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Michel Foucault. Überwachen und Strafen

Authors:
Erschienen in: Manfred Brocker, (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens,
Frankfurt/M 2007, 682-696)
Urs Marti
Michel Foucault, Surveiller et punir. La naissance de la prison. 1975.
Dt.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1976.
Dem Werk von Michel Foucault verdanken das politische Denken wie die historische
und sozialwissenschaftliche Forschung wichtige Impulse. Begriffe wie Biopolitik und
Gouvernementalität haben sich längst eingebürgert, und in Debatten um ein
postmodernes Politikverständnis darf der Verweis auf Foucault nicht fehlen.
Postmoderne Politikkonzeptionen sind indes analytisch wenig hilfreich, und ihr Bezug
zu Foucaults Werk bleibt häufig unklar. Sein wichtigster Beitrag zur politischen
Theorie, „Surveiller et punir“, scheint im Vergleich zu späteren Texten auf moderates
Interesse zu stoßen. Merkmal des darin verwendeten Politikbegriffs ist der Bezug auf
den menschlichen Körper; dieser befindet sich unmittelbar in einem politischen Feld
(Foucault 1976: 37). Wie ist das zu verstehen? Wenn Foucault 1971 die Politik zur
entscheidenden Frage der menschlichen Existenz erklärt, versteht er darunter die
Gesellschaft, die Wirtschaft und das System von Erlaubnis und Verbot, das unser
Verhalten regelt. Die im herkömmlichen Wortsinn politische Ordnung ist nicht sein
Thema, vielmehr sieht er seine Aufgabe darin, das oft verborgene Wirken einer die
Gesellschaft kontrollierenden und unterdrückenden politischen Macht ans Licht zu
bringen. „Politische Macht“ wäre dann zwar in seinem Sinne eine Tautologie, deren
Zweck aber offenbar darin besteht, die Aufmerksamkeit auf die für die traditionelle
politische Betrachtungsweise unsichtbaren Wurzeln der Macht zu lenken. Neben
Staat und Verwaltung perpetuieren auch Institutionen des Wissens, der Fürsorge und
der Pflege die ungleiche Verteilung der Macht. Die Entlarvung der Funktion
scheinbar unpolitischer Institutionen wird daher zur politischen Aufgabe (Foucault
1994, Nr. 132: 493-496).
In diesem Sinne ist „Surveiller et punir“ ein politisches Buch. Wie in früheren Werken
zielt die darin unternommene Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der
Humanwissenschaften auf die Infragestellung ihres wissenschaftlichen Anspruchs.
Die 1961 veröffentlichte Geschichte des Wahnsinns im klassischen Zeitalter
thematisiert den Abbruch des Dialogs zwischen Vernunft und Wahnsinn sowie die im
17. und 18. Jahrhundert praktizierte Internierung von Menschen, deren Verhalten von
der Gesellschaft als normwidrig definiert wird. Die Reformpsychiatrie des
ausgehenden 18. Jahrhunderts beendet zwar die Brutalität der Einsperrung, fördert
jedoch im Urteil des Autors subtilere Formen der Entmündigung. Als Archäologie der
Humanwissenschaften wird das 1966 erschienene Werk „Les mots et les
choses“ vorgestellt; es analysiert die „episteme“, die Bedingungen der Möglichkeit
wissenschaftlicher Erkenntnis, und kommt zum Schluß, die Humanwissenschaften
verfügten weder über angemessene Rationalitätsmodelle noch über klar definierte
Gegenstandsbereiche. „Surveiller et punir“ fragt dagegen nach der Wirkungsweise
der Macht. Zwischen 1966 und 1975 liegen in Frankreich und anderen Ländern
Jahre eines Aufstands, der nicht nur die politische Ordnung, sondern auch die
Institutionen von Bildung und Wissenschaft erschüttert. Foucault hat sein Buch als
Aufstand gegen ein die Macht stützendes Wissen verstanden.
Daß das Gefängnis eine politische Institution ist, hat Foucault „weniger von der
Geschichte als von der Gegenwart gelernt“, und es ist seine erklärte Absicht, die
Geschichte der Gegenwart zu schreiben (Foucault 1976: 42f). Zu dieser Gegenwart
gehören Gefängnisrevolten, die in den frühen 70er Jahren in Frankreich und
anderswo ausbrechen. 1970 werden in Frankreich zahlreiche linke Aktivisten
inhaftiert; sie treten mit der Forderung, den Status von politischen Gefangenen zu
erlangen, in einen Hungerstreik. Im Februar 1971 gibt Foucault die Gründung des
„Groupe information sur les prisons“ bekannt (Foucault 1994, Nr. 86-88: 174-182;
Perrot 1995). Dessen Tätigkeit zielt darauf, die Isolation der Häftlinge zu
durchbrechen, Informationen bei allen durch das Gefängnissystem direkt Betroffenen
zu sammeln und öffentlich zu bekunden, daß dieses System aufgrund der faktischen
Rechtlosigkeit und schikanösen Behandlung der Insassen nicht toleriert werden darf.
Die Untersuchung wird als politischer Akt begriffen (Foucault 1994, Nr. 91: 195).
