßen immanent. In sozialdemokratischen Regimes
tritt der Staat selbst als Anbieter von Pflegedienstleistungen auf. Die dort relativ
gute Bezahlung und Arbeitsbedingungen sind finanzierbar, weil die Bürger wieder-
um ein hohes Sozialbudget über Steuern und Sozialbeiträge finanzieren, was jedoch
als zumutbar und akzeptabel gilt.2 Die ausgebauten öffentlichen Pflegedienste
machen das Ausweichen auf halb- und illegale Pflegearbeit unnötig. Die Pflegepoli-
tik konservativer Länder verfolgt dagegen eine Mischung aus mehr Markt, mehr
formellen Dienstleistungen und neuen Anreizen und Leistungen für Familien. Das
öffentliche Dienstleistungsangebot (wozu auch das der Wohlfahrtsverbände zählt)
ist eher teuer und knapp, weshalb das ‚self-servicing’ durch die Familie dominiert.
Aber auch der ‚Familialismus’ dieser Länder, d.h. die starke normative Verankerung
der Verantwortung der Familie für die Pflege Älterer, ist für dieses spezifische
Dienstleistungsregime konstitutiv. Die wegen des demografischen Wandels unum-
gänglichen pflegepolitischen Reformen zielen auf die Ausweitung des Angebots an
Pflegedienstleistungen durch mehr Markt; in Deutschland etwa sollte die Zulassung
privater Anbieter von Altenpflege für mehr und bedarfsgerechtere Angebote sor-
gen. Qualitätssicherungsmaßnahmen sollen gleichzeitig hohe Standards wahren.
Pflegepolitische Reformen wollen die Ressourcen der Pflege ausweiten durch mehr
Sach- wie auch Geldleistungen. Zugleich ist eine weitreichende Kommodifizierung
von ‚care’ und ihre Überführung in formelle bezahlte Arbeit aus Kostengründen
und wegen normativer Leitbilder unerwünscht. Sowohl Geld- als auch Sachleistun-
gen decken deshalb nur partiell den Gesamtpflegebedarf ab. Pflegebedürftige und
ihre Familie sollen eigene Ressourcen – sei es Zeit für informelle Pflege oder Geld
zur Bezahlung selbstbeschaffter Pflegepersonen - aktivieren, um den vollen Pflege-
bedarf zu decken. Da der Grad, zu dem Pflegebedarf gedeckt werden kann, direkt
vom Preis von Pflegedienstleistungen abhängt, agieren Pflegebedürftige und ihre
Angehörigen nun preisbewusst (Rothgang 2000).
In mediterranen Ländern stellt die Pflegepolitik noch stärker als im konservati-
ven care-regime auf informelle Familienpflege ab. Da es wenig öffentliche Pflege-
dienstleistungen gibt, die Frauenerwerbstätigkeit aber steigt, setzen frei einsetzbare
staatliche Geldleistungen den Anreiz für die Beschäftigung von Migrantinnen als
nicht deklarierte Pflegearbeiterin. Eine traditionell tolerierte Schattenwirtschaft und
entsprechende Migrationspraktiken verstärken diese Tendenz.
Pflegepolitische Reformen in den konservativen und mediterranen Ländern
setzen den Focus auf Geldleistungen. Es ist einerseits als soziale Anerkennung des
‚self-servicing’ durch Familie und informelle Netze gedacht. Andererseits sollen
2 Universelle Anrechte auf soziale und pflegerische Dienstleistungen in sozialdemokratischen
Wohlfahrtstaaten werden oft als Zeichen einer besonderen Solidarität hervorgehoben. Man sollte
aber zur Kenntnis nehmen, dass diese Staaten im Zuge der Retrenchment-Politik Beschäftigung
gerade im Bereich soziale Dienstleistungen abbauten (Iversen/Wren 1998).
