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Brücken bauen, statt einreißen! Introspektion der quantitativ-empirischen Sonderpädagogik zur Ermöglichung einer inter- und transdiskursiven Zusammenarbeit

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Michael Grosche
Brücken bauen, statt einreißen!
Introspektion der quantitativ-empirischen
Sonderpädagogik zur Ermöglichung einer inter-
und transdiskursiven Zusammenarbeit
Zusammenfassung: Gegenwärtig verläuft innerhalb der wissenschaftlichen
Sonderpädagogik ein kontraproduktiver Diskurs, der sich v. a. durch die Ab-
wertung bestimmter Zugänge zu unserer Disziplin auszeichnet und das Po-
tential besitzt, diese nachhaltig zu schädigen. Anstatt fremde Zugänge aus der
Außensicht abzuwerten, um einen Diskurs zu erzwingen, möchte ich, als eine
konstruktive Methode einer inter- und transdiskursiven Kooperation, meinen
eigenen Zugang zur Disziplin kritisieren. Im vorliegenden Artikel stelle ich
an meinen eigenen Zugang der quantitativ-empirischen Sonderpädagogik drei
methodologische Fragen, um Aufgaben und Grenzen dieses Zugangs heraus-
zuarbeiten sowie um Missverständnissen gegenüber quantitativ-empirischen
Methoden vorzubeugen und wieder in einen konstruktiven Diskurs zu gelan-
gen. Eine solche Introspektion erfolgt im Vertrauen darauf, dass dieser ers-
te Stein des Brückenbauens von anderen Zugängen zukünftig produktiv und
nicht als Wurfgeschoss genutzt wird.
1 Der Diskurs gegen die quantitativ-empirische
Sonderpädagogik
1.1 Einleitung
Seit kurzem ist ein intensiver kritischer Diskurs zwischen verschiedenen wis-
senschaftlichen Zugängen innerhalb der Disziplin Sonderpädagogik entbrannt,
der bislang nur zu einem kleinen Teil öffentlich in Form von Publikationen und
zu einem größeren Teil nicht öffentlich innerhalb des eigenen Zugangs geführt
wird. Die Deprivatisierung dieses Diskurses, insbesondere durch die Tagung
der Sektion Sonderpädagogik der DGfE in Paderborn 2016, begrüße ich da-
her sehr. Erst wenn wir miteinander reden, können wir den Diskurs verstehen,
interpretieren und bewerten sowie die Sonderpädagogik als wissenschaftliche
Disziplin gemeinsam weiterentwickeln.
Im Kern dreht sich der Diskurs um die normative Auslegung des Geltungs-
und Aufgabenbereichs der Sonderpädagogik als wissenschaftliche Disziplin.
Wie jede wissenschaftliche Disziplin unterliegt auch unsere Disziplin einem
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ständigen Wandel. Das offensichtlichste Anzeichen dieses Wandels ist das
rasante Wachstum der empirischen Sonderpädagogik. Wo neue Zugänge ent-
stehen oder intensiviert werden, entsteht immer Klärungsbedarf über deren
Geltungs- und Aufgabenbereich. Mit dem vorliegenden Artikel möchte ich zu
einer solchen Klärung beitragen, ohne den Anspruch zu erheben, den Diskurs
lösen zu können. Erstens plädiere ich für eine stärkere und explizitere Tren-
nung verschiedener wissenschaftlicher Aussageebenen, die eben nur teilweise
von der quantitativ-empirischen Sonderpädagogik bespielt werden können.
Zweitens zeige ich, dass quantitativ-empirische Daten nur ein einziger Bau-
stein in einem wissenschaftlichen Argument sind und daher weitere Bausteine
notwendig sind. Drittens diskutiere ich, wie das Zusammenspiel von Theorie
und Daten im quantitativ-empirischen Zugang funktioniert und weshalb Daten
niemals für sich selbst sprechen können. Insgesamt versuche ich durch diese
Introspektion zu zeigen, wie die quantitativ-empirische Sonderpädagogik sich
öffnen könnte, um inter- und transdisziplinäre Kooperationen zu ermöglichen.
Hierdurch erhoffe ich mir, dass einige der Missverständnisse gegen das quanti-
tativ-empirische Arbeiten innerhalb der Sonderpädagogik ausgeräumt werden
können und somit eine Versachlichung des Diskurses stattnden kann.