Unzulässig ist für Foucault zwar auch eine die ökonomisch Benachteiligten
diskriminierende Klassenjustiz, prinzipiell gilt sein Interesse jedoch der Art und Weise,
wie eine Gesellschaft Gut und Böse, Erlaubtes und Verbotenes definiert (ebd. Nr. 95:
206), und speziell gilt es dem Gefängnis als dem Ort, wo sich die Macht in ihrem
reinsten Zustand als ungehemmte Tyrannei zeigt und gleichzeitig als moralische
Autorität rechtfertigt (ebd. Nr. 106: 310).
Im akademischen Jahr 1971-1972 beschäftigt sich Foucault mit der Geschichte der
Strafinstitutionen in der französischen Gesellschaft sowie generell mit der Geburt von
Wissensarten aus rechtlich-politischen Matrizes. Gemäß der Arbeitshypothese kann
Wissen nur entstehen in einem System von Kommunikation, Registrierung und
Akkumulation, also dank Machtformen, während Macht nur ausgeübt werden kann
mittels Aneignung, Verteilung und Einbehaltung von Wissen (vgl. Nr. 115, 389f). Die
Vorlesung von 1972-1973 widmet sich der Strafgesellschaft. Foucault unterscheidet
vier Straftaktiken, die Verbannung, die finanzielle Kompensation, die den Körper
zeichnende Tortur sowie die Einsperrung. Gezeigt werden soll, wie die zwischen
1780-1820 erfolgten Reformen dem vierten Typus zum Durchbruch verholfen haben,
was insofern erstaunlich ist, als Reformer wie Beccaria, Le Peletier de Saint-Fargeau
und Brissot das Gefängnis keineswegs als universelle Bestrafungsform propagieren
(vgl. Nr. 131: 456-470). In der 1973 gehaltenen Vorlesungsreihe über die Wahrheit
und die juridischen Formen wird diese Entwicklung als Folge des Anbruchs eines
Zeitalters der sozialen Kontrolle, der permanenten Überwachung und Examinierung
der Individuen gedeutet (vgl. Nr. 139: 593 ff).
Der Untertitel des Buches, „Naissance de la prison“, ist somit irreführend; die
Institution ist selbstverständlich älteren Datums. Das Buch beginnt mit der
Gegenüberstellung von zwei Bestrafungsarten. 1757 wird Robert-François Damien
wegen eines mißlungenen Anschlags auf das Leben Ludwigs XV. zum Tode
verurteilt. Die Vollstreckung des Urteils wird öffentlich inszeniert, der Leib des
Verurteilten in einer langen Prozedur von äußerster Grausamkeit zu Tode gequält.
Eine ganz andere Art der Bestrafung empfiehlt ein Reglement für eine
Jugendhaftanstalt aus dem Jahre 1838, das den Tagesablauf der Häftlinge detailliert
regelt. Die Gegenüberstellung macht deutlich, wie sich im Zuge der Umwälzungen
des ausgehenden 18. Jahrhunderts der Umgang mit Menschen, die in irgendeiner
Weise von der Norm abweichen, verändert hat. Zur Reform der Strafjustiz gehört die
Verbannung der Vollzugspraxis an einen Ort, wo sie den Blicken der Öffentlichkeit
entzogen ist; der Freiheitsentzug ersetzt die peinlichen Strafen (supplices). Von
Seiten der Reformer wird gefordert, die Strafe solle nicht mehr den Körper, sondern
die Seele treffen. Der richterliche Auftrag wird neu definiert; geurteilt wird nicht mehr
nur über die Gesetzesübertretung, sondern zusätzlich über die der Tat
zugrundeliegende Motivation, über die psychische und moralische Verfassung des
Täters. Nach der Urteilsverkündung kann die Strafe nach Maßgabe solcher Kriterien
modifiziert werden. Weil das Urteil vertiefte Kenntnisse über die Seele des Straftäters
erfordert, ist die Mitarbeit von Strafvollzugsbeamten, Erziehern und Psychiatern nötig.
Die Herausbildung eines wissenschaftlich-juristischen Komplexes bewirkt, daß die
Richter über etwas anderes richten als über Verbrechen, daß sie in ihrem
Urteilsspruch nicht ausschlielich richten, und daß die Richtgewalt teilweise an
nichtjuristische Instanzen übertragen wird.
Als Ziel seines Buches bezeichnet Foucault eine Geschichte der Korrelation der
modernen Seele und der neuen Richtgewalt. Diese „Genealogie“ beachtet vier
Regeln. Strafmechanismen sind erstens weniger auf ihre repressiven denn auf ihre
positiven Wirkungen hin zu untersuchen. Die Strafmethoden sind zweitens als
eigenständige Techniken zu analysieren, denen im Bereich der politischen Taktik
eine Funktion zukommt, und die sich weder aus dem Recht noch aus sozialen
Strukturen erschöpfend erklären lassen. Drittens ist zu prüfen, ob nicht die
Geschichte des Strafrechts und jene der Humanwissenschaften unauflöslich
zusammengehören. Viertens ist zu untersuchen, ob der Einbezug wissenschaftlichen
Wissens in die Gerichtspraxis nicht aus einer veränderten Weise der Besetzung des
Körpers durch die Machtverhältnisse resultiert.
Daß jede Gesellschaft dazu tendiert, Bestrafungsmethoden zu ersinnen, die mit ihren
Produktionsverhältnissen übereinstimmen, haben Rusche und Kirchheimer bereits in
den 30er Jahren entdeckt. Die Lektüre ihres 1939 erschienenen Buches „Punishment
and social structure“ lohnt sich auch deshalb, weil deutlich wird, wie viele Einsichten
Foucault ihm verdankt. Er übernimmt die marxistische Sichtweise freilich nur partiell,
wenn er konstatiert, in unseren Gesellschaften seien die Strafsysteme in eine
bestimmte „politische Ökonomie“ des Körpers einzuordnen; der Körper sei als
Produktionskraft von Macht- und Herrschaftsbeziehungen besetzt, doch zugleich
werde seine Konstituierung als Arbeitskraft erst mittels Unterwerfung ermöglicht.
