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Kindeswohl und Kindeswille. Zum Wohlergehen von Kindern aus der Perspektive des Capability Approach

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Abstract

In der Kinder- und Jugendhilfe treffen handlungsorientierende Konzepte aufeinander, die sich in der Praxis nicht immer miteinander vereinbaren lassen: Ein Beispiel ist die Gegenüberstellung von Kindeswohl und Kindeswille. Während die Auslegung des Kindeswohlbegriffs in der Regel in eine advokatorische oder paternalistische Richtung läuft, wird mit dem Begriff des Kindeswillens ein eher partizipatives Konzept verbunden.
Nina Oelkers / Mark Schrödter
Kindeswohl und Kindeswille.
Zum Wohlergehen von Kindern aus der Perspektive
des Capability Approach
In der Kinder- und Jugendhilfe treffen handlungsorientierende Konzepte auf-
einander, die sich in der Praxis nicht immer miteinander vereinbaren lassen:
Ein Beispiel ist die Gegenüberstellung von Kindeswohl und Kindeswille. Wäh-
rend die Auslegung des Kindeswohlbegriffs in der Regel in eine advokatorische
oder paternalistische Richtung läuft, wird mit dem Begriff des Kindeswillens
ein eher partizipatives Konzept verbunden.
Unser Anliegen ist die Übertragung der Perspektive des Capability Approach
auf den Handlungszusammenhang der Kinder- und Jugendhilfe, der sich zwi-
schen den Bereichen Kindesschutz, Interessenvertretung und Gestaltung der
Bedingungen des Aufwachsens für Kinder entfaltet. Die Legitimation von so-
zialpädagogischem Handeln in diesem Aufgabenfeld erfolgt zumeist über die
rechtlichen Grundlagen und praxiologischen Auslegungen. Eine weitergehende
handlungsethische Begründung, die zudem noch die unterschiedlichen Aspekte
von Wohl und Wille, Wohlfahrt und Wohlergehen zusammenführt, steht noch
aus.
Der von Sen begründete und von Nussbaum erweiterte Capability oder Capa-
bilities Approach umfasst eine Definition von Lebensqualität sowie Verfahren
zur Messung von Wohlfahrt. Wohlfahrt wird in diesem Kontext in einem wei-
ten Sinn von well-being oder standard of living verstanden. Es geht folglich
nicht um das, was mit dem klassischen ökonomischen Begriff „welfare“ gemeint
ist. Als ethisch fundiertes Maß wird hier der Ansatz für eine Betrachtung des
menschlichen Lebens und der Lebensumstände genutzt, insbesondere bezogen
auf die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen. Der An-
satz ermöglicht es, subjektive und objektive Aspekte gleichermaßen zu berück-
sichtigen. Die subjektive Vorstellung von einem guten Leben wird in dieser
Konzeption im Zusammenhang mit den objektiven Bedingungen ihrer Reali-
sierung betrachtet, ohne weder ausschließlich an den externen Bedingungen
menschlichen Lebens orientiert zu sein, noch eine schlichte Präferenzorientie-
rung zu setzen oder auf Verfahren, die das Wohlergehen von Personen mit der
Selbsteinschätzung der Betroffenen identifizieren. Mit dem Ansatz wird eine
positive Auffassung von Freiheit begründet, an die sich die Forderung anschlie-
ßen lässt, Kinder und Jugendliche in die Lage zu versetzen, ihren subjektiven
Vorstellungen von einem guten Leben nachzugehen.
143
Kindeswohl ...
Wie im § 1 SGB VIII deutlich wird, ist das Kindeswohl ein zentraler hand-
lungsleitender Begriff in der Kinder- und Jugendhilfe. Mit dem unbestimmten
Rechtsbegriff „Kindeswohl“ begrenzt der Gesetzgeber die Ausübung der elterli-
chen Sorge (§ 1666 BGB). Über den Kindeswohlbegriff nimmt der Staat sein
im Grundgesetz verankertes Wächteramt wahr und kann in das private Erzie-
hungshandeln der Eltern eingreifen (Art. 6 GG). Folglich ist der Kindeswohl-
begriff zentral für das historisch entwickelte, gesellschaftliche und rechtliche
Spannungsverhältnis zwischen Eltern,denen gemäß Art. 6 II 1 GG1die Erzie-
hungsverantwortung zukommt, Kindern, die gemäß BVerfG-Urteil2Grund-
rechtsträger mit anerkannten Persönlichkeitsrechten sind und Staat, dem die
Förderungsverpflichtung und das staatliche Wächteramt gemäß Art. 6 II 2 GG
obliegt.
Im Verhältnis von Eltern zum Staat beziehungsweise zu Dritten zeigt sich ein
klassisch-liberales Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe und zugleich ein
Schutzrecht. Das Elternrecht beziehungsweise die verfassungsrechtlich ge-
schützte Erziehungsverantwortung der Eltern ist ein „quasi-treuhänderisches“
Recht im Interesse des Kindes, zu dessen pflichtgebundener Ausübung die El-
tern berechtigt sind. Laut BVerfG kann eine Verfassung, welche die Würde des
Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertsystems stellt, bei der Ordnung zwi-
schenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Per-
son eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die
Menschenwürde des anderen respektieren (BverfGE 24). Aus der Grundrechts-
trägerschaft der Kinder wird abgeleitet, dass die Erziehungsverantwortung der
Eltern an die Interessen des Kindes (dem so genannten Wohl des Kindes) ge-
bunden sein muss. Dadurch erhält das Kindeswohl Verfassungsrang, ohne aus-
drücklich genannt zu sein. Die Grundrechtsposition Minderjähriger ergibt sich
aus der Verknüpfung von Art. 6 II GG mit Art. 1 I GG: Minderjährige werden
als autonome Rechtssubjekte auch in Bezug auf die Eltern anerkannt.
Die staatliche Gemeinschaft hat über die Betätigung der elterlichen Verant-
wortung zu wachen (staatliches Wächteramt). Als Grundrechtsträger haben
Kinder einen unmittelbaren Anspruch darauf, dass der Staat eingreift, wenn ihr
Wohl konkret gefährdet ist. Das so genannte staatliche Wächteramt beinhaltet
folglich
>eine staatliche Schutzverpflichtung gegenüber dem Kind als Grundrechts-
träger;
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1 Pflege und Erziehung der Kinder, als natürliches Recht der Eltern, nehmen diese gemäß Arti-
kel 3 II GG als Mutter und Vater gleichberechtigt war.
2 Es ist gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass Kinder von ihrer Geburt
an, wie Erwachsene, uneingeschränkt Träger aller Grundrechte sind (keine fehlende Grund-
rechtsmündigkeit analog zur beschränkten Geschäftsfähigkeit im Zivilrecht).
>eine Erziehungsreserve bei Kindesvernachlässigung oder elterlichem Erzie-
hungsversagen;
>eine Schlichtungsfunktion bei Konflikten zwischen den Eltern bei Erziehungs-
fragen und
>eine Schutzfunktion bei Kindeswohlgefährdung durch missbräuchliche Aus-
übung elterlicher Erziehungsrechte.
Der Verfassungsrechtsprechung und dem Schrifttum folgend hat Jean d’Heur
(1987) in einem Rechtsgutachten Auslegungsgrundsätze zum Kindeswohlbe-
griff zusammengestellt: „Demnach enthält das Elternrecht neben der abwehr-
rechtlich-staatlichen Dimension eine fremdnützige Ausübungspflicht zugunsten
des Kindes (Elternverantwortung) und stellt in diesem Sinne eine grundrechts-
dogmatisch einmalige, weil funktionale Freiheitsgarantie dar. Das staatliche
Wächteramt legitimiert zu Eingriffen in das Elternrecht, falls die Erziehungsbe-
rechtigten ihren Aufgaben gemäß Art. 6. Abs. 2 S. 1GG nicht nachkommen
und dem Kindeswohl dadurch Schaden droht bzw. ein solcher bereits eingetre-
ten ist. Diese Eingriffsbefugnis darf grundsätzlich nur subsidiär wahrgenommen
werden. Gleichwohl ist der Staat im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG nicht
auf rein defensive Maßnahmen beschränkt; vielmehr hat er zur Entfaltung der
aus Art. 1 Abs. 1 (Menschenwürdegrundsatz) bzw. Art. 2 Abs. 1 (allgemeines
Persönlichkeitsrecht) spezifisch abgeleiteten Menschenwerdungs- oder Persön-
lichkeitsentfaltungsrechte des Kindes beizutragen“ (Jean d’Heur 1987: 11).
Auf dieser Grundlage besteht in der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere
für die Jugendämter einerseits eine aus dem staatlichen Wächteramt resultieren-
de „Eingriffsorientierung“, und andererseits ein Gestaltungsauftrag bezüglich
allgemeiner Bedingungen des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche.