Der graue Markt für Altenpflege
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Pflegebedürftige und ihre Familien neue unterstützende Pflegeressourcen erschlie-
ßen und selbstbeschaffte Kräfte finanzieren können.3 Weiter sollen Pflegehaushalte
die Form der Versorgung damit selbst wählen und die von Konsumentenbedürf-
nissen gesteuerte Nachfrage soll zugleich das Angebot bedarfsgerechter machen.
Das neue Leitbild des wählenden ‚Kunden’, der mit Pflegegeld ausgestattet über
mehr Marktmacht verfügt, ist Teil einer Vermarktlichung der Pflege, die als Mittel
der Kostenbegrenzung und der Reform zugleich betrachtet wird.4
Nicht vorgesehen war, dass Pflegebedürftige und ihre Familien unter den neu-
en Rahmenbedingungen transnational als Kunden agieren.5 Sie umgehen die für
Privathaushalte oft schwer finanzierbaren Preise formeller Pflege und die erwartete
‚Eigenleistung’, die bei fehlendem Haushaltseinkommen in Form von Pflegezeit
der Frau geleistet wird. Sie nutzen die Differenz der Kaufkraft bzw. das Lohngefäl-
le zwischen den ökonomisch entwickelteren west- und südeuropäischen Ländern
einerseits und den mittel- und osteuropäischen oder außereuropäischen Migrations-
ländern andererseits. Haushalte mit Pflegebedürftigen setzen die begrenzten mone-
tären Leistungen dort ein, wo sie ein Maximum an Gegenleistung bringen. Sie
erhalten ein Volumen personenbezogener Dienstleistungen, das ihnen bei einer
Bezahlung auf nationalem Niveau nicht zugänglich wäre und das der Präferenz
zuhause gepflegt zu werden, entspricht. Versorgung auch nachts und am Wochen-
ende war bisher allenfalls mit sehr hohen Einkommen bezahlbar. Pflegegeld erhöht
die Kaufkraft, so dass auch weniger Privilegierte nun die unbezahlte, familiale Pfle-
ge der Frau durch privat bezahlte Pflegekräfte substituieren können, was zuvor nur
bei hohen Einkommen möglich war. Transfers für Pflege machen die Beschäfti-
gung von Migrantinnen zur erschwinglichen Alternative (Österle/Hammer 2007;
Bettio et al. 2004).
3 Schon weil das Pflegegeld so gering ist, würde konsequenterweise nur ein Niedriglohnsektor
bezahlbar sein, auf dem nur Menschen mit alternativen Einkommensquellen existieren können.
Anders als in liberalen Regimen wird das aber in konservativen nicht diskutiert, weil vollwertige
Arbeitsplätze gar nicht geplant werden.
4 Siehe Bauer u.a. 2005; Bode 2005; Lundsgaard 2006; OECD 2005: 49ff.; Rostgaard 2006; Unger-
son/Yeandle 2007.
5 Studien über die Verwendung von Pflegegeld lassen erkennen, dass Geldleistungen a) einen
Niedriglohnsektor fördern, b) zu niedrig sind, um ein wirklicher Lohn für Angehörigenpflege zu
sein, c) wenig zur erhofften Expansion qualifizierter Arbeitsplätze in der Pflege beitrugen (Österle
2007) und d) Graue Pflegemärkte fördern. Zudem verschieben Cash-for-Care-Programme die
Grenzen zwischen bezahlter und unbezahlter Pflegearbeit (Ungerson/Yeandle 2007).