Macht wird nicht als Eigentum der herrschenden Klasse aufgefaßt, sie beschränkt
sich ebenso wenig auf die Staatsmacht. Es handelt sich um eine die Gesellschaft
durchdringende Strategie (Foucault 1976: 36-39). Die „mikrophysische“ Perspektive
erkennt im „politischen Körper“ die Gesamtheit materieller Elemente und Techniken,
mittels derer der menschliche Körper unterworfen und zum Objekt des Wissens wird.
Er wirkt durch die Seele, verstanden als künstliche Schöpfung und wissenschaftliche
Erfindung, die es ermöglicht, den Körper zu bestrafen und zu überwachen.
Bis ins 18. Jahrhundert steht im Zentrum der Strafpraxis allerdings die Marter. Sie
soll in einer der Schwere des Verbrechens angemessenen Weise Schmerzen
erzeugen. Dem Leib des Verurteilten wird ein unauslöschliches Zeichen
eingegraben; die Vollstreckung findet öffentlich statt, damit der Triumph der
Gerechtigkeit im Gedächtnis der Menschen haften bleibt. Mit der Öffentlichkeit des
Strafakts kontrastiert die selbst dem Angeklagten gegenüber geheime Durchführung
des Gerichtsverfahrens. Die Wahrheitsfindung obliegt, stellvertretend für den
Souverän, der Justizbehörde, während sich der Beitrag des Angeklagten auf das
Geständnis reduziert, zu dessen Herbeiführung auch die Folter erlaubt ist. Die
doppelte Betroffenheit des Körpers als Zielscheibe der Züchtigung wie als Ort der
Wahrheitsfindung findet im Ritual der Bestrafung ihre Entsprechung; das Leiden des
öffentlich zur Schau gestellten und gefolterten Leibs bezeugt die Wahrheit der
Anklage. Die Urteilsvollstreckung stellt die verletzte Souveränität wieder her.
Der zweite Teil des Buches befaßt sich mit der im ausgehenden 18. Jahrhundert
einsetzenden Reformdebatte, wie sie von Beccaria initiiert und während der
Französischen Revolution in der Verfassunggebenden Versammlung geführt worden
ist. Sie kann nicht losgelöst von den sozioökonomischen Transformationen
verstanden werden. In einer Gesellschaft, in der die Aneignung von Arbeitsmitteln
und –produkten wichtiger wird als der rechtlich-politische Abgabezwang, wird der
Diebstahl zur wahrscheinlichsten Form der Gesetzwidrigkeit. Im 18. Jahrhundert
nimmt die Unduldsamkeit gegenüber Eigentumsdelikten zu, während sich über die
Gesellschaft ein dichter werdendes Kontrollnetz legt. Was den Reformern mißfällt, ist
der unökonomische Gebrauch der Macht. Ihnen schwebt eine Gewalt vor, die milder,
vor allem aber konsequenter straft. Die Strafe darf nicht mehr die Zeichen der Rache
tragen, sie soll verhindern, daß der Gesellschaft weiterer Schaden zugefügt wird. Sie
soll nicht mehr den Körper quälen, sondern das Sensorium für Recht und Unrecht
fördern. Sie darf nicht als Ausdruck willkürlicher Gewalt erscheinen, sondern muß der
„Natur“ des Vergehens angemessen sein. An die Stelle der mit maßloser Gewalt
operierenden Wiederherstellung der Souveränität soll eine als Akt öffentlicher
Belehrung inszenierte Wiederinkraftsetzung des Gesetzes treten. In den Projekten
der Reformer nimmt das Gefängnis eine untergeordnete Rolle ein, zu stark ist es als
Instrument königlicher Willkür in Verruf geraten. Es wird, so die Kritik, der Vielfalt der
Vergehen nicht gerecht, wirkt nicht auf die Öffentlichkeit, nützt der Gesellschaft
nichts und ist der Ort der Unfreiheit.
Diese Projekte sind jedoch nicht realisiert worden. An die Stelle der öffentlichen
Hinrichtung, die den Triumph des Herrschers symbolisieren soll, ist nicht das
moralische Straftheater der Reformer, sondern eine „große, geschlossene, komplexe
und hierarchisierte Architektur getreten“ (149). Die Praxis, mittels einer Kombination
von Einsperrung und Zwangsarbeit den Müßiggang zu bekämpfen und den homo
oeconomicus zu restituieren, geht auf das späte 16. Jahrhundert zurück. In den seit
dem späten 18. Jahrhundert eröffneten Gefängnissen wird die Anwendung einer
autoritären Arbeitspädagogik mit Versuchen verbunden, auf die Gesinnung der
Insassen einzuwirken. Die fortwährende Verhaltenskontrolle trägt zur frühen
Akkumulation eines Wissens von den Individuen bei, das weniger am Verbrechen als
am Charakter der Täter interessiert ist. Während es den Reformjuristen um die
Konstitution von Rechtssubjekten geht, besteht der Zweck der Besserungsanstalten
in der Konstitution von Gehorsamssubjekten, in der Anwendung von
Dressurmaßnahmen, mit denen Verhaltensgewohnheiten eingeübt werden. Dieser
Reformstrategie zufolge muß die Arbeit der Besserung den Blicken der Öffentlichkeit
entzogen werden und ist auf die Autonomie der Vollzugsinstanzen angewiesen.