Die Erziehungsmöglichkeiten innerhalb von Familien sind aufgrund von ge-
sellschaftlichen Spaltungsprozessen unterschiedlich, so dass sich für einige Fa-
milien die Frage stellt, inwieweit die Eltern ihre Erziehungsaufgaben verfas-
sungsgemäß erfüllen können. Der Staat, so lässt sich aus dem GG ableiten,
muss zusätzliche Angebote in der Kinder- und Jugendhilfe zur Verfügung stel-
len, als „Ermöglichungsbedingung zur effektiven Wahrnehmung des Eltern-
rechts“ (Jean d’Heur 1987: 11). Es geht um die Schaffung von Sozialisationsbe-
dingungen, die dem Menschenbild des Grundgesetztes genügen, von Angebo-
ten zur Unterstützung oder Widerherstellung der Ausübungsmöglichkeiten des
elterlichen Erziehungsrechts. Die Abwehr von Gefährdungen für das Kindes-
wohl reicht folglich auf dem Hintergrund des Grundgesetzes nicht aus. Viel-
mehr hat die Kinder- und Jugendhilfe auch die Aufgabe der positiven Gestal-
tung der Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen: „Das Kin-
deswohl darf nicht erst dann die rechtspolitischen Debatten beflügeln, wenn
ein Schaden bereits eingetreten ist und es lediglich um dessen Begrenzung geht;
vielmehr muss das Wohl des Kindes mehr als bisher Maßstab allen staatlichen
Handelns werden“ (Jean d’Heur 1987: 13).
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Das staatliche Wächteramt sowie der Menschenwürdegrundsatz enthalten
über die abwehrrechtliche Seite hinaus eine garantienormrechtliche Verpflich-
tung des Staates zu aktiven Maßnahmen und öffentlichen Leistungsangeboten.
Zentrale Vorschriften für das Kindeswohl sind eben auch der Menschenwürde-
grundsatz des Art. 1 Abs. 1 GG sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht
(Art. 2 Abs. 1 GG), die die positiven Ermöglichungsbedingungen für eine
kindgerechte Entwicklung bestimmen: Kindesgrundrechte auf Persönlichkeits-
oder Menschwerdung bzw. sogenannte Menschwerdungsgrundrechte von Kin-
dern. In diesem Sinne ist das Kindeswohl immer dann relevant, „wenn das
Kind zu einer Selbstbestimmung seiner Interessen rechtlich nicht in der Lage ist
und deshalb sein objektiv bestimmtes wohlverstandenes Interesse in den Vor-
dergrund tritt. Aus dieser Ersatzfunktion des Kindeswohls ergibt sich, dass der
Kindeswillen bei entsprechender Reife des Kindes eine Berücksichtigung finden
muss. Als Akt der Selbstbestimmung und der kindlichen Autonomie ist der
Wille des Kindes also Teil des Entscheidungsmaßstabes Kindeswohl“ (Parr
2005: 9f.).
... und Kindeswille
Eine autonome Stellung des Kindes ist daher weder im elterlichen Sorgerecht
noch über das staatlich zu sichernde Kindeswohl gegeben. Mit dem Konzept
der elterlichen Sorge hat der Gesetzgeber den Eltern hinsichtlich der Elternau-
tonomie und der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes umfangreiche Kompe-
tenzen eingeräumt. Die sich aus verfassungsrechtlichen Vorgaben abzuleitende
Verpflichtung des Gesetzgebers, die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes auch
im Verhältnis zu den Eltern zu gewährleisten, geschieht dadurch, dass für noch
Minderjährige eigene subjektive Rechtspositionen begründet werden. Aller-
dings erlangen Kinder in bestimmten Bereichen Teilmündigkeit3vor der Voll-
jährigkeit. Neben den gesetzlich formulierten Teilmündigkeiten wurde in
Rechtslehre und Rechtsprechung die Rechtsfigur des so genannten einsichtsfähi-
146
3 Gemäß § 1 BGB beginnt mit der Vollendung der Geburt die Rechtsfähigkeit des Menschen.
Im Bereich des allgemeinen Geschäftslebens wurden Minderjährigen bereits mit dem In-
Kraft-Treten des BGB bestimmte Rechtspositionen eingeräumt (Beschränkte Geschäftsfähig-
keit etc. §§ 106-113 BGB; beschränkte Schadensverantwortlichkeit § 828 II BGB). Weitere
eigenständige Rechtspositionen für Kinder gibt es im deutschen Recht vor Beginn der Volljäh-
rigkeit nur vereinzelt, zum Beispiel: Ab 14 Jahren besteht ein Recht auf die Wahl des Bekennt-
nisses (§ 5 RKEG); das Beschwerderecht zum Beispiel gegen Entscheidungen des VormG/
FamG (§ 56 FGG) und ein Anhörungsrecht gemäß § 50 FGG; beschränkte Strafmündigkeit
(§§ 1, 3 JGG); Zustimmungsrecht zum Beispiel bei Geburtsnamensänderung (§§ 1671a ff
BGB); Vorschlagsrecht bei der Verteilung elterlicher Sorge (§ 1671 III BGB); Einwilligung in
die Adoption (§ 1746 BGB); Antragsrecht auf Bestellung eines anderen Pflegers/Vormunds
(§ 1887 BGB). Ab 15 Jahren besteht das bedingte Antragsrecht auf Sozialleistungen (§ 36
SGB I). Ab 16 Jahren besteht das eigenständige Testierrecht (§ 2229 I BGB) und Eidesfähig-
keit (§§ 393, 455 ZPO; § 60 StPO) (Münder 1999: 135).
gen Minderjährigen entwickelt: wenn das tatsächliches Verhalten, insbesondere
in höchstpersönlichen Angelegenheiten, betroffen ist, können Minderjährige
bei hinreichender Einsichtsfähigkeit in der konkreten, zur Entscheidung ste-
henden Angelegenheit selbst die entsprechende Entscheidung treffen. Dies be-
deutet zugleich, dass die Zuständigkeit der Eltern diesbezüglich eingeschränkt
wird (Münder 1999: 136).
Wenn es um die Auswahl geeigneter Hilfen zur Erziehung (Hilfeplanung
nach § 36 SGB VIII) oder familiengerichtliche Klärung von Fragen der elter-
lichen Sorge (§§ 1626, 1746 BGB), des Aufenthalts und des Umgangs der Kin-
der und Jugendlichen (§§ 1631, 1632 BGB) geht sowie um die Beteiligung von
Kindern und Jugendlichen im familiengerichtlichen Verfahren (Anhörungen
nach § 50b FGG und/oder Verfahrenspflege nach § 50 FGG), sind Wunsch
und Wille des Kindes ausdrücklich zu beachten, bzw. Kinder und Jugendliche
angemessen zu beteiligen (§ 8 SGB VIII). Der Gesetzgeber des neuen Kind-
schaftsrechts von 1998 hat z. B. die Verfahrenspflegschaft (§ 50 FGG) einge-
führt, um zu garantieren, dass Kindern und Jugendlichen eine Subjektstellung
im gerichtlichen Verfahren eingeräumt wird. Da die familiengerichtlichen Ent-
scheidungen in der Regel von maßgeblicher Bedeutung für die Zukunft der
Kinder und Jugendlichen sind, soll diese nicht über deren Köpfe hinweg erfol-
gen. Das Kind hat grundsätzlich Anspruch darauf, dass sein Wille ernst genom-
men wird und eine Resonanz der am Verfahren beteiligten Erwachsenen be-
wirkt (vgl. Weber/Zitelmann 1998).
Im Kontext einer solchen Interessenvertretung für Kinder, z. B. bei Kindes-
wohlgefährdung oder im Zusammenhang mit Trennungs- und Scheidungspro-
zessen, stellt sich die Frage, ob die VerfahrenspflegerIn „Sprachrohr“ für den
Kindeswillen, VertreterIn des Kindeswohls oder der wohlverstandenen Interes-
sen des Kindes ist. In der regierungsamtlichen Begründung des Gesetzes wird
von einem Interessenbegriff ausgegangen, der subjektiven und die wohlverstan-
denen Interessen des Kindes umfasst.
Dettenborn (2001) schlägt vor, zwei Interpretationsmöglichkeiten des Ver-
hältnisses zwischen Kindeswohl und Kindeswillen zu unterscheiden, die in der
Kindeswohl-Literatur eine Rolle spielen:
(1) „es gibt kein Kindeswohl gegen den Kindeswillen“,
(2) „die Umsetzung des Kindeswillens kann dem Kindeswohl schaden“
(Dettenborn 2001: 78).
Dettenborn selbst führt diese Unterscheidung nur sehr knapp aus. Was verbirgt
sich hinter dieser Unterscheidung? Aussage (1) behauptet, dass die Erfüllung
des Kindeswohls gegen den Kindeswillen logisch nicht möglich ist, weil jedes
Handeln gegen den Willen zugleich (per definitionem) gegen das Wohl ver-
stößt. Wir können nicht sagen, dem Kind gehe es gut, wenn man gegen seinen
Willen verstößt. (2) behauptet, dass es einige Fälle gibt, in denen die Erfüllung
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des Kindeswillens dem Kindeswohl schadet. Dies ist dann der Fall, wenn das
Kind etwas Schädliches will.
