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Modellierung von Kompetenzen
im Bereich der Bildung:
Eine psychologische Perspektive
Editorial
Jens Fleischer, Detlev Leutner und Eckhard Klieme
Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 32 (4), 307–314,
Psychologische Rundschau, 63 (1), 1–2 © Hogrefe Verlag Göttingen 2012
DOI: 10.1026/0033-3042/a000111
Sonderdruck aus:
Diese Veröffentlichung wurde ermöglicht durch Sachbeihilfen
der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Kennz.: LE 645/11-2 und
KL 1057/9-2) im Schwerpunktprogramm „Kompetenzmodelle zur
Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von
Bildungsprozessen“ (SPP 1293).
Wohlstand und Entwicklungschancen einer Gesellschaft
hängen maßgeblich von den erreichten Wissensständen
und Fähigkeiten ihrer Mitglieder in konkreten Anforde-
rungsbereichen ab. Die Vermittlung relevanter Wissens-
stände und Fertigkeiten, die häufig unter dem Begriff
„Kompetenz“ gefasst werden, ist ein zentrales Ziel schuli-
scher und beruflicher Bildung (vgl. Köller, 2009). Der Mes-
sung dieser Kompetenzen kommt damit eine Schlüssel-
funktion für die Optimierung von Bildungsprozessen
sowie die Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung
des Bildungswesens zu (Klieme & Leutner, 2006; Koep-
pen, Hartig, Klieme & Leutner, 2008). Die Entwicklung
von Modellen der Struktur, Stufung und Entwicklung von
Kompetenzen, die sowohl kognitionspsychologisch als
auch fachlich fundiert sind, sowie die Entwicklung geeig-
neter psychometrischer Testmodelle und konkreter Mess-
instrumente ist ein komplexes Unterfangen, das nach wie
vor eine Herausforderung für die beteiligten Disziplinen
darstellt.
Das DFG-Schwerpunktprogramm „Kompetenzmodelle
zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilan-
zierung von Bildungsprozessen“, welches 2007 eingerich-
tet wurde und 2012 in seine dritte und letzte zweijährige
Förderphase geht, hat sich zum Ziel gesetzt, die wissen-
schaftlichen Anstrengungen zur Bewältigung dieser Her-
ausforderungen über Fachdisziplinen hinweg zu bündeln
und zu koordinieren. Im Rahmen des Schwerpunktpro-
gramms werden Kompetenzen definiert als „kontextspezi-
fische kognitive Leistungsdispositionen, die sich funk-
tional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten
Domänen beziehen“ (Klieme & Leutner, 2006, S. 879) und
durch Erfahrung und Lernen sowie äußere Interventionen
und institutionalisierte Bildungsprozesse erworben und
beeinflusst werden (vgl. Klieme & Hartig, 2007; Klieme,
Hartig & Rauch, 2008). Basierend auf dieser Arbeitsdefini-
tion befassen sich die einzelnen Projekte des Schwer-
punktprogramms über Fachdisziplinen hinweg mit den
Kompetenzdomänen Mathematik, Naturwissenschaft, Spra-
che/Lesen, Lehrerkompetenzen und fächerübergreifende
Kompetenzen.
Das vorliegende Themenheft umfasst sechs Beiträ-
ge aus verschiedenen Projekten des Schwerpunktpro-
gramms, die sich unter einer vornehmlich psychologi-
schen Perspektive mit der Modellierung von Kompeten-
zen beschäftigen. Das Schwerpunktprogramm insgesamt
ist interdisziplinär ausgelegt und vereint Vertreterinnen
und Vertreter der Pädagogischen Psychologie, der Fach-
didaktiken, der Erziehungswissenschaft und der Psycho-
metrie. Insofern liefert das Themenheft zwar einen relativ
umfassenden Überblick über die Arbeiten des Schwer-
punktprogramms, ohne jedoch den Anspruch zu erheben,
Zusammenfassung. Das vorliegende Themenheft umfasst sechs Beiträge aus Projekten des DFG-Schwerpunktprogramms
„Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen“. Die Beiträge,
die sich mit Aspekten der Kompetenzdomänen „Lehrerkompetenzen“, „Sprache/Lesen“ sowie „fächerübergreifende Kompe-
tenzen“ beschäftigen, werden im letzten Beitrag des Themenheftes kritisch kommentiert.