Auf die Frage, warum sich die Kerkerinstitution gegenüber den zwei konkurrierenden
Machttechnologien durchgesetzt hat, gibt der dritte Teil eine Antwort. Thematisiert
werden Methoden, welche die peinlich genaue Kontrolle der Tätigkeiten des Körpers
erlauben und die dauerhafte Unterwerfung seiner Kräfte gewährleisten. „Der
historische Augenblick der Disziplinen ist der Augenblick, in dem eine Kunst des
menschlichen Körpers das Licht der Welt erblickt, die nicht nur die Vermehrung
seiner Fähigkeiten und auch nicht bloß die Vertiefung seiner Unterwerfung im Auge
hat, sondern die Schaffung eines Verhältnisses, das in einem einzigen Mechanismus
den Körper um so gefügiger macht, je nützlicher er ist, und umgekehrt. [...] Die
Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu
erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu
machen)“ (176f).
Die Disziplinierung stützt sich auf eine Vielzahl von Vorgehensweisen, mittels derer
Menschen räumlich verteilt, ihre Tätigkeiten kontrolliert, ihre Fähigkeiten trainiert und
ihre Kräfte als Ganzes organisiert werden. Zu den Disziplinartechniken gehört die
Einschließung, sei es in Klöstern, Schulen, Kasernen oder Fabriken. Wirksamer ist
die Errichtung eines Kontrollnetzes, worin jedem Individuum sein Platz zugewiesen
wird; die Isolation erhöht die Überwachungsmöglichkeiten. Die Zuweisung von
Plätzen geht in der Fabrik einher mit jener von Posten und Funktionen; der Körper
wird in den Produktionsprozeß integriert, die individuelle Arbeitskraft kann hinsichtlich
ihrer Effizienz permanent überprüft werden. Die Lokalisierung der Individuen soll
aber nicht zur Immobilisierung führen, vielmehr wird ihnen nach Maßgabe ihrer
Leistung und ihres Benehmens in einem Beziehungsnetz ein Rang zugeteilt; so wird
etwa die Lernbereitschaft einer Schulklasse mit Hilfe einer Rangordnung gefördert.
Die Kontrolle der Tätigkeiten spielt sich weniger im Raum als in der Zeit ab. Bei der
Zeitplanung geht es um eine die Kontrollmöglichkeiten steigernde Zerlegung der
Tätigkeiten sowie darum, Körper und Geste miteinander in Beziehung zu bringen.
Angestrebt wird ebenso die optimale Verknüpfung des Körpers mit dem Objekt,
dessen Handhabung die Tätigkeit erfordert. Die erschöpfende Ausnutzung von Zeit
und Körperkraft soll jeden Müßiggang verhindern. Die Organisation von
Entwicklungen stellt eine weitere Disziplinarmaßnahme dar: Sie regelt die Ausbildung,
wobei das stete Einüben erlernter Fähigkeiten eine sich fortwährend vertiefende
Unterwerfung bewirkt. Der aus nutzbaren Kräften zusammengesetzte menschliche
Körper wird als Element einer komplexen Maschine verstanden, und nur ein präzises
Kommandosystem kann deren Funktion gewährleisten. Die Herrschaft der
disziplinierenden Körperkontrolle, wie sie sich exemplarisch im Militärwesen
durchgesetzt hat, verändert die gesellschaftlichen Beziehungen in grundlegender
Weise; sie wird zur Garantin der inneren Ordnung.
Das moderne Individuum ist in dieser Lesart weder das Resultat der Emanzipation
noch die Bedingung der Warengesellschaft mit ihren abstrakten Rechtsformen,
sondern das Produkt einer Machttechnik, für die es sowohl Objekt wie auch
Instrument ist. Die Abrichtungstechnik ermöglicht die vollständige und hierarchisch
gegliederte Überwachung und ist dabei auf eine Architektur angewiesen, die keine
Schlupfwinkel kennt und die Untertanen dauernd dem Blick der Macht aussetzt.
Diese wirkt in einem Beziehungsnetz, worin alle als überwachte Überwacher ihren
Platz einnehmen. Eine weitere Aufgabe der Disziplinartechnik ist die normierende
Sanktion. Die Individuen werden bei ihren Verrichtungen fortwährend korrigiert und
darauf abgerichtet, jede Abweichung von der Regel als Fehler zu empfinden. Neben
der Strafjustiz entwickelt sich eine nicht ans Gesetz gebundene Kunst des Strafens.
Die Norm etabliert sich als neuer Typus der Macht. Überwachung und
Normalisierung werden im Verfahren der Prüfung kombiniert. Die Prüfung erhebt die
Objekte der Macht zu Subjekten, die durch ihr Verhalten den Erfolg ihrer Abrichtung
demonstrieren; zugleich stellt sie ein umfassendes Wissen über das Individuum zur
Verfügung, womit ihr eine wichtige Funktion in der Genealogie der
Humanwissenschaften zukommt. „Die Geburt der Wissenschaften vom Menschen
hat sich wohl in jenen ruhmlosen Archiven zugetragen, in denen das moderne
System der Zwänge gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen erarbeitet
worden ist“ (246).