Diese Differenzierung ist durchaus hilfreich für unser Verständnis des Ver-
hältnisses von Kindeswohl und Kindeswille. Allerdings ist sie nicht trennscharf,
da die beiden Aussagen sich nicht wechselseitig ausschließen. Ein praktisches
Beispiel, das von Dettenborn selbst stammt, macht die unzureichende Differen-
zierung der beiden Varianten von Kindeswohlbegriffen deutlich:
„Ein dreizehnjähriges Kind kann die Rückkehr in das Elternhaus verweigern, weil es
sich im Kreise einer Drogen missbrauchenden Gleichaltrigengruppe ,wohl fühlt‘. Dabei
kann aber auch Gruppendruck und -sog bis hin zur Angst vor negativen Folgen bei Ver-
lassen der Gruppe ausschlaggebender Motivhintergrund sein, weswegen der Wille nicht
hinreichend selbstbestimmt ist“ (Dettenborn 2001: 79).
Nach Aussage (2) würde die Umsetzung des Willens des Kindes, bei der
Gleichaltrigengruppe zu verbleiben, seinem Wohl schaden, weil es dort Drogen
missbraucht. Was sagt Aussage (1) zu diesem Beispielfall? Aussage (1) können
wir lediglich entnehmen, dass dem Wohl des Kindes nicht entsprochen würde,
wenn es nicht bei der Gleichaltrigengruppe bleiben kann. Ob aber der Verbleib
des Kindes bei der Gruppe seinem Wohle dient, dazu sagt (1) gar nichts aus.
Auch sagt (1) nichts dazu aus, ob es dem Wohl schadet, wenn das Kind ins El-
ternhaus zurückkehrt. Aussage (1) bezieht sich ausschließlich auf Zuwiderhand-
lungen. Daher wäre es mit Aussage (1) völlig kompatibel, zu behaupten, dass es
dem Wohle des Kindes ebenso schadet, wenn es bei der Gruppe bleibt wie
wenn es nicht bei der Gruppe bleibt. Wenn es bei der Gruppe bleibt, schadet
der Drogenmissbrauch seinem Wohl. Wenn es nicht bei der Gruppe bleibt, scha-
det die Missachtung des Willens seinem Wohl.
Nun ist oftmals der Kindeswille – wie der Wille des Erwachsenen auch – am-
bivalent. Vielleicht wünscht sich das Kind latent, in sein Elternhaus zurückzu-
kehren, jedoch überwiegt der Wunsch nach den spannenden Erlebnissen und
der Anerkennung, die das Kind durch die Gleichaltrigengruppe erfährt. In der
Praxis erscheint das Problem der Berücksichtigung des Kindeswillen und des
Kindeswohls daher oftmals als eine Sache des Ausbalancierens, für die folgendes
Handlungsprinzip vernünftig erscheint: „Soviel Akzeptierung des Kindeswillens
wie möglich, soviel staatlicher Eingriff wie nötig, um das Kindeswohl zu si-
chern“ (Dettenborn 2001: 79). Sofern wirklich gute Gründe für eine Rückkehr
ins Elternhaus sprechen, geht es darum, das Kind dahin zu führen, dass es Ab-
stand nimmt von seinem Wunsch, bei der Gruppe zu bleiben. Neben der Fra-
ge, ob ihm hier eine liebevolle und anregende Erziehung zuteil wird (Kindes-
wohl), wird hier unter den „guten Gründen“ vor allem relevant sein, ob das
Kind selbst zumindest latent den Wunsch hegt (Kindeswille), zum Elternhaus
zurückzukehren.
So pragmatisch angemessen die Handlungsmaxime im Konflikt zwischen
Kindeswille und Kindeswohl erscheinen mag, so eröffnet sie doch eine Menge
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Fragen. In welcher Hinsicht können Kindeswille und Kindeswohl in Konflikt
geraten? Nach welchem Maßstab soll über die Akzeptanz des Kindeswillens ent-
schieden werden? An welchen Maßstäben bemisst sich das Kindeswohl? Das
Verhältnis von Kindeswille und Kindeswohl, sowie die Maßstäbe zu deren Be-
wertung und Operationalisierung bedürfen also einer systematischen Klärung.
Modelle des Zusammenhangs zwischen Kindeswille und
Kindeswohl
Im Folgenden sollen Konzeptionen des Kindeswillen und Kindeswohls sowie
deren Verhältnisbestimmung danach unterschieden werden, ob sie das Kindes-
wohl bzw. den Kindeswillen subjektiv oder objektiv fassen. Ein subjektiver Kin-
deswohlbegriff liegt vor, wenn davon ausgegangen wird, dass sich das Kindes-
wohl lediglich qua Vereinbarung operationalisieren lässt. Mit anderen Worten:
die Bestimmung des Kindeswohls gilt als nicht irrtumsfähig. Ein „Irrtum“ darü-
ber, was als Kindeswohl gelten soll, ist im subjektiven Kindeswohlbegriff des-
halb nicht möglich, weil es keinen Maßstab gibt, anhand dessen bemessen wer-
den könnte, ob die Bestimmung des Kindeswohls „richtig“ ist oder nicht. Diese
(inter-)subjektive Bestimmung des Kindeswohls kann dann nur noch pragma-
tistischen Angemessenheitskriterien genügen. Einem objektiven Kindeswohlbe-
griff liegt dagegen die Annahme zugrunde, dass sich – wie auch immer zu be-
stimmende – Kriterien für das Kindeswohl angeben lassen, die universale Gel-
tung beanspruchen können. Die Bestimmung des Kindeswohls gilt hier als irr-
tumsfähig, weil jede konkrete Rekonstruktion des Kindeswohls immer unter
dem Vorbehalt steht, das „wahre“ Kindeswohl zu verfehlen. Das Kindeswohl ist
hier gebunden an „das Gute“ oder „das Vernünftige“. Während also im subjek-
tiven Kindeswohlbegriff das Kindeswohl als pragmatistisch sinnvolles Kon-
strukt erscheint, geht es im objektiven Kindeswohlbegriff um die gültige Re-
konstuktion des Kindeswohls.
Ein subjektiver Begriff von Kindeswille liegt vor, wenn der Kindeswille mit den
realen, empirisch vorfindbaren inneren Zuständen des Kindes gleichgesetzt
wird. So plädiert Dettenborn (2001) dafür, den Kindeswillen „von allen ,Wohl-
verständnissen‘ unverfälscht“ zu fassen: „Es geht um vom Kind selbst definierte
Interessen bzw. um das, was gelegentlich als ,bloßer‘ Wille des Kindes [...] be-
nannt wird. Dagegen geht es nicht um ,wohlverstandenes‘ Interesse, nicht um
,vernünftigen‘ Willen [...], nicht um die stellvertretende Abwägung möglicher
Zielzustände durch Professionelle“ (Dettenborn 2001: 63). Allerdings bleibt of-
fen, inwiefern das Kind über seine inneren Zustände selbst verfügen kann. So
können zwei Variationen des subjektiven Kindeswille-Begriffs unterschieden
werden. Zum einen kann im Rahmen des subjektiven Begriffs des Kindeswil-
lens angenommen werden, dass dem Kind hinsichtlich seines Willens epistemi-
sche Autorität zukommt, dass es also einen privilegierten Zugang zu seinem
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Wollen besitzt (vgl. dazu Baumann 2000). Es weiß am besten was es will. Oft-
mals wird dann auch der Kindeswille mit den Artikulationen des Kindes gleich-
gesetzt. Das, was das Kind verlautbart, ist das, was es will. Zum anderen kann
im Rahmen des subjektiven Begriffs des Kindeswillens davon ausgegangen wer-
den, dass sich das Kind über seine eigenen Zustände täuschen mag. Der Wille
muss dann zum Gegenstand einer rationalen Prüfung werden, die auch Dritte
vornehmen können. Das Kind besitzt dann keine epistemische Autorität über
seinen Willen. Es ist nicht notwendigerweise die Instanz, die am besten weiß,
was es will.4
Der Übergang von der zweiten Variante des subjektiven Willensbegriffs zum
objektiven Begriff von Kindeswillen ist fließend. Auch beim objektiven Willens-
begriff wird davon ausgegangen, dass sich das Kind darüber täuschen, oder im
Unklaren darüber sein kann, was es will. Entscheidend ist aber, dass hier der
Kindeswille an „das Gute“ oder „das Vernünftige“ gebunden wird. Daher kann
der objektive Kindeswille nichts Schädliches wollen. Beinhalten Willensäuße-
rungen des Kindes schädigende Gehalte, so ist es nicht der „eigentliche“ Wille,
der hier zum Ausdruck kommt. Das vom Kinde Gewünschte ist nicht gleichzu-
setzen mit seinem Willen. Der Unterschied zwischen dem subjektiven und ob-
jektiven Willensbegriff ist natürlich vor allem bei Aristoteles thematisch:
Hinsichtlich des Willens „meinen die einen, er gehe auf das Gute, die anderen, er gehe
auf das gut Scheinende. Für die, welche das Gute als Gegenstand des Wollens bezeich-
nen, folgt aber dann, dass das, was jemand will, der nicht richtig wählt, nicht als gewollt
gelten kann – denn wäre es gewollt, so wäre es auch gut, und doch wäre es unter Umstän-
den schlecht –; dagegen für die, denen das gut Scheinende Gegenstand des Wollens ist,
folgt, dass der Gegenstand des Wollens nicht von Natur ein solcher ist, sondern dass es
für jeden dasjenige ist, was ihm so scheint. Das ist aber bei dem einen dies, bei dem ande-
ren ist es das, und unter Umständen das Gegenteil vom ersten“ (Aristoteles 1921:
1113b, Herv. d. A.).