1.2 Welcher Diskurs ist gemeint?
In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich sehr rasant eine empirische Bil-
dungsforschung etabliert (Aljets 2015; Terhart 2012), gegen die viel Kritik von
Seiten der eher geisteswissenschaftlich geprägten Erziehungswissenschaft ge-
äußert wird. Beispielsweise wird beklagt, dass mit der empirischen Bildungs-
forschung bestimmte Themen, Theorien und Methoden wegzufallen drohen
und andere hingegen zu stark würden, dass Traditionen vergessen würden und
dass immer mehr Professuren fachfremd besetzt würden (Terhart 2012). Diese
und ähnliche Kritikpunkte werden nun auch der empirischen Sonderpädagogik
vorgeworfen (z. B. Ahrbeck, Ellinger, Hechler, Koch & Schad 2016). Sie ent-
zündet sich aber nicht an der gesamten empirischen Sonderpädagogik, sondern
vor allem an der quantitativ ausgerichteten und ihrem vermeintlich erhöhten
Geltungsanspruch, wie er der sogenannten evidenzbasierten Sonderpädagogik
zugeschrieben wird. Daher steht die quantitativ-empirische Sonderpädagogik
im Zentrum dieses Diskurses.
Diskurse sind im Anschluss an Habermas rationale Argumentationen über
unter anderem problematisch gewordene Geltungsansprüche einer Disziplin.
Dabei können wissenschaftsexterne von wissenschaftsinternen Aspekten des
Diskurses unterschieden werden (Terhart 2012). Wissenschaftsinterne As-
pekte eines Diskurses beziehen sich beispielsweise auf inhaltliche und fach-
liche Ideen und Argumente sowie deren Überzeugungskraft oder Attraktivi-
tät. Nach Habermas ermöglichen wissenschaftsinterne Aspekte eine rationale,
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„herrschaftsfreie“ und rein argumentative Verständigung über problematische
Geltungsansprüche. Bei wissenschaftsexternen Aspekten geht es hingegen um
Macht, Eigeninteressen und Deutungshoheiten, Ressourcen, Denominationen
und Berufungen, Zuweisungen von Credit Points in Studiengängen sowie Be-
stimmungen und Monopolisierungen von Lehrinhalten. Im Gegensatz zu wis-
senschaftsinternen Aspekten gefährden diese wissenschaftsexternen Aspekte
den rationalen Diskurs und somit die Weiterentwicklung von Wissenschaft
(Terhart 2012).
Der Diskurs innerhalb der Sonderpädagogik gegenüber der quantitativ-empiri-
schen Sonderpädagogik bezieht sich sowohl auf wissenschaftsexterne Aspekte
(z. B. Ellinger 2016) als auch auf wissenschaftsinterne Aspekte (z. B. Dederich
& Felder 2016), während versöhnliche diskursive Stimmen nur vereinzelt ge-
äußert werden (Lindmeier 2017). Gerade die wissenschaftsexternen Aspekte
werden gegenwärtig sehr lautstark geführt und bestehen meist aus einer Ab-
wertung von anderen Zugängen und der Aufwertung des eigenen Zugangs.
Teilweise wird sogar versucht, bestehende Brücken zwischen verschiedenen
Zugängen innerhalb der Sonderpädagogik einzureißen bzw. deren Bau zu ver-
hindern. Sicherlich ist es einfach, den Kontrahentinnen und Kontrahenten der
anderen Zugänge ihre jeweiligen Unzulänglichkeiten vorzuwerfen. Fraglich
ist indes, ob dadurch tatsächlich eine Weiterentwicklung unserer Disziplin an-
gestoßen wird, oder ob eher eine Eskalation droht, in der sich die „Fronten“
mehr und mehr verhärten.