Die vollendete Vorstellung der Disziplinarmacht gibt Benthams Modell des
Panopticon. In dessen Architektur ist die Macht unsichtbar, automatisiert und
entindividualisiert, während die Menschen, über die sie ausgeübt wird, sichtbar und
individuell erkennbar bleiben. Es handelt sich beim Panopticon zunächst um ein
architektonisches Muster: Einzelzellen sind kreisförmig um einen Beobachtungsturm
angeordnet, von dem aus der Tagesablauf jedes einzelnen Häftlings überwacht
werden kann. Bentham hat nicht ausschließlich an Gefängnisse gedacht, sondern
auch an Schulen, Spitäler, Irrenanstalten, Fabriken, Armen- und Arbeitshäuser, an
jede Art von Gebäuden, in denen Personen „are to be kept under inspection“, wie es
im Originaltitel der 1787 verfaßten Schrift heißt. Der panoptische Mechanismus läßt
sich vielseitig einsetzen, wo es um kontrollierende Machtausübung oder um die
Steigerung ökonomischer Kräfte geht; er ermöglicht, daß die Macht in die
elementarsten Bestandteile der Gesellschaft eindringen kann. Techniken, die darauf
abzielen, Abweichungen von der Norm zu sanktionieren, müssen in die zentralen
und produktiven Bereiche der Gesellschaft vordringen, sie müssen sich über die
pädagogischen und medizinischen Institutionen hinaus ausweiten, und sie müssen
schließlich auch der Staatsgewalt zur Verfügung stehen. Daß die zentralisierte
Polizeigewalt in Frankreich die Revolution überlebt hat, obwohl sie ein Produkt der
absolutistischen Monarchie ist, hängt laut Foucault damit zusammen, daß sie im
Laufe der Zeit zu einem feinmaschigen Informationsnetz wird, das den gesamten
Gesellschaftskörper überzieht und von einer weitgehenden Autonomie gegenüber
der Justizgewalt lebt. Die Polizei ist kraft ihrer Reichweite und ihrer Mechanismen
viel stärker als die Justiz untrennbar verbunden mit der Disziplinargesellschaft.
Weshalb setzt sich das Gefängnis zu Beginn des 19. Jahrhunderts als universelles
Strafmittel durch? Foucault weist darauf hin, daß es als Entzug der Freiheit, eines
Gutes also, das in der modernen Gesellschaft allen zusteht, den egalitären
Überzeugungen entgegenkommt. Ebenso entspricht es ökonomischen Kriterien und
ermöglicht eine zeitlich genau bemeßbare Wiedergutmachung. Überdies ist es
gleichsam eine Schule, die die Schlechtgeratenen im Interesse der Gemeinschaft
umformt, und dies im Gegensatz zu den übrigen Disziplinarinstitutionen mittels
totaler Verfügungsgewalt über die Betroffenen. Es unterwirft seine Insassen der
Isolation und dem Arbeitszwang. Damit es nach Maßgabe individuellen Verhaltens
Ablauf und Zeit der Strafe mittels kleiner Belohnungen und zusätzlicher Bestrafungen
korrigieren kann, pocht es gegenüber den Gerichtsinstanzen auf eine relative
Autonomie. Im Gegensatz zur Justiz beschäftigt sich der Vollzugsapparat nicht mit
dem Rechtsbrecher, sondern mit dem Delinquenten, der einen Typus von Anomalie
und sozialer Bedrohung repräsentiert.
Die Aufgabe, Verbrechen auf eine Weise zu sanktionieren, die abschreckend und
erzieherisch wirkt, hat das Gefängnis nicht erfüllt, im Gegenteil, es fördert die
Delinquenz und den Rückfall, wie kritische Beobachter bereits im frühen 19.
Jahrhundert konstatieren. Obgleich die Rehabilitationschancen des polizeilich
überwachten und sozial diskriminierten Entlassenen seit jener Zeit gering sind,
haben sich die Reformvorschläge während über hundert Jahren kaum verändert und
ist das Gefängnissystem von den politisch Verantwortlichen nie ernsthaft in Frage
gestellt worden. Ist dieser Umstand darauf zurückzuführen, daß mit dem Gefängnis
ein anderer Zweck als jener der Besserung verfolgt wird? Besteht in modernen
Gesellschaften ein Interesse am Fortbestand der Delinquenz? Tatsächlich nimmt
Foucault an, der Zweck des Gefängnisses liege letztlich nicht in der Sanktionierung
und Verhinderung von Straftaten, sondern in der Verwaltung der Gesetzwidrigkeiten;
diese sollen in eine allgemeine Taktik der Unterwerfungen integriert werden.
Zwischen 1789 und 1848 fügen sich bestimmte Gesetzwidrigkeiten der
Unterschichten ein in einen politischen Aufstand, der auf den Umsturz der
Machtverhältnisse zielt und mit dem Gesetz zugleich die gesetzgebende Klasse
angreift. Die Delinquenz ist die strategische Antwort auf die Bedrohungen, eine
kontrollier- und manipulierbare, für die Aufrechterhaltung der politischen und
ökonomischen Ordnung nützliche Form von Gesetzwidrigkeit, die als Waffe zur
Überwachung und Spaltung der revoltierenden Klassen dient; Foucault spricht von
einem Komplex von Polizei, Gefängnis und Delinquenz (363). Es handelt sich bei der
Delinquenz um illegale und zugleich profitable Tätigkeiten, ausgeführt von
ehemaligen Strafgefangenen, die unter ständiger Überwachung durch die Polizei
stehen. Die organisierte Prostitution, der Waffen-, Alkolhol- und Drogenhandel bieten
Möglichkeiten, auf illegale Weise hohe Profite zu erwirtschaften. Im Falle der
Denunziation, der Anwerbung von Spitzeln und Streikbrechern oder des Aufbaus
extralegaler Polizeikräfte ist die politische Funktion offensichtlich. Marx hat
beschrieben, wie Napoleon III. mittels solcher Praktiken seine Macht gefestigt hat
(vgl. Marx 1982, 160 ff).