Schlüsselwörter: Kompetenz, Kompetenzmodellierung, DFG-Schwerpunktprogramm
Competence modeling in educational contexts: a psychological perspective
Abstract. This special issue comprises six articles from the DFG priority program “Competence Models for Assessing
Individual Learning Outcomes and Evaluating Educational Processes”. The articles examine aspects of the competence
domains “teacher competences”, “language/reading” and “cross-curricular competences”. The special issue closes with a
critical commentary.
Key words: competence, competence modeling, DFG priority program
2Jens Fleischer, Detlev Leutner und Eckhard Klieme
dieses in seiner inhaltlichen Breite erschöpfend abzubil-
den (siehe hierzu z. B. Klieme, Leutner & Kenk, 2010).
Im ersten Beitrag des Themenhefts beschreiben Klug,
Bruder, Keller und Schmitz die theoretischen und empiri-
schen Beziehungen zwischen diagnostischer Kompetenz
und Beratungskompetenz von Lehrkräften, wobei es sich
um zwei zentrale Aufgaben des Lehrerberufs handelt.
Auch wenn die dargestellten Analysen keine Kausalaus-
sagen zulassen, ist doch anzunehmen, dass der oft postu-
lierte Zusammenhang zwischen beiden Kompetenzen, der
nun auch empirisch gezeigt werden kann, dafür spricht,
dass eine gründliche Diagnostik einem guten Beratungs-
gespräch vorausgeht.
Ullrich, Schnotz, Horz, McElvany, Schroeder und Bau-
mert untersuchen im zweiten Beitrag, ausgehend von kog-
nitionspsychologischen Überlegungen zur gemeinsamen
Verarbeitung von verbalen und visuellen Informationen,
die Struktur der Kompetenz zur integrativen Verarbeitung
von Texten und Bildern. Hierbei zeigt sich, dass die postu-
lierte multidimensionale Struktur aufgrund hoher Korrela-
tionen zwischen den einzelnen Skalen durch die verwen-
deten Testmodelle nur unzureichend abgebildet werden
kann. Die Autoren diskutieren alternative Modellierungs-
strategien, die jedoch aufgrund der Struktur der bisher
vorliegenden Daten noch nicht angewendet werden konn-
ten.
Im dritten Beitrag untersuchen Artelt, Neuenhaus,
Lingel und Schneider die Entwicklungsverläufe von meta-
kognitivem Wissen und fachspezifischen Kompetenzen,
und zwar bezogen auf die Domänen Deutsch und Eng-
lisch. Sowohl für das metakognitive Wissen als auch für
die fachspezifischen Kompetenzen zeigen sich hierbei be-
deutsame Zuwächse, die teilweise in Abhängigkeit von
der Schulform variieren. Die Autoren können darüber
hinaus zeigen, dass sowohl inter-individuelle Unterschie-
de als auch intra-individuelle Kompetenzentwicklungen in
beiden Domänen zu einem nicht unerheblichen Ausmaß
durch metakognitives Wissen erklärt werden können.
Schütte, Wirth und Leutner untersuchen im vierten
Beitrag Teilkompetenzen des selbstregulierten Lernens
aus Sachtexten. Hierzu werden von den Autoren neue
Verfahren zur separaten Erfassung der einzelnen Teilkom-
petenzen entwickelt und evaluiert. Die Autoren können
zeigen, dass die erfassten Teilkompetenzen einen Einfluss
auf den Lernerfolg haben und die entwickelten Instrumen-
te zudem geeignet sind, lernstrategische Defizite von
Schülerinnen und Schülern zu diagnostizieren.