Die Verwendung des objektiven Willensbegriffs setzt also die Unterscheidung
zwischen dem „natürlichen“ Willen, der auf das subjektiv als „gut Scheinende“
zielt, einerseits und dem „freien“, „autonomen“ Willen, der auf „das Gute“
zielt, andererseits voraus. Der subjektive Willensbegriff fasst den Willen als das
vom Kinde Gewünschte, der objektive Willensbegriff fasst den Willen als das
vernünftige Streben.5
150
4 In der Literatur wird diese Begriffsvariante oftmals als „wohlverstandenes Kindesinteresse“ be-
zeichnet.
5 Vertreter des objektiven Willensbegriffs halten zumeist den rein subjektiven Willensbegriff für
gefährlich: „Denn eine Willensfreiheit, die an nichts gebunden wäre, und eine Autonomie, die
über ihre Gesetze bedingungslos verfügte, sind Argumente, die zu allem gebraucht und leicht
missbraucht werden können. Aus dem nämlichen Grund muss die Verträglichkeit der Wil-
lensfreiheit mit dem Wohl anderer geprüft werden, ehe man ihre Position öffentlich geltend
macht. Der Wille ist ohnehin nur dann und solange bei sich, als er das Vernünftige wählt und
vollbringt; und die Autonomie ist nur solange ein moralischer Standpunkt, als ihre Gesetze
unter der Bedingung praktischer Vernunft stehen. Ist das nicht gewährleistet, dann schlägt die
Setzt man den objektiven und subjektiven Begriff von Kindeswille und Kin-
deswohl in Beziehung zueinander, ergibt sich eine Typologie von Konzeptionen
des Verhältnisses zwischen Kindeswille und Kindeswohl (siehe Tabelle 1). Es
ergeben sich drei sinnvolle Verhältnisbestimmungen von Kindeswille und Kin-
deswohl: das (1) Aushandlungsmodell, das (2) Prioritätenmodell und das (3)
Kongruenzmodell.
Kindeswohl
subjektiv
Kindeswohl als Überein-
kunft über das Gute
objektiv
Kindeswohl als
„das Gute“
Kindeswille
subjektiv
Kindeswille als das vom
Kinde Gewünschte
1
Aushandlungsmodell
2
Prioritätenmodell
objektiv
Kindeswille als
vernünftiges Streben
4
[nicht sinnvoll]
3
Kongruenzmodell
Tabelle 1: Modelle des Verhältnisses zwischen Kindeswille und Kindeswohl
(1) Aushandlungsmodell. Werden subjektiver Kindeswille-Begriff und subjekti-
ver Kindeswohlbegriff zusammengeführt, ergibt sich ein Zusammenhang, der
als „Aushandlungsmodell“ bezeichnet werden kann. Da weder für den Kindes-
willen noch für das Kindeswohl objektive Maßstäbe als geltend angenommen
werden können, treffen hier zwei unterschiedliche Perspektiven aufeinander,
die epistemologisch gleichwertig sind. Keine Perspektive kann beanspruchen,
erkenntnistheoretisch „höherwertiger“ oder der anderen „überlegen“ zu sein.
Die Perspektiven unterscheiden sich lediglich darin, dass hier entweder – wie es
oftmals formuliert wird – „kindzentrierte“ oder „erwachsenenzentrierte“ Maß-
stäbe zugrunde liegen. Anhänger dieses Modells sehen in dieser Verhältnisbe-
stimmung die Subjektperspektive des Kindes am besten aufgehoben.6Der Kin-
deswille wird nicht bewertet, sondern als eine eigenständige Perspektive be-
trachtet, die es nicht durch eine „Erwachsenenperspektive“ zu korrigieren oder
„aufzuklären“ gilt. Konfligieren nun die beiden Perspektiven miteinander, dann
muss zwischen diesen beiden Perspektiven vermittelt werden. Diese Vermitt-
lung wird im Sinne eines Verhandlungsmodells als Aushandlung begriffen, an
deren Ende ein pragmatischer Kompromiss stehen soll, der für alle Parteien zu-
friedenstellend ist.
151
Moral entweder verzweifelt in Handlungsunfähigkeit oder in Willkühr und Barbarei um“
(Pleines 1996: 171).
6 Andere wiederum sehen bereits in dem Kindeswohlbegriff die Kindzentrierung des Rechtsver-
fahrens: „Die Maxime des Kindeswohl verpflichtet das Gericht damit einerseits kindzentriert
zu denken und jeden Aspekt, der nicht ohnehin das Kind betrifft, auf seine Bedeutung und
Auswirkungen gerade für das Kindeswohl zu prüfen und entsprechend zu würdigen“ (Parr
2005: 8).
(2) Prioritätenmodell. Wird der subjektive Kindeswille-Begriff beibehalten aber
der objektive Kindeswohlbegriff übernommen, dann ergibt sich eine Verhält-
nisbestimmung, die als das „Prioritätenmodell“ bezeichnet werden kann. Hier
wird versucht, das Kindeswohl mit universaler Geltung zu bestimmen. Ein ob-
jektiver Kindeswohlbegriff liegt beispielsweise dann vor, wenn er an Vorstellun-
gen von universal gültigen Grundbedürfnisse, Entwicklungsbedingungen oder
Grundrechten des Kindes zurückgebunden wird. Prominentes Beispiel dafür ist
die Liste der Grundbedürfnisse von Thomas Brazelton und Stanley Greenspan
(2000), deren Buch in der deutschen Übersetzung bezeichnenderweise den Ti-
tel trägt: „Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern. Was jedes Kind braucht,
um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein“. Da im Prioritä-
tenmodell der Kindeswille subjektiv bestimmt wird als das, was sich das Kind
aktual wünscht, wird der Kindeswille stets vor dem Hintergrund des Kindes-
wohls beurteilt. Schadet der subjektive Kindeswille dem objektiven Kindes-
wohl, so genießt das Kindeswohl Priorität. Zwar kann (muss aber nicht) im
Rahmen des Prioritätenmodells behauptet werden, dass eine Zuwiderhandlung
gegen den subjektiven Kindeswillen oder auch nur dessen Missachtung dem
Kindeswohl schadet. In diesem Sinne wäre dann der subjektive Kindeswille Be-
standteil des Kindeswohls. Priorität kann aber der Kindeswille im Prioritäten-
modell nicht haben, weil er nicht an das objektiv „Vernünftige“ oder „Gute“
gebunden ist. Folglich muss der Kindeswille immer dann als irrelevant betrach-
tet werden, wenn er dem Kindeswohl zuwiderläuft. Entsprechend hat im
Rechtsverfahren der Richter „stets die Aufgabe, die Verträglichkeit der vom
Kind gewünschten Lösung mit seinem Wohl zu prüfen. In diesem Zusammen-
hang können es die Kindesinteressen auch rechtfertigen, von einem grundsätz-
lich nachvollziehbaren Kindeswillen abzuweichen“ (Parr 2005: 9f., Herv. d. A.).
In der Praxis geht es freilich weniger um stumpfe Ignoranz des Kindeswillen,
sondern man wird eher bemüht sein, den subjektiven kindlichen Willen durch
geeignete sozialpädagogische Zuwendung und Begleitung „umzustimmen“.
(3) Kongruenzmodell. Dem dritten Modell, welches als „Kongruenzmodell“ be-
zeichnet werden kann, liegt die Annahme zugrunde, dass Kindeswille und Kin-
deswohl gleichermaßen an „die Vernunft“ bzw. an „das Gute“ gebunden sind.
Einen Konflikt zwischen Kindeswille und Kindeswohl kann es deshalb nicht ge-
ben, weil sie ihrer Zielrichtung nach zusammenfallen. In diesem Modell kön-
nen sich – wenn man so will – Kinder und Erwachsene gleichermaßen irren:
das Kind kann in seiner Willensbildung „das Gute“ oder „das Vernünftige“
ebenso verfehlen, wie die Erwachsenen bei der Rekonstruktion des Kindes-
wohls. Den Fachkräften kommt nun die Aufgabe zu, in den Äußerungen des
Kindes das vernünftige Potential zu erkennen, ohne diese sogleich als „bloß“
subjektive, „unreife“ Wünsche zu disqualifizieren und dem Kinde vorschnell ei-
nen (in Graden) autonomen Willen abzusprechen. Liegt jedoch eine solche
„unreife“ oder „verzerrte“ Willensbekundung vor, etwa bei dem geäußerten
152
Wunsch nach Rückkehr zu den Eltern, die das Kind materiell und emotional
vernachlässigen, so muss aus der Perspektive des Kongruenzmodells angestrebt
werden, den Willen des Kindes „aufzuklären“, also zur Autonomie zu führen.