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4. Umfang und Regulierung grauer Pflegemärkte
Pflege- und Betreuung älterer Menschen sind in Deutschland, Österreich und Ita-
lien traditionell Aufgabe der Familie. Der sozio-demografische Wandel führt in den
genannten Ländern zu vermehrten sozialpolitischen Aktivitäten um die Versorgung
älterer Pflegebedürftiger Menschen sicher zustellen. Während in skandinavischen
Wohlfahrtsstaaten Care-Tätigkeiten im öffentlichen Raum verortet werden und
dort staatliche Dienstleistungen Familienangehörige von Versorgungsaktivitäten
entlasten, wird in den betrachteten Ländern mit Hilfe von Transferzahlungen die
informelle und familiäre Care-Arbeit gestärkt.Dass sich die Nachfrage Pflegebe-
dürftiger in den betrachteten Ländern zunehmend auf graue Märkte konzentriert,
ist durch den Wunsch vieler Pflegebedürftiger bestimmt im eigenen Wohnumfeld
betreut zu werden, der aber zugleich teils zu teuren, teils fehlenden regulären Pfle-
geangebote des Staats oder der Wohlfahrtsverbände. Ausgehend von wohlfahrts-
und migrationstheoretischen Überlegungen werden im folgenden Abschnitt die
verschiedenen Ansätze zur Regulierung grauer Pflegearbeitsmärkte im Vergleich
gezeigt. Für den Vergleich werden mit Deutschland, Österreich und Italien drei
Länder ausgewählt, die sich in ihren pflegepolitischen Ansätzen ähneln. Alle drei
Länder vertreten eine familienorientierte Pflegepolitik und betonen die Versorgung
Pflegebedürftiger im familiären Rahmen.
Die Ergebnisse des Ländervergleichs zeigen, dass die Ursachen für die Entste-
hung von grauen Pflegemärkten in allen drei Ländern gleich sind. Gleichzeitig gibt
es in Österreich und Italien Entwicklungen, die diese migrantisch geprägten
Betreuungsarrangements auf eine legale Rechtsgrundlage stellen. Die Art und Wei-
se, wie sich Migrantinnen in den Vergleichsländern auf den nationalen Arbeits-
märkten positionieren können - legal oder illegal - ist letztlich auch das Ergebnis
der nationalen Migrationspolitik und der Umsetzung gemeinsamen europäischen
Rechts. Beides soll als Grenzziehungspolitik verstanden werden (Tabelle 2).
4.1 Deutschland
Die Nachfrage nach Pflegedienstleistungen, die über den grauen oder schwarzen
Markt angeboten werden, hat in den letzten Jahren insbesondere im Bereich der
24-Stunden-Pflege in privaten Haushalten stark zugenommen. Während der Eigen-
anteil, der zusätzlich zu den Leistungen der Pflegeversicherung für eine 24-
Stunden-Pflege bei regulären Pflegediensten aufgewendet werden müsste, bis zu
2.500 Euro und mehr beträgt, bieten Migrantinnen diese Leistungen zwischen 650
und 1.500 Euro an. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 50.000 und
Der graue Markt für Altenpflege
9
70.000 dieser Pflegehilfen, insbesondere aus Polen und der Tschechischen Repu-
blik auf der Basis dieses Arrangements tätig sind (Kondratowitz 2005: 420).
In Deutschland gibt es bislang keine legale Möglichkeit Migrantinnen in der Pflege
in Privathaushalten zu beschäftigen. Pflege soll, dem Willen des deutschen Gesetz-
gebers zufolge familiären und informellen Nachbarschaftsnetzwerken oder regulär
in Deutschland ansässigen Pflegedienstleistern vorbehalten sein. Die Anstellung
einer Haushaltshilfe ist nur über die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV) der
Bundesagentur für Arbeit zulässig (BA 2007). Diese Möglichkeit wird jedoch we-
gen stark regulierter Arbeitszeitregelungen und hohem bürokratischen Aufwand
kaum nachgefragt, was auch die Vermittlungszahlen für das Jahr 2006 belegen,
nach denen ca. 2.800 Haushaltshilfen aus Osteuropa nach Deutschland vermittelt
wurden (BT-Drucks. 16/2278).
Eigentlich sollte mit der Öffnung der europäischen Grenzen auch der Wett-
bewerb unter den Pflegeanbietern und die Wahlfreiheit der Konsumenten im
Dienstleistungssektor gefördert werden. Aber aus Angst vor der "Billigkonkurrenz"
aus dem Osten hemmt der deutsche Gesetzgeber den Zugang osteuropäischer
Arbeitnehmer zum deutschen Arbeitsmarkt. Mittels Übergangsregelungen wird die
Dienstleistungsfreiheit osteuropäischer Pflegeanbieter noch bis 2011 (Polen,
Tschechien, Slowakei, etc.) bzw. 2014 (Rumänien und Bulgarien) enorm ein-
schränkt. Da auch die Angebote osteuropäischer Vermittlungsagenturen unter
diese Richtlinie fallen, stuft der deutsche Gesetzgeber diese als illegal ein.