Statt sich jedoch immer weiter zu beschädigen, sollte man „die Kriegs- und/
oder Untergangsmetaphorik bzw. umgekehrt jeden Triumphalismus hinter sich
lassen, aktuelle Einzelbewegungen nicht überbewerten und sich ansonsten
um möglichst hohe Qualität seiner [eigenen] wissenschaftlichen Arbeit bemü-
hen. Daran bemisst sich der Wert von Wissenschaft, nicht an aufwendigen
Schanzarbeiten oder spektakulären Feldzügen“ (Terhart 2012, 36). Mit dem
vorliegenden Beitrag möchte ich zu dieser Erhöhung der Qualität der quanti-
tativ-empirischen Forschung in der Sonderpädagogik beitragen. Dabei bemü-
he ich mich, nur wissenschaftsinterne Aspekte des Diskurses zuzulassen und
wissenschaftsexterne Aspekte möglichst außer Acht zu lassen. Ich hoffe, dass
dieser Text als ein Baustein von anderen aufgenommen und erweitert wird, um
gemeinsam Brücken aufeinander zuzubauen.
1.3 Vorschläge für Methoden der inter- und transdiskursiven
Kooperation
Dederich (2013) bezog sich in seinen Ausführungen zu einer „Philosophie in
der Heil- und Sonderpädagogik“ auf die Begriffe Interdiskursivität und Trans-
diskursivität, ohne diese explizit zu denieren. Mein Begriffsverständnis hier-
zu lässt sich folgendermaßen spezizieren: Während ich mit Interdiskursivi-
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tät grenzüberschreitende Diskurse zwischen den Zugängen meine, deniere
ich Transdiskursivität als grenzverändernde Diskurse der Zugänge. Inter- und
transdiskursive Methoden haben das Potential, die Grenzen der jeweiligen Zu-
gänge zu überwinden und zu verändern und so zu einer Weiterentwicklung der
Sonderpädagogik beizutragen.
Zu den Voraussetzungen einer wissenschaftsinternen Inter- bzw. Transdiskur-
sivität zählen z. B. die Anerkennung, dass niemand für sich eine überlegene
Position bezüglich der erhobenen oder zugeschriebenen Geltungsansprüche
reklamieren kann, die gegenseitige Wertschätzung und Verständigungsbereit-
schaft, ein kritisches Bewusstsein der eigenen Methoden sowie die Anerken-
nung der Gebundenheit des wissenschaftlichen Erkennens an normative und
methodische Bedingungen (Dederich 2013). Wer sich dem anderen Zugang
überlegen fühlt, wird wohl kaum zu einer Weiterentwicklung der Sonderpäda-
gogik beitragen, sondern nur seinen eigenen Zugang tradieren („früher war al-
les besser“). Wer sich hingegen für andere Zugänge öffnet, gewinnt wichtiges
Innovationspotential für unsere Disziplin.
Wie jedoch solche Diskurse besonders konstruktiv geführt werden können, ist
bislang unklar. Daher möchte ich unter anderem folgende Methoden einer wis-
senschaftsinternen Inter- bzw. Transdiskursivität vorschlagen:
Dekategorisierung: Hinterfragen eigener kategorialer und damit vereinfa-
chender Zuschreibungen gegenüber anderen Zugängen
Heterogenisierung: Wahrnehmung der Vertreterinnen und Vertreter anderer
Zugänge als heterogene Gruppe
Falsikation: Aktive Suche nach Beispielen in anderen Zugängen, die mit
der eigenen Interpretation inkompatibel sind
Übereinstimmung: Aktive Suche von Gemeinsamkeiten in eigenen und an-
deren Zugängen
Best practice: Analyse der bestmöglichen (statt schwachen) Ausprägung der
anderen Zugänge
Introspektion: Kritische Reexion der Schwächen des eigenen Zugangs
Ich vermute, dass diese wissenschaftsinternen Methoden stärker zur Weiter-
entwicklung unserer Disziplin beitragen können als machtdiskursive Mittel
dies könnten. Im vorliegenden Artikel möchte ich exemplarisch die Metho-
de der Introspektion nutzen. Mit Introspektion meine ich die „Innenschau“,
also Selbstbeobachtung und Bewusstwerdung. Die grundlegende Idee dieser
Introspektion ist, dass die hohe Komplexität eines Zugangs besonders konkret
durch eine Vertreterin bzw. einen Vertreter dieses Zugangs durchschaut, inter-
pretiert und kritisiert werden kann. Unsere jeweiligen Zugänge haben inzwi-
schen eine so hohe Komplexität erreicht, dass die Kritik an anderen Zugängen
sehr häug unzulänglich und daher teilweise unzutreffend sein wird. Mit an-
deren Worten kann erst durch die Kritik des eigenen Zugangs etwas kritisiert
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werden, das man auch wirklich versteht. Erst dadurch ergeben sich die ersten
Bausteine der Brücke auf den anderen zu, erst dadurch werden wir die andere
Seite besser verstehen (Interdisziplinarität) und unsere eigenen Grenzen bear-
beiten (Transdiskursivität).