Diese Notwendigkeit der „Aufklärung“ des Kindeswillens ergibt sich aus der
Perspektive des Kongruenzmodells daraus, dass der Kindeswille nicht nur Aus-
druck der Selbstbestimmung des Kindes, sondern immer auch Ausdruck seiner
Bindung an die Bezugspersonen ist (vgl. Coester 1983). Daher kann der Kin-
deswille durch gefährdende Beziehungen zu diesen Bezugspersonen verzerrt
sein. Ob nun tatsächlich mit zunehmendem Reifegrad die Fähigkeit des Kindes
zunimmt, zu seinen Bindungen in reflexive Distanz zu treten und damit zur au-
tonomen Willensbildung zu gelangen, oder ob nicht auch Erwachsene ebenso
eingeschränkt zur „reflexiven Willensbildung“ fähig sind, ist eine empirische
Frage. Diese Frage muss aber empirisch gar nicht entschieden werden, um das
Kongruenzmodell zu vertreten. Entscheidend ist weniger die Annahme, dass
Kinder tendenziell noch nicht zur autonomen Willensbildung fähig sind, son-
dern der Anspruch, Kinder grundsätzlich davor zu bewahren, gravierende le-
benspraktische Entscheidungen zu treffen und für die Konsequenzen einzuste-
hen (vgl. Klenner 2006).7
(4) Rein formal betrachtet wäre im Rahmen der Systematisierungslogik wäre
eine vierte Position möglich: die Kombination des objektiven Kindeswille-Be-
griffs und des subjektiven Kindeswohlbegriffs. Diese Position kann aber kaum
sinnvoll vertreten werden, weil sie auf die absurde Position hinausliefe, den
Kindeswillen als an „das Gute“ oder „die Vernunft“ gebunden zu betrachten, es
aber gleichzeitig für unmöglich zu halten, objektiv vernünftige Maßstäbe für
das Kindeswohl anzugeben.
153
7 Das Kongruenzmodell findet Resonanz in dem so genannten „Wunschbefriedigungs-Ansatz“
(vgl. Murphy 1999) im Rahmen der Forschung zum „Wohlergehen“ (well-being). Dort be-
misst sich das Wohlergehen eines Menschen daran, in welchem Maße er die geistigen und so-
zialen Zustände erreicht, die er sich wünscht. Das Wohl wird hier nicht auf den Willen redu-
ziert. Es wird aber ein starker Zusammenhang zwischen Wohl und Wille postuliert. So hetero-
gen die einzelnen Varianten des Wunscherfüllungs-Ansatzes auch sein mögen, unstrittig ist
dort, dass ein Begriff von Wohlergehen, der auf Wünsche rekurriert, sich nicht auf die Befrie-
digung faktischer Wünsche bezieht, sondern auf die Befriedigung von Wünschen, die wir in
einer hypothetischen Situation ausbilden würden. Es handelt sich hierbei um ein methodi-
sches Verfahren zur Feststellung des Wohlbefindens. So wie sich bei Rawls „das Gerechte“ da-
durch bestimmen lässt, dass wir danach fragen, wie wir in einer hypothetischen Situation ent-
scheiden würden, bestimmt sich für die Vertreter des Wünscherfüllungs-Ansatz „das Gute“,
das wir für uns erstreben, daran, was wir uns in einer hypothetischen Situation wünschen wür-
den. Es geht hier also nicht um das, was wir uns faktisch wünschen sondern um das um das
Wünschenswerte. Da das Wünschenswerte nicht verstanden wird als das, was wir uns wün-
schen sollten, sondern als das, was wir uns wünschen würden, handelt es sich um einen Ansatz
der methodischen Annäherung an „das Gute“ oder „das Vernünftige“. Zur Rekonstruktion
der einflussreichen „desire-fulfillment theory“ vgl. Parfit (1984: 493ff.). Zur Kritik des dem
zugrunde liegenden Konstruktes einer abstrakten, „fleischlosen“ Person vgl. Sobel (1994) und
auch schon Sen (1985b: 191f.).
Gibt es ein überlegenes Modell?
Nun lässt sich nicht ohne weiteres zwischen diesen drei Modellen entscheiden.
Keiner Fassung des Verhältnisses zwischen Kindeswille und Kindeswohl ist evi-
dentermaßen der Vorzug zu geben. Es sollte Gegenstand weiterer Debatten
sein, welche Variante in Theoriebildung und Praxis zu bevorzugen ist. Ent-
scheidend ist aber, dass die hier modellierten Fassungen in der Diskussion strikt
voneinander geschieden werden.
Viele Debatten im Zusammenhang des Kindeswohls sind wohl darauf zu-
rückzuführen, dass auf Basis eines der drei Modelle Schlussfolgerungen kriti-
siert werden, die im Rahmen eines anderen Modells entstanden sind. Insofern
handelt es sich hier um Scheindebatten. So wird oftmals aus der Perspektive des
Aushandlungs- oder Prioritätenmodells ausgehend Vertretern des Kongruenz-
modells vorgeworfen, das Kind nicht in seinem Subjektstatus ernst zu nehmen.
Aus der Perspektive des dritten Modells wird aber das Kind gerade darin in sei-
ner Vernünftigkeit anerkannt, dass seine prinzipielle Fehlbarkeit ernst genom-
men wird.8
Umgekehrt wird aus der Perspektive des dritten Modells Vertretern des ers-
ten oder zweiten Modells vorgeworfen, das Kind lediglich als hedonistisches
Subjekt wahrzunehmen. Die Gleichsetzung des Kindeswillens mit dem vom
Kinde Gewünschten wird hier so verstanden, als würde das Kind stets nur nach
subjektivem Wohlbefinden streben ohne seine Wahl auch auf andere Maxime
als dem der Lust (Hedonismus) zu gründen.
Bemerkenswert ist, dass die Kritik am Missbrauch mit dem Kindeswillen und
-wohlbegriff auf alle drei Modelle bezogen worden ist. So werfen Kritiker dem
Kongruenzmodell vor, dass hier der Manipulation Tür und Tor geöffnet sei,
weil Erwachsene entschieden, was ein autonomer Wille sei und worin das Kin-
deswohl bestehe. Vertreter des Kongruenzmodells unterstellen freilich dem
Prioritätenmodell, hier würde nur fadenscheinig der Subjektstatus des Kindes
anerkannt. Faktisch würde jedoch stets gegen den geäußerten Willen des Kin-
des gehandelt werden müssen, was letztlich das Kind in seinem Autonomisie-
rungsbestreben grundlegend infrage stellt. Anhänger des Prioritätenmodells und
des Kongruenzmodells wiederum werfen den Vertretern des Aushandlungsmo-
dells vor, ohne jegliche Grundlage das Kind in eine Verhandlungssituation zu
führen, in der es bereits rein rhetorisch unterlegen sei. Überhaupt konzipiere
das Verhandlungsmodell die Beteiligten als gegnerische „Parteien“, die antago-
nistische Interessen vertreten. In Sorgerechts- und Familienstreitigkeiten gehe
es aber nicht um konstitutiv entgegen gesetzte Interessen, vergleichbar denen
154
8 Beispielsweise nimmt Rainer Balloff (2002), der offensichtlich auf Basis des Prioritätenmo-
dells argumentiert, die auf dem Kongruenzmodell fußende Position Wolfgang Klenners (vgl.
jetzt: Klenner 2006: 9) zum Beispiel dafür, dass „nunmehr offenbar bezweifelt [wird], dass es
einen kindlichen Willen gibt und ob man diesen zur Kenntnis nehmen und beachten sollte“
(Balloff 2002: 241).
des Käufers und Verkäufers, die um eine Ware feilschen. Die Modellierung
möglicher divergierender Sichtweisen zwischen den Eltern, dem Kind und den
Fachkräften als Aushandlung zwänge die Beteiligten daher erst in diesen anta-
gonistischen Interessenkonflikt und blende damit aus, dass es letztlich doch pri-
mär um das Wohl des Kindes gehe. Vertreter des Aushandlungsmodells schließ-
lich betrachten die Bindung des Urteils an „das Gute“ oder „das Vernünftige“
als metaphysischen Anachronismus und halten das Aushandlungsmodell für das
zeitgemäße Modell.
Es sollte deutlich geworden sein, dass keinem Modell prinzipiell der Vorrang
zu geben ist. Vor allem schützt kein Modell vor Missbrauch durch inkompeten-
te Fachkräfte, sei es durch Fachkräfte, die das Kind wie einen Geschäftspartner
betrachten und dem Kind in seiner Überforderung rhetorisch geschickt in den
Mund legen, was dann als Verhandlungsergebnis gilt (Aushandlungsmodell),
sei es durch Fachkräfte, die der Überzeugung sind „das Gute“ für alle Ewigkeit
erkannt zu haben und sich daher stets genötigt sehen, den Kindeswillen zu
ignorieren (Prioritätenmodell) oder den „wahren Willen“ aus dem Kinde he-
rauszukitzeln (Kongruenzmodell).