4.2 Österreich
Eine ganz andere Entwicklung ist dagegen in Österreich zu beobachten. Auch hier
ist der Markt mit geschätzten 60.000 ausländischen Pflegekräften im Vergleich
relativ groß (Österle et al. 2006). Und auch dort wurden Migrantinnen anfänglich
durch ähnliche Übergangsregelungen wie in Deutschland vom offiziellen Arbeit-
markt ausgeschlossen und somit gezwungen illegal ihre Pflegedienstleistungen
anzubieten. Seit dem Jahr 2006 vollzieht sich ein grundlegender Wandel in der
Pflegepolitik, in dem sie die Unterversorgung an finanzierbaren Pflegedienstleis-
tungen und sinkende familiäre Pflegepotenziale anerkennt und Migrantinnen als
Erbringer von Pflegedienstleistungen in das Pflegesystem integriert.
Die Substitution oder Ergänzung familiärer Pflegearbeit durch Migrantinnen
wird hier aktiv unterstützt und legale Formen der Beschäftigung von Migrantinnen
in Privathaushalten mit dem Ausländerbeschäftigungsgesetz geschaffen. Das so
genannte Amnestiegesetz (2006) schützte zunächst Pflegekräfte und Auftraggeber
vor der Strafverfolgung und das Hausbetreuungsgesetz (2007) legte schließlich die
arbeits- und gewerberechtliche Grundlage für die legale Beschäftigung von Migran-
tinnen in Privathaushalten.
Ursula Dallinger, Antje Eichler
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4.3 Italien
Auch in Italien erschweren soziale und demografische Wandlungsprozesse die
Realisierung der familiären Versorgung. Im Unterschied zu Deutschland und Ös-
terreich wurden hier keine nennenswerten Versuche unternommen den regulären
Markt für Care-Tätigkeiten als Ergänzung zum familiären Pflegepotenzial auszu-
bauen. Die Pflegeinfrastruktur ist unzureichend und weist starke regionale Diffe-
renzen zwischen Norditalien mit einer vergleichsweise stark ausgebauten und Süd-
italien mit einer schwach ausgebauten Pflegeinfrastruktur auf. Stattdessen stehen
überwiegend Transferleistungen zur Verfügung, die die Pflege im familiären Rah-
men unterstützen sollen. Fehlende Infrastruktur führte in Italien zur zunehmenden
Hinwendung der Betroffenen zu privaten Pflegerinnen. Neben den nur stunden-
weise, überwiegend durch Nachbarinnen erbrachten Dienstleistungen, handelt es
sich beim Großteil der privaten Kräfte um Migrantinnen, die als sogenannte “live-
in” in der Familie der pflegebedürftigen Person wohnen. Dass dieses Betreuungsar-
rangement boomt, zeigen Ergebnisse einer regionalen Studie in Modena, nach
denen dort bereits 27,3 Prozent der Haushalte mit Pflegebedürftigen Migrantinnen
beschäftigen6 (Bettio et al. 2004).