Leutner, Fleischer, Wirth, Greiff und Funke stellen im
fünften Beitrag zentrale Befunde internationaler Schulleis-
tungsvergleichsstudien zur analytischen und dynami-
schen Problemlösekompetenz dar. Außerdem berichten
die Autoren zwei Studien zum Lösen analytischer und
dynamischer Probleme, deren Ergebnisse für beide Kom-
petenzbereiche eine dreidimensionale Struktur nahelegen.
Substanzielle Korrelationen dieser Dimensionen, insbe-
sondere mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Kom-
petenzen, lassen darüber hinaus erwarten, dass Maßnah-
men zur Förderungen einzelner Kompetenzdimensionen
des Problemlösens auf die Entwicklung fachlicher Kompe-
tenzen transferieren.
Im sechsten Beitrag diskutieren Hartig und Frey den
generellen Nutzen der systematischen Erklärung von Item-
schwierigkeiten durch Itemmerkmale zur Validierung, Ska-
leninterpretation und Optimierung der Itemkonstruktion.
Anhand eines empirischen Beispiels für die Kompetenz
Englisch Leseverstehen zeigen die Autoren, dass sowohl
die sprachlichen Anforderungen eines Textes als auch
Anforderungen hinsichtlich der Informationsverarbeitung
für die Modellierung und Messung der Kompetenz be-
deutsam sind.
Das Themenheft schließt mit einem Kommentar, der
die Beiträge kritisch würdigt. Renkl plädiert in seinem
Kommentar dafür, die Modellierung von Kompetenzen im
Sinne differenziell-psychologischer Konstrukte, bei der
die Untersuchung interindividueller Unterschiede im Zen-
trum steht, stärker um eine kognitionswissenschaftliche
Perspektive zu erweitern, bei der die kognitiven Prozesse
im Mittelpunkt stehen. Wenngleich diese Unterscheidung
zwischen differenzieller und inkrementeller Perspektive
und die damit einhergehenden Implikationen den beteilig-
ten Projekten durchaus bewusst sind, weist der Autor zu
Recht darauf hin, dass Schlussfolgerungen über beide
Ebenen nicht ohne weiteres möglich sind.
Literatur
Klieme, E. & Hartig, J. (2007). Kompetenzkonzepte in den So-
zialwissenschaften und im erziehungswissenschaftlichen
Diskurs. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft [Sonder-
heft], 8, 11–29.
Klieme, E., Hartig, J. & Rauch, D. (2008). The Concept of com-
petence in educational contexts. In J. Hartig, E. Klieme & D.
Leutner (Eds.), Assessment of competencies in educational
contexts (pp. 3–22). Göttingen: Hogrefe.
Klieme, E. & Leutner, D. (2006). Kompetenzmodelle zur Erfas-
sung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von
Bildungsprozessen. Beschreibung eines neu eingereichten
Schwerpunktprogramms der DFG. Zeitschrift für Pädago-
gik, 52, 876–903.
Klieme, E., Leutner, D. & Kenk, M. (Hrsg.). (2010). Kompe-
tenzmodellierung. Zwischenbilanz des DFG-Schwerpunkt-
programms und Perspektiven des Forschungsansatzes. Zeit-
schrift für Pädagogik [Beiheft], 56. Verfügbar unter: http://
www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=3324&la=de.
Köller, O. (2009). Bildungsstandards. In R. Tippelt & B.
Schmidt (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung (S. 529–
548). Wiesbaden: VS.
Koeppen, K., Hartig, J., Klieme, E. & Leutner, D. (2008).
Current issues in competence modelling and assessment. Zeit-
schrift für Psychologie/Journal of Psychology, 216, 61–73.
Dipl.-Psych. Jens Fleischer
Universität Duisburg-Essen
Fakultät für Bildungswissenschaften
45117 Essen
E-Mail: jens.fleischer@uni-due.de