Für die weitere Debatte um das Kindeswohl ist es entscheidend, dass die kon-
zeptionellen Möglichkeiten aller drei Modelle ausgereizt werden. Nun stehen
aber gerade das Prioritätenmodell und das Kongruenzmodell unter dem Ver-
dacht, dem falschen Paternalismus (siehe dazu Oelkers/Steckmann/Ziegler
2007) das Wort zu reden, weil sie auf dem objektiven Kindeswohlbegriff fun-
diert sind.9Im Gegensatz zum Begriff des Kindeswillens wird der Kindeswohl-
begriff für schwer zugänglich gehalten. So heißt es, „[v]on beiden Begrifflich-
keiten, Kindeswohl und Kindeswille, ist letzter unproblematischer zu klären“
(Kotthaus 2006: 88), denn die „Schwierigkeit des Begriffes des Kindeswohls be-
steht darin, dass dieser, anders als der Kindeswille, keinen psychologischen Be-
griff, sondern ein hypothetisches, von einer Vielzahl schwer zu überschauern-
der, wechselwirkender Einzelfaktoren bestimmtes Konstrukt in verschiedenen
Gebrauchskontexten darstellt“ (Kotthaus 2006: 89). Im Folgenden soll daher
aufgezeigt werden, wie das Prioritätenmodell und das Kongruenzmodell durch
den Begriff des Wohlergehen fundiert werden kann.
Wohlergehen und das gute Leben
Der Begriff „Wohlergehen“ dient der Beurteilung einer Lebenspraxis in Hin-
blick auf das gute Leben. Alternative Hinsichten der Beurteilung wären etwa:
155
9 Bemerkenswert ist dabei, dass Vertreter des Aushandlungsmodells häufig implizit auf Annah-
men der beiden anderen Modelle zurückgreifen, ohne sich dem bewusst zu sein. Sie bekennen
sich zum Aushandlungsmodell in dem Glauben, dem Kinde damit die stärkste Subjektstellung
zukommen zu lassen, bedienen sich aber dann der Annahmen der alternativen Modelle, wenn
in der theoretischen Debatte oder in der praktischen Arbeit an Grenzen stoßen.
der Beitrag der Lebenspraxis für die Gesellschaft oder ihr Erfolg bei der Reali-
sierung bestimmter Handlungsziele (vgl. Sen 1993: 36) oder auch die Erfüllung
von Grundbedürfnissen. In der Jugendhilfe ist das Kindeswohl bislang vor al-
lem über Grundbedürfnistheorien fundiert und operationalisiert worden. Weil
aber Grundbedürfnistheorien sich aber an Subsistenzbedingungen orientieren,
führt die Beschränkung auf solche Größen dazu, dass reale Freiheiten und
Möglichkeiten der Lebensführung in den Blick geraten. Grundbedürfnistheo-
rien zielen ausschließlich auf realisierte Zustände (actual achievement), nicht auf
Möglichkeiten (freedom to achieve) (vgl. Sen 1992: 31ff.; vgl. auch Heinrichs
2004).
Dieser Fokus auf reale Freiheiten nimmt dagegen im Befähigungsansatz einen
zentralen Stellenwert ein. Amartya Sen (1985b) unterscheidet zwischen der
Freiheit, zielgerichtet zu Handeln (agency freedom), der Freiheit, Wohlergehen
anzustreben (well-being freedom), dem Erreichen von gesteckten Zielen (agency
achievement) und Erreichen von Wohlergehen (well-being achivement).10 Mit
dem „zielgerichteten Handeln“ und dem „Wohlergehen“ sind zwei Aspekte von
Lebenspraxis bezeichnet, die nicht aufeinander reduziert werden können. Im
Begriff des zielgerichteten Handelns ist der Mensch thematisch, der handelnd
in die Welt eingreift, wertend Stellung nimmt und sich begründet Handlungs-
ziele setzt, die er verwirklichen will. Mit dem Begriff des Wohlergehens geht es
um den Menschen, dem etwas in der Welt widerfährt, der von ihr profitiert
oder unter ihr leidet (Sen 1985b: 208). „Wohlergehen“ ist dabei nicht als egois-
tische Orientierung misszuverstehen. Das Wohlergehen kann sich durchaus aus
der Hinwendung zu Dingen oder anderen Menschen ergeben. So kann es mir
wohlergehen, wenn ich meinen Mitmenschen helfe oder mich für eine gute Sa-
che einsetze. Solche Tätigkeiten tragen dann indirekt zu meinem Wohlergehen
bei (vgl. Sen 1993: 36).
Die Maximierung von Wohlergehen ist häufig ein wichtiges Handlungsmo-
tiv, jedoch lediglich nur eines unter vielen anderen (vgl. Sen 1985a: 14ff.;
1985b: 186ff.). Zwar liegt in der Regel das Wohlergehen im Horizont der der
persönlichen Handlungsziele – wir setzten uns das Ziel, Wohlergehen durch
unser Handeln zu verwirklichen. Aber unsere Handlungsziele müssen nicht
notwendigerweise zu unserem Wohlergehen beitragen. So kann ich mir zum
Ziel setzten, anderen Menschen zu helfen oder mich für eine gute Sache einzu-
setzen, auch wenn sich dies nicht auf mein Wohlergehen auswirkt. Menschli-
ches Handeln ist oft auch durch deontologische Forderungen, wie der Pflicht
gegenüber anderen, motiviert. Damit können meine Handlungsziele sogar mei-
nem Wohlergehen zuwiderlaufen. Wenn ich in dem Moment, in dem ich (etwa
aus religiösen oder gesundheitlichen Gründen) faste, leide, dann laufen meine
Handlungsziele meinem Wohlergehen entgegen (vgl. Sen 1985b: 201). Auch
im künstlerischen oder politischen Engagement, bei dem ich große persönliche
156
10 Zu dieser Übersetzung von „agency“ durch Pauer-Studer vgl. Sen (2000: 221f.).
Entbehrungen aufnehmen muss, laufen meine Handlungsziele meinem Wohl-
ergehen entgegen. Die Lebenspraxis kennt zustände wie „kreative Unmut“ oder
„schöpferische Unzufriedenheit“ (Sen 1999: 31). Wohlergehen ist insofern le-
diglich ein erstrebenswerter Aspekt von Lebenspraxis von vielen anderen. Es
wäre reduktionistisch, menschliches Handeln so zu konzipieren, als sei es
grundsätzlich auf die Steigerung des Wohlbefindens gerichtet.11 Wenn aber
menschliches Handeln auch auf andere Dinge als Wohlbefinden gerichtet ist,
dann ist Wohlergehen bestenfalls ein Indikator der subjektiven Konzeption des
guten Lebens. Wohlergehen bezeichnet lediglich, wie glücklich eine Person mit
bestimmten Aspekten ihrer Lebenspraxis ist, nicht aber, ob es ein gutes Leben
ist und nicht einmal ob die Person selbst dies für ein gutes Leben hält.12
Für das „gute Leben“ spielen viel mehr Dinge eine Rolle als Wohlergehen.
Wenn Vanille-Eis auf meiner Präferenzskala hinsichtlich Wohlergehen an
höchster Stelle rangiert, dann wird dieses Wohlbefinden nicht notwendig da-
durch eingeschränkt, wenn keine anderen Eis-Sorten als Vanilleeis angeboten
werden – aber meine Freiheit ist dadurch eingeschränkt (vgl. dazu Sen 1985a:
14f.). Es braucht daher eine umfassende Konzeption von Wohlergehen, die die-
sem Umstand Rechnung trägt, dass wir die Freiheit wertschätzen, zwischen
(nicht-trivialen) Handlungsalternativen entscheiden zu können (vgl. Sen
1985b: 202). Wir sollten daher Konzeptionen von Wohlergehen im Sinne von
„Wohlbefinden“ als unmittelbare Wunscherfüllung unterscheiden von einem
umfassenden Begriff von Wohlergehen, der den Wert menschlicher Freiheit
mit einbezieht.
Handlungsfreiheit ist also zum einen notwendige (aber nicht hinreichende)
Bedingung, um Wohlergehen zu erreichen. Ohne die Freiheit zu zielgerichtetem
Handeln kann ich nicht die Dinge tun, die mein Wohlergehen fördern. Zum
anderen ist – für einen umfassenden Begriff von Wohlergehen – Handlungs-
freiheit zugleich Selbstzweck. Handlungsfreiheit hat einen instrumentellen Wert
und ist zugleich Selbstzweck für menschliches Wohlergehen.