Anders als Deutschland und Österreich hatte Italien kein weitergehendes Inte-
resse, den Zugang ausländischer Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt mittels Über-
gangsregelungen zu begrenzen. Denn schon immer gehörte Italien zu den europäi-
schen Ländern, in denen die Migration besonders hoch ist und das traditionell über
eine starke Schattenwirtschaft verfügt. Staatlich reguliert wird der graue Pflege-
markt mit Hilfe des Legge-Bossi-Fini (2006) (van Hooren 2008). Es bezieht sich im
Wesentlichen auf die nachträgliche Legalisierung illegaler Einwanderer und ist mit
dem politischen Ziel verbunden den Arbeitsmarkt mit billigen Arbeitskräften zu
sättigen. Gesetzliche Regelungen legalisieren hier zwar den Aufenthaltsstatus der
Migrantinnen, Regulierungen bezüglich der Arbeitszeiten und der Entlohnung
sowie des Zugangs zu sozialen Rechten sind aber nicht vorgesehen. Dies spricht
dafür, dass der italienische Staat sich auch weiterhin weitgehend aus der Versor-
gung pflegebedürftiger Personen heraus hält und diese Aufgabe bei den Familien
verbleibt. Regulative Eingriffe z.B. bezüglich der Arbeitszeiten würden letztlich die
Nachfrage nach billigen Pflegedienstleistungen wieder auf den grauen Pflegemarkt
lenken.
Insgesamt können trotz ähnlicher sozialpolitischer Problemstellungen drei ver-
schiedene Wege im Umgang mit grauen Pflegemärkten beobachtet werden. Der
deutsche Weg ist durch eine restriktive Politik im Umgang mit transnationalen
Pflegearrangements gekennzeichnet, die in einer vorübergehenden Schließung des
6 Vergleichbare Zahlen gibt es für Deutschland und Österreich bislang noch nicht.
Der graue Markt für Altenpflege
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nationalen Arbeitsmarktes für ausländische Pflegeanbieter mündet. Er drängt am
stärksten auf formelle Arbeitsverhältnisse. Dass Privathaushalte sich transnational
mit grauer und notfalls auch schwarzer Pflege versorgen, wird als Billigpflege und
unliebsame Konkurrenz stigmatisiert.
Der österreichische Weg ist dagegen durch eine Neuausrichtung der Verteilung
von Pflegearbeit auf formelle und informelle Pflege durch die Familie gekenn-
zeichnet. Durch die gesetzliche Verankerung von migrantischen Betreuungsarran-
gements vollzieht sich ein Wandel von einem zunächst stark familialistisch gepräg-
ten Pflegearrangement hin zu einem gemischten Arrangement, das die Ergänzung
oder Substitution familiärer Sorgearbeit zulässt. Damit werden nicht nur Verände-
rungen in der Lebenswelt von Familien anerkannt, sondern deren Möglichkeiten
der Wohlfahrtsproduktion neu verortet. Italiens Weg ist im Wesentlichen durch
eine pragmatisch orientierte Grenzziehungspolitik gekennzeichnet: Migranten
finden zunächst in der Schattenwirtschaft Arbeit, der Staat reagiert darauf mit der
Legalisierung des Aufenthaltstatus der Migrantinnen.
Nationale Regelungen /Praktiken gegenüber
Öffnung der Märkte durch EU (Arbeitneh-
mer- und Dienstleistungsfreizügigkeit)
Allgemeine Kennzeichen
Italien
Regularisierung illegaler Migranten,
Quotenregelung
Arbeitserlaubnis erforderlich
Laissez faire, Tolerierung,
aposteriore Legalisierung
Österreich
Eingeschränkt bis 2009 für OME-
Mitgliedsstaaten
Arbeitserlaubnis erforderlich
Sektorale Öffnung für die Pflegebranche
Ausländerbeschäftigungsgesetz
Legalisierung und Integ-
ration ins eigene Pflege-
system
Deutschland
Eingeschränkt bis 2011 für OME-
Mitgliedsstaaten
Arbeitserlaubnis erforderlich
Abschottung, partielle
Öffnung, Widerstand der
Interessenverbände.