Worum handelt es sich bei der neuen Form von Macht, die im Zeitalter der
Demokratisierung die Gesellschaft kolonisiert? Zwei Elemente sind zu unterscheiden,
die Disziplinierung des Verhaltens, die „Dressur“ von Menschen, sowie die
Einsperrung, die Isolation. Die Kombination von Einsperrung und Disziplinierung, wie
sie in der 1840 eröffneten Jugendstrafanstalt von Mettray zu beobachten ist, macht
das Gefängnis des 19. Jahrhunderts zu jener Institution, in der die neue Form der
Machtausübung am reinsten in Erscheinung tritt. Es steht für die Gesamtheit von
Institutionen und Prozeduren, die die Grenzen zwischen Strafrecht und der
Sanktionierung bestimmter Formen anormalen Verhaltens verwischen, die das
System der Einsperrung vereinheitlichen und die ganze Gesellschaft einer stets
zugleich bestrafenden und disziplinierenden Macht unterwerfen. Foucault spricht von
„l’archipel carcéral, vom „grand continuum carcéral“, vom „filet carcéral“, von der
„trame carcéral“ (Foucault 1975, 304f), wozu neben Gefängnissen Heime und Asyle,
Fabriken, selbst Sittlichkeitsvereine und Arbeiterwohnheime gehören. Das Gefängnis
ist das Fundament der Normalisierungsmacht und könnte sich in dem Maß, wie sich
diese verfestigt, selbst überflüssig machen, zugleich produziert und instrumentalisiert
es eine Delinquenz, die zur Verfestigung der Machtverhältnisse beiträgt. Es spielt
also sowohl für die Strategien, die darauf zielen, die unteren Klassen gefügig zu
machen, wie für jene, die sie als Opposition schwächen und unterwandern, eine
vorrangige Rolle.
Unter Historikern ist das Buch auf großes Echo gestoßen, hat aber auch kritische
Einwände ausgelöst. Bedenken werden zur Hauptsache gegen Foucaults
mechanistische Erklärungsmodelle vorgebracht, bei denen nicht klar wird, wer mit
welcher Absicht agiert. Foucault antwortet auf die Einwände mit der Präzisierung,
Thema seiner Untersuchung sei keine Geschichte der Gesellschaft, der Delinquenz
oder des Gefängnisses, vielmehr interessierten ihn die wohlüberlegten Absichten, die
der Strafrechtsreform und der Wiederentdeckung der alten Einsperrungspraktiken
zugrundeliegen. Daß die Macht automatisch funktioniere, sei nicht die These seines
Buches gewesen. Vielmehr habe im 18. Jahrhundert der Wille bestanden, solche von
Bentham und anderen Reformern ausgedachten Modelle zu realisieren (vgl. Foucault
1994, Nr. 277, 14-19). Angesichts Foucaults zahlreicher Äußerungen zu neuen
Formen der Macht vermag diese Lesehilfe allerdings nicht zu überzeugen. Zwar trifft
zu, daß er in „Surveiller et punir“ Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts ausführlich
zu Worte kommen läßt und aus ihren Vorschlägen Ordnungsmodelle rekonstruiert:
Wenn er jedoch beschreibt, wie der „Kerker-Archipel“ den gesamten
Gesellschaftskörper erfaßt, denkt er offensichtlich an Machtmechanismen, auf denen
die moderne politische und sozioökonomische Ordnung effektiv beruht.
Inwiefern stellt nun Foucaults Machtanalyse einen Beitrag zum politischen Denken
dar? Foucault ist mit dem Anspruch angetreten, das Verständnis von Macht zu
revolutionieren, doch ist nicht zu übersehen, daß auch Disziplinarmacht letztlich die
Chance ist, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen dem Verhalten
anderer aufzuzwingen (vgl. Weber 1980, 28, 542) oder generell Verhalten zu
kontrollieren. Foucault weigert sich jedoch, auf eindeutige Weise Akteure zu
identifizieren, die Macht ausüben oder erleiden, die einen asymmetrischen Zustand
verschulden oder verändern könnten. Kann Machtausübung nicht auf absichtsvolles
Handeln identifizierbarer Akteure zurückgeführt werden, so steht eine normative
politische Theorie, die die Sanktionierung solchen Handelns verlangt, vor
Schwierigkeiten. Seit gut hundert Jahren ist die Einsicht gewachsen, daß der Prozeß
der Zivilisation mit wachsender Fremd- und Selbstkontrolle, bürokratischer
Rationalisierung und Sozialdisziplinierung einhergeht. Doch welche Konsequenzen
hat diese Einsicht für das politische Denken, welche Formen des Widerstands sind
möglich und legitim? In Foucaults Werk ist eine eindeutige Antwort auf die Frage
nicht zu finden. „Normative Konfusionen“ (Fraser 1989: 17) haben dazu geführt, daß
er als Vertreter einer konservativen Modernitätskritik bezeichnet worden ist. Obgleich
zahlreiche Äußerungen in diese Richtung zu weisen scheinen, ist nicht zu übersehen,
daß Foucault betont, das Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft habe die Eigenart
der Disziplinargewalt hervorgerufen. Die Analyse des Strafsystems konfrontiert –
ähnlich wie Marx’ Analyse der Produktionssphäre eine den Werten der Freiheit
verpflichtete Gesellschaft mit ihrem Unterbau totaler Unfreiheit. Wie die Lektüre der
Vorarbeiten zu „Surveiller et punir“ zeigt, geht Foucault davon aus, daß die
Herausbildung der Disziplinarmacht nur vor dem Hintergrund der Klassenkämpfe
verstanden werden kann; es geht um die Überwachung und Disziplinierung der
Arbeiterklasse. Gesetzwidrigkeiten sind ein notwendiger Bestandteil sozialer
Auseinandersetzungen und werden nach Maßgabe wirtschaftlicher Kriterien stets
neu definiert (vgl. Foucault 1994, Nr. 127, 435-441; Nr. 131, 466 ff).