157
11 So wird etwa im Utilitarismus methodisch von der Annahme ausgegangen, dass menschliches
Handeln grundsätzlich durch Nutzenmaximierung motiviert ist. Diese Nutzenmaximierung
wird dann in der klassischen Spielart des Utilitarismus als Grad der Befriedigung von Wün-
schen konzipiert. Rational ist eine Handlung, die individuelle Wünsche maximal befriedigt
(vgl. Sen 1999: 96f.). Deontologische Handlungen werden dann oftmals ebenfalls als Nutzen-
maximierend konzipiert. Es ist aber wenig überzeugend, die Erfüllung einer Pflicht als durch
die Steigerung von Wohlbefinden motiviert zu betrachten, wenn der Akteur das selbst nicht so
sieht (vgl. Sen 1977).
12 Anderenfalls müssten Wittgensteins letzte Worte: „Sag ihnen, daß es wunderbar war!“ ange-
sichts eines schweren, leidvollen Lebens als Alterswahn interpretiert werden (vgl. Seligman/
Royzman 2003).
Kinder- und Jugendhilfe als Menschwerdungshilfe
Aus der Perspektive des Befähigungsansatzes hat Jugendhilfe zu gewährleisten,
dass alle Kinder und Jugendlichen ein soziales Minimum an Chancen bekom-
men, ihr Wohlergehen zu verwirklichen (vgl. auch Schrödter 2007). Denn aus
dem GG lässt sich ableiten, dass zusätzliche Angebote in der Kinder- und Ju-
gendhilfe zur Verfügung zu stellen sind, im Sinne der Schaffung von „Ermögli-
chungsbedingungen zur effektiven Wahrnehmung des Elternrechts“ und als
„Menschwerdungshilfe“ (Jean d’Heur 1987: 11). Praktisch bleibt der Einfluss
von Eltern auf die Sozialisationschancen von Kindern maßgeblich, weil der
Staat unterhalb der Gefährdungsschwelle des Kindeswohls nicht in die verfas-
sungsrechtlich geschützte elterliche Erziehung eingreift. Ein von oder für Kin-
der einklagbares „Recht auf Erziehung“ gibt es nicht, wohl aber eine Legitima-
tion, die über die rechtlichen Grundlagen hinausweist: So nennt etwa Martha
Nussbaum (1999) substanzielle Eigenschaften, die Menschen erst zu Menschen
machen: Die Fähigkeit, sich Gedanken zu machen, die Fähigkeit, auf die An-
sprüche anderer zu antworten oder die Fähigkeit zu handeln oder sich zu ent-
scheiden. Ausgehend von den essentiellen Bestandteilen eines guten mensch-
lichen Lebens gelangt Nussbaum zur Bestimmung eines Sets von interdepen-
denten Grundbefähigungen, auf deren Ermöglichung jede Person Anspruch
habe und die als central human capabilities in der sogenannten Nussbaum-Liste
aufgeführt sind (Nussbaum 2006: 76ff.). Die Grundbefähigungsliste kann als
Grundlage zur Einschätzung dessen dienen, inwiefern die öffentliche Aufgabe
erfüllt wird, „jedem Bürger die materiellen, institutionellen sowie pädagogi-
schen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihm einen Zugang zum guten
menschlichen Leben eröffnen und ihn in die Lage versetzen, sich für ein gutes
Leben und Handeln zu entscheiden“ (Nussbaum 1999: 24).
Öffentliche Aufgabe wäre also in erster Linie für die Ermöglichungsbedin-
gungen zur Ausbildung von Fähigkeiten zu sorgen, nicht aber die Realisierung
bestimmter Fähigkeiten durchzusetzen. Auf der (legitimatorischen und hand-
lungsethischen) Grundlage des Capability Approach sind das gesellschaftlich zu
fördernde Gut die Befähigungen (capabilities) und nicht die sogenannten Funk-
tionen (functionings) selbst, weil anderenfalls kein Freiheitsspielraum für die un-
terstützten Personen entstünde, ihr eigenes Leben zu führen (Sen 1992: 39ff.;
Nussbaum 1999: 86ff.). Die Entscheidung für die Realisierung eines bestimm-
ten Funktionenprofils bleibt Sache der Individuen. Mit Blick auf diesen Unter-
schied besteht Martha Nussbaum darauf, dass sich politische Maßnahmen, z. B.
im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe, auf Befähigungen und nicht auf die
konkreten Funktionen von Kindern und Jugendlichen zu beziehen haben.
Zwar manifestiere sich das gute Leben in Form real verwirklichter Funktions-
weisen, „nichtsdestoweniger ist es mit Blick auf politische Zwecksetzungen an-
gemessen, dass wir auf die Befähigungen zielen – und nur darauf [...]. Selbst
dann, wenn wir uns sicher sind zu wissen, worin ein gedeihliches Leben besteht
158
und dass eine spezifische Handlungs- und Daseinsweise hierin eine bedeutende
Rolle spielt, sind wir respektlos gegenüber Menschen, wenn wir sie in diese
Funktionsweise zwängen“ (Nussbaum 2000: 87f.).
In der Perspektive des Befähigungsansatzes wird das Maß an vorliegender Au-
tonomie nicht daran bemessen, inwieweit individuelle Wünsche der AdressatIn-
nen Befriedigung erfahren (Nussbaum 2000, 2006). Das Bild ist weitaus kom-
plexer: mit einbezogen ist die Struktur und Breite des sozialwissenschaftlich er-
forsch- und bestimmbaren materiell, kulturell und politisch-institutionell struk-
turierten Raums gesellschaftlicher Möglichkeiten sowie dessen Beziehung zum ak-
teursbezogenen Raum der individuellen Fähigkeiten. Beide zusammen bestim-
men die objektiven Chancen der AdressatInnen, aus der Menge potentieller
Optionen jene wählen und verwirklichen zu können, für die aus der Sicht ihrer
eigenen Konzeption eines guten Lebens gute Gründe sprechen. Der effektive
Beitrag zur Erhöhung der in dieser Form beschreibbaren Verwirklichungschan-
cen von AdressatInnen ist dann der Maßstab zur Bewertung der Ziele und
Maßnahmen Sozialer Arbeit.
Aus dem Befähigungsansatz folgt, dass es nicht in den Zuständigkeitsbereich
der Professionellen fällt, welche Konzeption des guten Lebens die AdressatIn-
nen zu entwerfen und zu verwirklichen trachten. Aus diesem liberalen Grund-
satz ist jedoch keineswegs auf eine einseitige Ausrichtung an den subjektiven
Wünschen zu schließen. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive betrach-
tet, wäre eine solche Ausrichtung mit dem Problem der „adaptiven Präferen-
zen“ konfrontiert.13 Die Arbeiten von Pierre Bourdieu – und in Deutschland
die der ForscherInnen um Michael Vester (vgl. Vester 2001) – haben immer
wieder empirisch beschrieben, in welchem Ausmaß die vermeintlich authenti-
schen Wünsche und Interessen von Individuen von dem Platz im sozialen
Raum determiniert sind, an den das Individuum ohne sein Zutun gesetzt ist:
„Der Geschmack“, schreibt Bourdieu „bewirkt, dass man hat, was man mag,
weil man mag, was man hat, nämlich die Eigenschaften und Merkmale, die ei-
nem de facto zugeteilt und durch Klassifikation de jure zugewiesen werden“
(Bourdieu 1979: 285f.). Eine umstandslose Orientierung an manifesten Präfe-
renzen läuft dementsprechend Gefahr, die im empirischen Sinne ungleiche und
unter moralischen Gesichtspunkten häufig ungerechte Struktur des sozialen
Raums schlicht zu reproduzieren. Mit Blick auf die typischen AdressatInnen
der Sozialen Arbeit bedeutet dies häufig die Reproduktion von Miserabilität.
159
13 Zum Begriff der adaptiven Präferenzen siehe Elster 1982, vgl. Sen 1985 und Nussbaum 2000:
111ff.
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Chapter
Full-text available
Der Begriff ‚Frühe Hilfen‘ kennzeichnet ein koordiniertes und multiprofessionelles Unterstützungssystem auf kommunaler Ebene von Beratungs-, Bildungs- und Unterstützungsangeboten für (werdende) Eltern und Familien mit Kindern mit einem Altersschwerpunkt von 0 bis 3 Jahren. Die Angebote zielen auf eine alltagspraktische Unterstützung von Familien sowie auf die Förderung der elterlichen Beziehungs-, Erziehungs- und Versorgungskompetenzen. Der vorliegende Beitrag zeigt die zentralen Entwicklungslinien der Netzwerke und Angebote Früher Hilfen bis zum heutigen Umsetzungsstand. Darüber hinaus werden wesentliche theoretische Ansätze und Bezüge Früher Hilfen sowie aktuelle Forschungsbefunde dargelegt. Die abschließend skizzierten aktuellen Herausforderungen nehmen insbesondere auf die Diskussionen um den Kinderschutz- und den Präventionsbegriff Bezug und bieten darüber hinaus Perspektivenerweiterungen.