Durch die Introspektion möchte ich drei methodologische Fragen an meinen
eigenen Zugang zur quantitativ-empirischen Sonderpädagogik richten. Ich
habe diese drei Fragen ausgewählt, da sie im Diskurs häuger gestellt werden.
Jedoch ist deren Auswahl weder erschöpfend, noch möchte ich behaupten,
dass diese Fragen die drängendsten Fragen an die quantitativ-empirische Son-
derpädagogik sind. Zudem kann ich mögliche Antworten auf die drei Fragen
aus Platzgründen nur skizzieren.
2 Methodologische Frage 1: Woher kommen die
normativen Ziele der quantitativ-empirischen
Sonderpädagogik?
2.1 Drei wissenschaftstheoretische Aussageebenen und ihre unzulässige
Vermischung
Ein Problem im gegenwärtigen Diskurs sehe ich in der unzulässigen Vermi-
schung von ethisch-moralischen Werturteilen und objektsprachlichen Sach-
aussagen (Opp 2014). Diese unzulässige Vermischung wurde seit langem auch
in der Sonderpädagogik diskutiert (z. B. Schlee 1985). Trotzdem scheint sich
der gegenwärtige Diskurs m. E. an dieser wichtigen Unterscheidung zwischen
Werturteilen und Sachaussagen zu radikalisieren.
Ethisch-moralische Werturteile sind normative Aussagen der Art, dass etwas
sein soll / darf / muss bzw. nicht sein soll / darf / muss (auch wenn diese
Wörter in Werturteilen so nicht benutzt werden müssen). Beispielsweise ist
die normative Aussage „In der inklusiven Schule soll es […] keinerlei Eti-
kettierungen von Menschen mehr geben und deshalb auch keinen sonderpä-
dagogischen Förderbedarf mehr“ (Ahrbeck & Fickler-Stang 2015, 257) ein
solches Werturteil, das keine Entsprechung in der Realität haben muss. Für die
„Richtigkeit“ der Aussage ist es irrelevant, ob eine solche Dekategorisierung
bereits umgesetzt oder vielleicht gar nicht umsetzbar ist, ob sie sogar falsch
umgesetzt ist, oder ob sie zu unerwünschten Nebenwirkungen führt. Diese
Aussage bezieht sich alleine auf eine Norm und wird daher als Normation
bezeichnet. Hingegen sind objektsprachliche SachaussagenAussagen der Art,
wie etwas beschaffen ist. Beispielsweise ist die Aussage „Innerhalb von zehn
Jahren hat sich der Anteil [inklusiv beschulter Kinder und Jugendlicher mit
sonderpädagogischen Förderbedarfen] im Bundesdurchschnitt mit inzwischen
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22,2% beinahe verdoppelt und markiert gleichzeitig einen neuen Höchststand“
(Dietze 2012, 28) eine Sachaussage. Für die „Richtigkeit“ der Aussage ist es
irrelevant, ob diese Zahl schon als zu hoch oder als noch zu niedrig bewertet
wird, und ob als Ziel Inklusion oder der Ausbau eines exkludierenden Förder-
schulsystems angestrebt wird.