Tabelle 2: Grenzziehungspolitik
Ursula Dallinger, Antje Eichler
12
5. Fazit
In grauen Pflegemärkten überschneiden sich drei voneinander unabhängige Pro-
zesse: Zunehmend temporäre, weibliche und auf den Haushalt als Beschäftigungs-
ort zielende Arbeitsmigration, die Europäisierung, in deren Zuge sich grenzüber-
schreitende Dienstleistungen und Migration entwickeln sowie das Knappwerden
unbezahlter familialer Sorgearbeit in den Zielländern der Migration. Diese Prozes-
se werden von den verschiedenen Dienstleistungsregimen überformt, die mit dem
sog. Dienstleistungstrilemma unterschiedlich umgehen. Das Fazit greift die Per-
spektive dieses Begriffs (Iversen/Wren 1998) nochmals zur Verdeutlichung des
sozial- und arbeitsmarktpolitischen Kontextes grauer Altenpflege auf. Danach
haben Dienstleistungsregime jeweils spezifische Zielkonflikte zwischen drei sozial-
politischen Zielen: Dem Beschäftigungszuwachs im Dienstleistungssektor, einer
gewissen Gleichheit der Einkommen und der Begrenzung der Sozialausgaben
(siehe Abb. 1). Zwei Ziele lassen sich jeweils kombinieren, aber auf Kosten des
dritten. Das heißt für konservative und mediterrane Regime, in denen graue Al-
tenpflege in nennenswertem Umfang existiert:
Das Ziel geringer Lohndisparitäten und ausreichend entlohnter Arbeitsplätze
macht Pflege zu teuer für die meisten Privathaushalte. Private Nachfrage entsteht
wenig. Auch wurde formelle Pflegearbeit relativ wenig ausgeweitet, wenngleich die
sozialpolitisch initiierte Nachfragestützung ein Mehr an privaten Pflege-
dienstleistern nach sich zog.. Dennoch zielen die pflegepolitischen Reformen stär-
ker auf Kostenbegrenzung, die Stützung der Rolle der Familie und die qualifizierte
Pflegearbeitsplätze bei den meist intermediären Dienstleistungsanbietern. Konser-
vative Regime begrenzen so öffentliche Ausgaben und Einkommensungleichheit,
aber sind weniger leistungsfähig bezüglich des Angebots an Arbeitsplätzen im
Dienstleistungssektor und leicht zugänglicher Altenpflege. Diesen Mangel muten
sie Familien bzw. Frauen zu.
Die Beschäftigung von Migrantinnen entschärft das Trilemma, indem sie kurz-
fristig einheimische Niedriglöhne in der Pflege vermeidet und ohne weitere Anhe-
bung der Sozialausgaben für Altenpflege ein finanzierbares Angebot entsteht.
Langfristig kann ‚graue Pflege’ denoch zu mehr Einkommensungleichheit im
Altenpflegesektor führen, da die am geringeren Lohnniveau der Herkunftsländer
ausgerichtete Bezahlung internationale Konkurrenz in die vor Auslagerung zu-
nächst geschützten personenbezogenen Pflegedienstleistungen hineinträgt. Wenn
man auch gering qualifizierte Haushalts- und Pflegearbeit sozial absichern will, hat
das Konsequenzen an anderer Stelle, nämlich höhere Pflegeausgaben, deren Finan-
zierung auf die Akzeptanz der Beitragsentrichter oder Steuerzahler treffen muß.
Jede Option erzeugt Nachteile an einer Spitze des Dreiecks. Welcher Nachteil sich
durchsetzt, ist letztlich das Ergebnis von Interessenkonflikten zwischen Finanzie-
Der graue Markt für Altenpflege
13
rern und Benefiziaren und ebenso von ‚equity-choices’ (Österle 2001), also der
Akzeptabilität verschiedener Optionen vor dem Hintergrund von Gerechtigkeits-
und Angemessenheitsideen.
-
Geringes
Beschäftigungswachstum;
Ausweichen auf den
Grauen Pflegemarkt
+
Begrenzung der Sozial-
ausgaben für Pflege-
dienstleistungen
+
Lohndisparität im Dienst-
leistungssektor; Qualifi-
zierte Pflege
Abbildung 1: Das Dienstleistungstrilemma konservativer Regime
Graue Altenpflege erlaubt es beruflich qualifizierten Frauen, sich der für konserva-
tiv-korporatistische Regime typischen Erwartung des ‚self-servicing’ durch die Frau
zu entziehen. Dies schafft jedoch neue Gender-Ambivalenzen: Frauen, die in der
postindustriellen Service-Ökonomie gute Beschäftigungschancen finden, delegieren
die Pflegelücke, die ihre posttraditionalen Lebensentwürfe hinterlassen, an gering
entlohnte Migrantinnen. Die neue Genderordnung erfordert Care-Arbeit von Or-
ten, wo sie keinen Schattenpreis hat. Zudem löst dies einen ‚care drain’ aus, wo-
durch formelle und informelle Pflege- und Versorgungspotentiale in den Her-
kunftsländern fehlen.