Chapter
Full-text available
Im Beitrag wird das Verhältnis von Familie und Kindeswohl diskutiert und unter rechtlichen, historischen und theoretischen Perspektiven auf Normierungen von Familienverantwortung hingewiesen, die über die Begriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung an Familien adressiert werden. In rechtlichen Argumentationen lässt sich zeigen, dass sich Gefährdungen und die Sicherungen des Kindeswohls in der Spannung staatlicher, familialer und kindlicher Interessen bewegen. Außerhalb rechtlicher Rahmungen überspannt das Kindeswohl Perspektiven des Wohlfahrtsstaats bis hin zu persönlichen Vorstellungen ‚guter Elternschaft‘ und ‚gelingenden Aufwachsens‘.
Thesis
Full-text available
Das ungleiche Aufwachsen von Kindern, etwa in Bezug auf Bildung oder Gesundheit, bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Zur Auseinandersetzung mit dieser Ungleichheit wird der Lebenszusammenhang ‚Familie’ mit seinen sozial-strukturell geprägten Lebensbedingungen und der sozialen Eingebundenheit in den Blick genommen. Die Netzwerke, in die Familien eingebunden sind, können gleichzeitig soziale Ungleichheit abbilden und sie weiter fortschreiben (bzw. verringern); u. a. in dem sie die Situation des Aufwachsens prägen. Diese doppelte Verschränktheit wird im Verlauf der Arbeit mit den Ansätzen von Habitus und Sozialkapital nach Bourdieu (2012) theoretisch verankert. In der vorliegenden Arbeit wird weiterhin das Einflusspotenzial von Netzwerken, über eine ihrer zentralen Funktionen – das Leisten sozialer Unterstützung – beleuchtet. Vor diesem Hintergrund bietet es für die Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit (und dem Anspruch sozialer Gerechtigkeit) Chancen, den Blick auf die sozialen Netzwerke von Familien zu richten. Bislang liegen jedoch nur wenige Erkenntnisse über die Eingebundenheit von familiären Zusammenhängen in weitere soziale Bezüge vor. Auch die Frage, wie Eltern diese Netzwerke wahrnehmen und Veränderung sowie Stabilität darin erleben, ist bisher noch wenig untersucht. Die vorliegende Dissertation arbeitet daher heraus, wie Eltern in Beziehungsnetze eingebunden sind und wie sie die darin erfahrene Unterstützung erleben. Außerdem verfolgt die Arbeit die Entwicklung familiärer Beziehungsnetze über einen langfristigen Zeitraum, um mögliche Veränderungen sowie deren Wahrnehmung nachvollziehen zu können. Auf dieser Grundlage werden dann Ableitungen getroffen, wie die Eingebundenheit gestaltet sein sollte, um negative Einflüsse (institutionalisierter) Unterstützungsleistungen und konstellationen zu vermeiden und positive Entwicklungsräume zu schaffen.
Chapter
In diesem Beitrag bildet das Verfassungsrecht die Quelle für die Untersuchung einer gesellschaftlichen Konstruktion des Typus Kind. In Anlehnung an Alfred Schütz (1971) werden Recht und Gesetz als institutionalisierte Konstruktionen von gesellschaftlich bewährten Verhaltensmustern verstanden. Daran anknüpfend wird im folgenden Text aufgezeigt, dass über die verfassungsrechtliche Konstruktion des Kindes als Grundrechtsträger mit besonderer Hilfs- und Schutzbedürftigkeit ein Paternalismus sowie weitreichende Bestimmungsbefugnisse durch Eltern und Staat legitimiert werden. Diese und weitere Konstruktionen des Verfassungsrechts werden mit den Befunden aus der Kindheitssoziologie und -forschung diskutiert. Abschließend werden die Möglichkeiten und Herausforderungen für die Praktiken und Praxen des sozialpädagogischen Kinderschutzes resümiert, deren demokratische Legitimität auf der verfassungsrechtlichen Ordnung beruht.
Book
Diese Studie widmet sich der Grundfrage der Politischen Philosophie nach der richtigen Beschaffenheit der grundlegenden gesellschaftlichen und politischen Institutionen, ihre methodische Problemstellung besteht in der Verbindung von philosophischen und ökonomischen Theorieperspektiven. Das Buch vollzieht eine kritische Analyse der wichtigsten klassischen und modernen Ansätze dazu und überführt diese Kritik in einen konstruktiven Entwurf, der wesentlich auf die Theorie der Grundbefähigungen zurückgreift. Dieses auf Amartya Sen und Martha Nussbaum zurückgehende Konzept knüpft die Legitimation eines Staatswesens an die Bedingung, dass es jedem seiner Bürger ein bestimmtes Minimum an realen Lebensmöglichkeiten garantiert oder zumindest um dessen Garantierung bemüht ist. Die Hauptthese des Buches lässt sich so zusammenfassen, dass die Frage 'Equality of what?' für den modernen Sozialstaat weder mit dem Konzept eines für alle garantierten Nutzenminimums noch mit dem Konzept eines für alle garantierten Mindesteinkommens beantwortet werden kann, sondern mit dem Konzept eines garantierten Minimums an Grundbefähigungen, d. h. an realen Lebensoptionen, über die ein Individuum verfügen kann.
Chapter
Amartya Sen (1933–) was born and educated in India before completing his doctorate in economics at Cambridge University. He has taught in India, England, and the United States and is currently the Lamont University Professor at Harvard University. He is one of the most widely read and influential living economists. His books have been translated into more than thirty languages. In 1998, he was awarded the Nobel Price in Economics for his work on welfare economics, poverty and famines, and human development. He has also made major contributions to contemporary political philosophy. In this essay, he proposes that alternatives be appraised by looking to the capabilities they provide for individuals rather than only by individual utilities, incomes, or resources (as in commonly used theories). Introduction Capability is not an awfully attractive word. It has a technocratic sound, and to some it might even suggest the image of nuclear war strategists rubbing their hands in pleasure over some contingent plan of heroic barbarity. The term is not much redeemed by the historical Capability Brown praising particular pieces of land – not human beings – on the solid real-estate ground that they ‘had capabilities’. Perhaps a nicer word could have been chosen when some years ago I tried to explore a particular approach to well-being and advantage in terms of a person's ability to do valuable acts or reach valuable states of being.
Book
In this major book Martha Nussbaum, one of the most innovative and influential philosophical voices of our time, proposes a kind of feminism that is genuinely international, argues for an ethical underpinning to all thought about development planning and public policy, and dramatically moves beyond the abstractions of economists and philosophers to embed thought about justice in the concrete reality of the struggles of poor women. Nussbaum argues that international political and economic thought must be sensitive to gender difference as a problem of justice, and that feminist thought must begin to focus on the problems of women in the third world. Taking as her point of departure the predicament of poor women in India, she shows how philosophy should undergird basic constitutional principles that should be respected and implemented by all governments, and used as a comparative measure of quality of life across nations.
Article
There are, in our view, three types of traditional theories of happiness. Which one you believe has implications for how you lead your life, raise your child, or even cast your vote. Hedonism Theory First, there is Hedonism. In all its variants, it holds that happiness is a matter of raw subjective feeling. A happy life maximizes feelings of pleasure and minimizes pain. A happy person smiles a lot, is ebullient, bright eyed and bushy tailed; her pleasures are intense and many, her pains are few and far between. This theory has its modern conceptual roots in Bentham's utilitarianism (Bentham, 1978), its contagion in Hollywood entertainment, its grossest manifestation in American consumerism, and one of its most sophisticated incarnations in the views of our fellow positive psychologist, Danny Kahneman, who recently won the Nobel Prize in economics. His theory must wrestle with an important question: Whose life is it anyway, the experiencer or the retrospective judge of pleasure? Consider the following scenario: researchers beep people at random during the day, ask how much pleasure or pain a person is experiencing right now (the Experience Sampling Method, ESM), and extrapolate to an approximate total for the experienced happiness over the week. They also ask the same people afterwards "how happy was your week?" The retrospective summary judgment of happiness often differs greatly from the extrapolated total of experienced happiness. Remember your last vacation? "Yes, it was great!" you might say, even though if beeped during it, the mosquitoes, the traffic, the sunburn, and the overpriced food might gainsay your summary judgment. At the hands of an experimental psychologist, hedonism becomes a methodological commitment: your "objective happiness" for a given time period is computed by adding up your on-line hedonic assessments of all the individual moments that comprise that period. This computed aggregate of "experienced utility" becomes the criterion of truth about how genuinely happy your vacation (your childhood, your life) should be taken to be. On this view, the experiencer is always right. If the experiencer and the retrospective judge disagree, so much the worse for the judge. One basic challenge facing a hedonist is that when we wish someone a happy life (or a happy childhood, or even a happy week), we are not merely wishing that they accumulate a tidy sum of pleasures, irrespective of how this sum is distributed across one's life-span or its meaning for the whole (Velleman, 1991). We can imagine two lives that contain the same exact amount of momentary pleasantness, but one life tells a story of gradual decline (ecstatic childhood, light-hearted youth, dysphonic adulthood, miserable old age) while another is a tale of gradual improvement (the above pattern in reverse). The difference between these lives is a matter of their global trajectories and these cannot be discerned from the standpoint of its individual moments. They can only be fathomed by a retrospective judge examining the life-pattern as a whole.