Wenn Marx im ersten Band des „Kapital“ die Zirkulationssphäre sarkastisch als das
Reich der angeborenen Menschenrechte preist (Marx 1984, 189), erklärt er damit die
bürgerlichen Rechtsprinzipien von Freiheit, Gleichheit und Eigentum nicht für
überflüssig. Er hält es jedoch für heuchlerisch, Menschenrechte als Rechte zu
definieren, die nur im Markt eingefordert werden können. Die kapitalistische
Produktion findet außerhalb der Marktsphäre statt, in einem Bereich, worin die
Verkäufer der Arbeitskraft den Käufern nicht als gleichberechtigte Vertragspartner
gegenüberstehen, da der Mangel an Subsistenz- oder Produktionsmitteln sie zum
Abschluß eines für sie unvorteilhaften Arbeitsvertrags zwingt. Ihnen fehlt jene
Wahlfreiheit, die eine notwendige Prämisse der liberalen Rechtskonzeption ist. Stellt
bei Marx die Produktionssphäre jenen Unterbau dar, dessen asymmetrische
Machtverhältnisse durch das bürgerliche Recht nicht korrigiert werden, so scheint der
Unterwerfung der Körper in Foucaults Ansatz eine vergleichbare Bedeutung
zuzukommen. Die Ausübung der Disziplinarmacht dient der Kontrolle einer
wachsenden Bevölkerung sowie der Steigerung der Rentabilität eines komplexer
werdenden Produktionsapparates, so lautet seine These. Verdankt sich der
ökonomische Aufstieg Westeuropas der Akkumulation des Kapitals, so ermöglicht
die Akkumulation von Menschen den politischen Aufschwung (Foucault 1976: 283).
Daß die Disziplinierung von Menschen die Kapitalakkumulation beschleunigt, hat
bereits Marx konstatiert. Er spricht vom Leib der Fabrik, von der Integration des
Arbeiters in die Maschine, von der kasernenmäßigen Disziplin sowie von der
Autokratie des Kapitals, die ohne Gewaltenteilung und Repräsentation auskommt
(vgl. Marx 1984, 441-450). Foucault weist noch 1981 darauf hin, wie viel seine
Machtanalyse dem Marxschen „Kapital“ verdankt (Foucault 1994, Nr. 297, 186-189).
Die Unterschiede zum marxistischen Ansatz sind gleichwohl nicht zu übersehen.
Foucaults Studie ist als Überwindung des ökonomistischen Reduktionismus gefeiert
worden; von marxistischer Seite wird jedoch moniert, sein Blick auf die
Disziplinargesellschaft resultiere aus einer unzulässigen Komplexitätsreduktion (Fine
1995; Rehmann 2003). Es ist gefragt worden, ob Foucault nicht das auf liberalen
Werten wie Freiheit und Gegenseitigkeit beruhende Marxsche normative Gerüst
stillschweigend voraussetzt (vgl. Fraser 1989: 30). Wenn er bemerkt, im Zeitalter der
„sozialen Orthopädie“ werde das auf Montesquieu zurückgehende Prinzip der
Gewaltenteilung illusorisch (Foucault 1994, Nr. 13, 593), so ist der Gedanke, der
Kritik liege ein liberales Anliegen zu Grunde, nicht abwegig. Die mit der bürgerlichen
Revolution einhergehende Errichtung einer egalitären Rechtsordnung und einer
repräsentativen Demokratie gründet, wie Foucault darlegt, auf einer Mikromacht, die
zusammen mit der Klassenherrschaft die Chancen politischer Selbstbestimmung
minimiert (Foucault 1976, 285f). Der Versuch des Rechtssystems, der
Machtausübung Grenzen zu setzen, muß angesichts eines allgegenwärtigen
Panoptismus, der die Asymmetrie der Mächte verstärkt und vervielfältigt, vergeblich
bleiben. Die Disziplin ist, so Foucaults Urteil, die Kehrseite der Demokratie und
zugleich die Voraussetzung des bürgerlichen Liberalismus (Foucault 1994, Nr. 152,
722).