Ursula Dallinger, Antje Eichler
14
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Der graue Markt für Altenpflege
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... Not only economic factors, but also new role perceptions or mobility requirements can limit the resources of family caregivers (Dallinger & Eichler, 2010;Steiner et al., 2019). More complicated or intensive care leads to an increasing need to organise additional help or to find an alternative solution. ...
Article
There are different models of care for elderly people in Germany. Policy strategies provide support, but this is weak for some models, such as live-in care. The latter is an option to stay at home with the help of live-in care. There is no public support for this model, so individuals have to organise it themselves or refer to offers from live-in care agencies that provide carers. Their promises can contribute to the social representation of this model of care. This, in turn, can generate expectations of live-in care. This paper aims to analyse which promises might contribute to the social representation of live-in care and what it might mean for clients to share them. For this purpose, text messages on the websites of 50 agencies are analysed. Agencies empathetically describe the challenges of becoming a care recipient and present live-in care as the best solution. The analysis reveals recurring narratives relating to arrangements, carers and agencies that stabilise different social representations. Keywords: Care in Germany, live-in care, narratives, social representations
Article
Full-text available
In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist in der letzten Dekade ein transnationaler Markt entstanden, auf dem eine wachsende Zahl von Unternehmen mittel- und osteuropäische Carearbeiter_innen für die Rund-um-die-Uhr-Betreuung betagter Menschen rekrutiert. Das aktuelle Modell der sogenannten 24 h-Betreuung ist allerdings umstritten. Agenturen sehen sich mit dem Vorwurf unlauterer und ausbeuterischer Geschäftspraktiken konfrontiert, die gesetzliche (Nicht‑)Regulierung ist Gegenstand medialer und politischer Debatten. Basierend auf Regime- und Webseitenanalysen untersucht dieser Beitrag in ländervergleichender und -übergreifender Perspektive, wie Vermittlungsagenturen auf ihren Webseiten das eigene Angebot legitimatorisch absichern. Dazu analysieren wir die Legalitätsnarrative und setzen sie mit den länderspezifischen Regulativen in Beziehung. Wir zeigen auf, wie die Bezugnahme auf Legalität prekäre Arbeitsbedingungen und ungleiche Machtverhältnisse entnennt und Prekarität als Problem einzelner unseriöser Agenturen (de‑)thematisiert.
Chapter
Wie stellt sich die Situation der informellen familialen Pflege in der Region dar und welche Entwicklungen sind hinsichtlich des familialen Pflegepotentials zu beobachten? Diesen Fragen geht der vorliegende Beitrag nach. Als Datenbasis dienen sechs gesundheits- und pflegebezogenen Regionalstudien, die im Zeitraum von 2000 bis heute an der Professur für Empirische Sozialforschung an der Universität Trier durchgeführt wurden. Es zeigt sich, dass häusliche Pflege in der Region, wie auch in ganz Deutschland, nach wie vor hauptsächlich Familiensache ist. Die überwiegende Mehrheit der Befragten mit pflegebedürftigen Angehörigen versorgt diese in den eigenen vier Wänden. Das entspricht auch dem Wunsch der meisten, im Alter und bei möglicher Pflegebedürftigkeit, zu Hause wohnen zu bleiben und von Familienangehörigen gepflegt zu werden. Professionelle Leistungen der Pflegeversicherung ergänzen die häusliche Versorgung dabei und dienen der Unterstützung familialer Pflegearrangements. Allerdings ist die informelle pflegerische Versorgung in Zukunft keineswegs sichergestellt. In der Region ist das Angebot informelle Pflege für Angehörige, Nachbarn oder Bekannte zu leisten, deutlich geringer ist als der zukünftige Bedarf.