Sachaussagen können weiter in Deskription und Präskription unterteilt wer-
den. Die Dreiteilung in Normation, Deskription und Präskription geht in der
Sonderpädagogik auf Klauer (1977, zitiert nach Kanter 2007) zurück und wird
bis heute wiederholt aufgegriffen (Bless 2003; Haeberlin 2003; Kanter 2007;
Klauer & Leutner 2012). Werturteile beziehen sich in unserer Disziplin meist
auf Begründungen und Reexionen von normativen Richtungen von Erzie-
hungshandeln (Normation). Sachaussagen können sich erstens auf die Erfas-
sung, Beschreibung und Durchdringung der momentanen Erziehungswirklich-
keit beziehen (Deskription). Zweitens können Sachaussagen den Status von
Handlungstheorien oder Handlungsvorschlägen haben (Präskription).1 Bei-
spielsweise kann die sonderpädagogische Forschung analysieren und begrün-
den, welche Ziele eine sonderpädagogische Lehrkraft anstreben sollte (Norma-
tion), welche Einüsse von Schule, Lehrkräften und Schülerschaft sein oder
ihr Handeln beeinussen (Deskription) sowie welche Methoden von Lehrkräf-
ten eingesetzt werden könnten, um diese Ziele in den vorgegebenen Bedingun-
gen möglichst zielstrebig zu erreichen (Präskription). Alle drei Aufgaben sind
aufeinander bezogen. So gibt es kein Erziehungshandeln (Präskription) ohne
Erziehungsziel (Normation) sowie keine Beschreibung der Erziehungswirk-
lichkeit (Deskription) ohne Impulse für Zielsetzungen sonderpädagogischen
Handelns (Normation).
Die Entscheidung, zu welcher wissenschaftstheoretischen Aussagenebene eine
wissenschaftliche Aussage gehört, ist schwer und misslingt häuger. Zudem
passiert es, dass Aussagen so formuliert sind, als gehören sie einer anderen
Ebene an, was einen Fehlschluss darstellt. Ich möchte im Folgenden ein Bei-
spiel für einen solchen Fehlschluss anführen und beschränke mich aus Platz-
gründen nur auf Beispiele für die Vermischung von Präskription und Norma-
tion.
„Wenn Lehrkräfte die Intelligenz und die Schulleistungen ihrer lernschwachen
Schülerinnen und Schülern fördern möchten, könnten sie dazu das Training
des induktiven Denkens nach Klauer verwenden.“ Diese präskriptive Aussa-
ge wird durch zahlreiche empirische Studien gestützt (Klauer 2014). Jedoch
wird die Aussage des Öfteren formuliert oder verstanden als: „Um die Intelli-
genz und die Schulleistungen von lernschwachen Schülerinnen und Schülern
1 Diese Unterteilung ist nicht zu verwechseln mit der Unterteilung von deskriptiver Statistik und
Inferenzstatistik. Deskriptive Aussagen können sehr gut mit inferenzstatistischen Methoden ge-
troffen werden, wie in späteren Beispielen gezeigt wird.
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zu fördern, sollten Lehrkräfte das Training des induktiven Denkens verwen-
den.“ Oder: „Lehrkräfte sollten die Intelligenz und die Schulleistungen von
lernschwachen Schülerinnen und Schülern fördern.“ Der vermeintlich feine
Unterschied zwischen könnten und sollten bezieht sich auf die unzulässige
Vermischung von normativen und präskriptiven Aussagen. Das Wort könnten
bezieht sich auf eine präskriptive Sachaussage: Wenn Lehrkräfte auf eine be-
stimmte Art handeln, dann sind diese und jene Auswirkungen wahrscheinlich.
Ob Lehrkräfte aber so handeln sollten, ist ein von dieser Aussage unabhängi-
ges normatives Werturteil.
Zur Verdeutlichung möchte ich ein sowohl drastisches als auch rhetorisches
Gedankenexperiment durchführen: Angenommen eine empirische Studie
würde die präskriptive Aussagen stützen, dass die körperliche Züchtigung
von Schülerinnen und Schülern mit einem Rohrstock zu effektiverem Lernen
führt, sollten Lehrkräfte dann wirklich den Rohrstock wieder einführen? Setzt
man präskriptive und normative Aussagen unzulässig gleich, müsste man diese
Frage wohl bejahen. Erst durch die explizite Trennung wird erkannt, dass aus
einem positiven empirischen Befund keinerlei normative Handlungsaussagen
gewonnen werden dürfen.