Ist es überhaupt möglich, die Disziplinarmacht im Namen des Rechts und der
Demokratie zu kritisieren oder gar durch die entsprechenden Institutionen zu
kontrollieren? Eine Bejahung der Frage dürfte Foucault schwerfallen. Er hält den
gesamten Prozeß der staatlich-rechtlichen Modernisierung in Europa seit dem
ausgehenden Mittelalter, die Ablösung des germanischen durch das römische Recht,
die Herausbildung staatlicher Souveränität sowie insbesondere der Judikative für
eine verhängnisvolle Entwicklung (Nr. 139, 572-580). Die Idee der Volkssouveränität
verspricht zwar eine Demokratisierung der Machtverhältnisse, die sich aber
angesichts des disziplinären Zwangs als illusionär erweisen muß. Foucault fordert
eine neue politische Philosophie, die nicht auf den Begriffen von Souveränität,
Gesetz und Verbot aufbaut (Nr. 192, 150). Um den Kampf gegen die
Disziplinarmacht aufzunehmen, müßte man, wie er anregt, ein neues,
antidisziplinäres Recht erfinden, das sich vom Souveränitätsprinzip befreit hat (Nr.
194, 189). 1984 räumt Foucault indes ein, seine Suche nach Alternativen zur
traditionellen Politik habe bislang zu keinen Ergebnissen geführt (Nr. 356, 722). Auch
die Frage, welche Strafformen modernen Gesellschaften angemessen sind, bleibt für
ihn offen (Nr. 353, 692). „Surveiller et punir“ erweist sich im Rückblick als ein Werk,
das eine Reihe provokativer Fragen aufwirft, diese aber letztlich offen läßt. Für das
politische Denken stellen diese Fragen indes eine Herausforderung dar, der es sich
nicht entziehen kann: Dient das System der Rechte bloß dazu, das Faktum der
Herrschaft zu verdrängen? Ist es ein geeignetes Instrument, den Widerstand gegen
die Zugriffe der Disziplinarmacht zu unterstützen? Wie müßte es reformiert werden,
damit es sein Versprechen, den Schutz der Freiheiten, einlösen kann?
Literatur:
B. Fine (1995), Struggles against Discipline (1979). In: B. Smart (ed), Michel
Foucault. Critical Assessments. Volume IV, London: 309-329
M. Foucault (1961), Folie et déraison. Histoire de la folie à lâge classique, Paris
M. Foucault (1966), Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines,
Paris
M. Foucault (1975), Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris; deutsche
Übersetzung (1976), Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M.
M. Foucault (1994), Dits et écrits I-IV. 1954-1988. Edition établie sous la direction de
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K. Marx, F. Engels (MEW): Werke, 1956ff
J.Rehmann (2003), Vom Gefängnis zur modernen Seele. In: Das Argument, 249: 63-
81
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M. Weber (1980), Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 5. Auflage, Tübingen
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Dits et écrits I-IV. 1954-1988. Edition établie sous la direction de D. Defert et F. Ewald
  • M Foucault
M. Foucault (1994), Dits et écrits I-IV. 1954-1988. Edition établie sous la direction de D. Defert et F. Ewald, Paris N. Fraser (1989): Unruly Practices. Cambridge
La leçon des ténèbres: Michel Foucault et la prison
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M. Perrot (1995), La leçon des ténèbres: Michel Foucault et la prison (1986). In B. Smart (ed), Michel Foucault. Critical Assessments. Volume IV, London: 388-397
Vom Gefängnis zur modernen Seele
  • J Rehmann
J.Rehmann (2003), Vom Gefängnis zur modernen Seele. In: Das Argument, 249: 63-81
Er spricht vom Leib der Fabrik, von der Integration des Arbeiters in die Maschine, von der kasernenmäßigen Disziplin sowie von der Autokratie des Kapitals, die ohne Gewaltenteilung und Repräsentation auskommt (vgl. Marx
Daß die Disziplinierung von Menschen die Kapitalakkumulation beschleunigt, hat bereits Marx konstatiert. Er spricht vom Leib der Fabrik, von der Integration des Arbeiters in die Maschine, von der kasernenmäßigen Disziplin sowie von der Autokratie des Kapitals, die ohne Gewaltenteilung und Repräsentation auskommt (vgl. Marx 1984, 441-450). Foucault weist noch 1981 darauf hin, wie viel seine Machtanalyse dem Marxschen "Kapital" verdankt (Foucault 1994, Nr. 297, 186-189).
Machtausübung Grenzen zu setzen, muß angesichts eines allgegenwärtigen Panoptismus, der die Asymmetrie der Mächte verstärkt und vervielfältigt, vergeblich bleiben
Machtausübung Grenzen zu setzen, muß angesichts eines allgegenwärtigen Panoptismus, der die Asymmetrie der Mächte verstärkt und vervielfältigt, vergeblich bleiben. Die Disziplin ist, so Foucaults Urteil, die Kehrseite der Demokratie und zugleich die Voraussetzung des bürgerlichen Liberalismus (Foucault 1994, Nr. 152, 722).
Dits et écrits I-IV. 1954-1988. Edition établie sous la direction de D
  • M Foucault
  • F Defert
  • Paris N Ewald
  • Fraser
M. Foucault (1994), Dits et écrits I-IV. 1954-1988. Edition établie sous la direction de D. Defert et F. Ewald, Paris N. Fraser (1989): Unruly Practices. Cambridge M. Perrot (1995), La leçon des ténèbres: Michel Foucault et la prison (1986). In B. Smart (ed), Michel Foucault. Critical Assessments. Volume IV, London: 388-397