Article
Angesichts des demografischen Wandels und der Veränderung des Krankheitsspektrums steht die Gesellschaft vor der Herausforderung, die pflegerische Versorgung auszubauen. Obwohl der „Arbeitsmarkt Pflege“ seit einigen Jahren am Wachsen ist, wird sich bei Weiterbestehen der aktuellen Beschäftigungs- und Versorgungsstrukturen ein Fachkräftemangel großen Ausmaßes verfestigen. Ziel des Beitrags ist es, die zurückliegende Entwicklung der Beschäftigungssituation in der Pflege aufzuzeigen sowie eine Analyse und Einschätzung der vorliegenden Prognosestudien zur künftigen Ausformung des Fachkräftemangels vorzunehmen. Abschließend werden Maßnahmen diskutiert, um dem Personalmangel in der Pflege entgegenzuwirken. Dringend erforderlich ist es, die vor etwa zwei Jahrzehnten begonnene, aber immer noch rudimentäre Professionalisierung der Pflege zu forcieren. Auch ist es notwendig, den Ausbau der Forschung voranzutreiben, um nicht zuletzt die bisher unbefriedigende Erkenntnislage zum Fachkräftemangel in der Pflege zu verbessern.
Article
Zusammenfassung Wohlfahrtsmärkte sind mittlerweile ein weit verbreitetes, aber in der politischen Soziologie noch unterbelichtetes Phänomen. Dieser Beitrag beschäftigt sich aus theoretischer Perspektive mit der Frage, was sich im Hinblick auf die Geltung bestimmter wohlfahrtsstaatlicher Prinzipien ändert, wenn in einem weiterhin öffentlich regulierten System sozialer Daseinsvorsorge auf stärker marktförmige Koordinations- bzw. Implementationsmechanismen umgestellt wird. Dabei wird anhand dreier Beispiele und im Rekurs auf neuere wirtschaftssoziologische Arbeiten argumentiert, dass die Geltung dieser Prinzipien einerseits weniger unmittelbar unter Druck gerät als dies bestimmte wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Theorieansätze - weil sie den Möglichkeitsraum einer normativen Einbettung von Wohlfahrtsmärkten unzulänglich bestimmen - nahe legen. Andererseits aber lässt sich erkennen, dass diese Einbettung unter Bedingungen systematischer Kontingenz erfolgt und insofern die Geltung der Prinzipien eingrenzt, was mittelbar fatale Folgen haben könnte.
Article
As the number of older people in need of long-term care increases, efforts to support older people remaining in their home are intensified in most OECD countries. In this context, there is a movement towards allowing more individual choice for older people receiving publicly funded long-term care at home. Having more flexibility in terms of how to receive care can increase the older person's self-determination and that of his/her informal caregivers. Having a choice among alternative care providers can empower older people as consumers and may help strengthen the role of households in the care-management process. The main aims of this article are (i) to categorise and analyse different types of arrangements allowing home care users more choice and map the prevalence of such arrangements in OECD countries, (ii) to give an overview of some country-specific outcomes in terms of care quality for care recipients, and (iii) to discuss some implications for employment and fiscal sustainability.
Article
Traditional welfare institutions are challenged by the desire to design our own individual welfare packages. Politically, the response can be to introduce choice in social policy, also from the aim that the pacified welfare client should re-materialise as an active welfare consumer. This paper analyses the development of the form and concept of consumerism in social policy, taking the domiciliary care for the elderly in Denmark as an example. It seems that consumerism has become part of the logic of governance, and new forms of responsibility have been created which not only empower but also condition the individual citizen. The consumerist approach implies a new social construction of social policy; a second-generation do-it-yourself social policy in which the imperative is to secure the right to choose, more than equality of opportunity to choose or equality of outcome.