2.2 Das Verhältnis von empirischen Daten zu den drei Aussageebenen
Aus dem oben Gesagten folgt, dass die empirische Untersuchung normativer
Aussagen unmöglich ist. Demnach besitzt die empirische Sonderpädagogik
keine eigenständigen Methoden, normative Aussagen zu bearbeiten. Daher
„importieren“ Empirikerinnen und Empiriker häug normative Vorstellungen
von außerhalb des empirischen Felds (z. B. Literatur, Bedürfnisse, Gesetze,
Drittmittelausschreibungen), was ihr häug zum Vorwurf der Auftragsfor-
schung gereicht. Hingegen besitzt die empirische Sonderpädagogik einen
reichhaltigen Methodenpool, um präzise deskriptive oder präskriptive Aussa-
gen zu treffen. Insbesondere die quantitativ-empirische Sonderpädagogik be-
sitzt viele solcher Werkzeuge. Diese Werkzeuge enthalten eine anspruchsvol-
le, aber grundsätzlich nachvollziehbare und damit intersubjektiv-nachprüfbare
Methodologie sowie präzise Beschreibungen von Bewährungskriterien und
klare Regeln zur Entscheidungsndung, z. B. zur Annahme oder Ablehnung
von Hypothesen. Die mathematische Sprache dieser Werkzeuge zwingt die
Forschenden geradezu, eindeutige und operationalisierbare Aussagen zu tref-
fen. Daher sind viele Aussagen, die aus der quantitativ-empirischen Sonderpä-
dagogik stammen, verhältnismäßig konkret.
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Wertungen (Kriterien /
Vorurteile / Ideologien):
Wertbasis der Wissenschaft
Themenwahl
Objektsprachliche Aussagen
(Sachaussagen der empirischen
Wissenschaft)
Wertungen
als Gegenstand
objektsprachlicher
Aussagen
Ethik der Forschung
Wirkungen – die positiv oder
negativ bewertet werden
Abb. 1: Die Rolle von Werten in der Wissenschaft (adaptiert nach Opp 2014, 241)
Jedoch sind Werturteile bzw. normative Aussagen auch in empirischen Arbei-
ten relevant (siehe Abbildung 1). In Zentrum von Abbildung 1 steht einge-
rahmt das primäre Ziel von empirischer Forschung, nämlich das Aufstellen
oder Prüfen von deskriptiven oder präskriptiven Sachaussagen. Jedoch wer-
den diese Sachaussagen durch zahlreiche Normen umrahmt. Beispielsweise
müssen Forscherinnen und Forscher sich zur Erforschung für eines von vie-
len Themen entscheiden. Diese Themenwahl ist zwar kein Werturteil im oben
denierten Sinne, aber Wertungen bzw. die Wertbasis sind Gründe der The-
menwahl. Wertungen können auch Gegenstand objektsprachlicher Aussagen
werden, beispielsweise wenn normative Einstellungen der Bevölkerung zu
Inklusion erforscht werden. Auch muss die Forschungsmethode selbst ethisch
vertretbar sein. Ferner müssen Forschende sowohl die intendierten Wirkun-
gen ihrer Ergebnisse als auch die nicht-intendierten (und damit potentiell oder
tatsächlich schädigenden) Nebenwirkungen im Blick haben, die wiederum be-
wertet werden müssen.
Anders als die Sachaussagen selbst kann deren normatives Umfeld durchaus
normativ bewertet werden (Opp 2014). Erstens kann das Ziel einer präskripti-
ven Handlungstheorie ethisch-moralisch kritisiert werden (Soll / darf man ein
bestimmtes Ziel erreichen?). Zweitens kann die präskriptive Handlungstheorie
als solche ethisch-moralisch kritisiert werden (Soll / darf man eine bestimmte
Maßnahme zur Erreichung eines bestimmten Ziels einsetzen?). Beispielsweise
wird einem Steuerungsmodell von Inklusion namens response-to-intervention
(Grosche & Volpe 2013; Huber & Grosche 2012) häug vorgeworfen, des-
sen Anwendung würde die Anerkennung und Inklusion aller Schülerinnen und
Schüler gefährden (Hinz 2013). Diese Kritik ist legitim, führt zu testbaren em-
pirischen Hypothesen und ist damit zur Weiterentwicklung wünschenswert.
Es wird auch kritisiert, dass response-to-intervention nur das Ziel der Leis-
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tungsförderung aber nicht das Ziel des Wohlbendens aller Akteure fokussiere.
Auch diese Kritik ist legitim und wünschenswert und lässt sich empirisch tes-
ten. Es wird jedoch auch behauptet, man dürfe response-to-intervention nicht
als Inklusion bezeichnen. Diese Kritik ist illegitim, da sie sich ausschließlich
auf ein globales Werturteil über ein präskriptives Handlungsmodell bezieht,
ohne testbare Hypothesen zu generieren („normative Leerformel“ nach Opp
2014). In response-to-intervention sind zahlreiche Aufgaben von Akteuren in
der Inklusion beschrieben. Vereinzelt wird dem Modell nun vorgeworfen, dass
diese Aufgaben nicht so wie beschrieben sein sollten. Auch dieser Vorwurf ist
unsinnig. Das Modell selbst enthält keine normativen Aussagen. Stattdessen
könnte die testbare Hypothese aufgestellt werden, dass eine andere an sich
wertfreie Präskription bestimmte normativ begründete Ziele von Inklusion
besser erreichen könnte.
2.3 Implikationen für die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit
Zusammenfassend sehen wir, dass empirisches Forschen zwar nicht frei von
Werten ist, aber das Zentrum der empirischen Forschung trotzdem wertfrei
ist. Haeberlin (2003, 2016) schlug für die wissenschaftliche Sonderpädago-
gik wiederholt vor, empirisch wertfrei aber trotzdem wertgeleitet zu forschen.
Damit ist gemeint, dass sonderpädagogische Forschung sowohl Werturteile
als auch Sachaussagen treffen sollte, diese aber wie im hier vorgeschlagenen
Sinne unabhängig voneinander explizieren sollte. Der empirischen Forschung
vorgeordnet gehören hierzu z. B. die forschungs- und interpretationsleitenden
Wertentscheidungen sowie die Soll-Vorstellungen und Visionen, die der Aus-
wahl z. B. von Forschungsfragen zugrunde liegen. Der empirischen Forschung
nachgeordnet sind z. B. die Beurteilung der Ergebnisse durch Bezug auf die
normativen Vorstellungen, die Ideologie- und Gesellschaftskritik am eigenen
Forschungsprozess sowie Entscheidungen über zukünftiges praktisches und
politisches Handeln.
Für unseren Diskurs wäre es sicherlich zielführend, wenn wir diese Ratschlä-
ge von Haeberlin (2003, 2016) konsequenter als bisher befolgen. Ich möchte
daher vorschlagen, dass wir in unseren Texten die drei Aussageebenen präzise
und explizit voneinander trennen sollten (Normation). Ich stelle die Hypothe-
sen auf, dass eine solche Trennung bislang zu selten erfolgt (Deskription), dies
zu Missverständnissen und nicht-zielführenden Diskursen beiträgt (Deskrip-
tion), aber die bessere Trennung der Aussageebenen viele Missverständnisse
reduzieren sowie konstruktive Diskurse ermöglichen könnte (Präskription).
Auch wenn es trivial erscheinen mag, müssen wir uns wieder vergewissern,
dass die Zugänge zu unserer Disziplin nicht verfeindet nebeneinander stehen,
sondern immer aufeinander angewiesen sind. Die quantitativ-empirische Son-
derpädagogik wäre ohne Normen orientierungslos; und gesellschaftskritische
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Aussagen werden sicherlich umso stärker gehört, je bessere empirische Ar-
gumente sie aufnehmen. Und die quantitativ-empirischen Aussagen könnten
sicherlich davon protieren, ihre Wertebasis bzw. ihr Wertumfeld normativ zu
begründen.
3 Methodologische Frage 2: Welchen Status haben
quantitative Ergebnisse in wissenschaftlichen
Argumenten?
3.1 Ein Strukturmodell wissenschaftlicher Argumente
In der empirischen Sonderpädagogik sind deskriptive und präskriptive Aussa-
gen einfache oder komplexe Sätze, die sich auf empirische Daten beziehen. Es
stellt sich die Frage, ob solche Aussagen schon alleine ein wissenschaftliches
Argument sind, ob also die Daten gewissermaßen „für sich“ sprechen, oder
ob Daten nur ein Teil eines wissenschaftlichen Arguments sind. Falls Daten
nur ein Teil eines wissenschaftlichen Arguments sind, was sind dann die ande-
ren Teile? Und sind empirische Daten die einzige legitime Ausprägung dieses
Teils eines wissenschaftlichen Arguments?
Booth, Colomb und Williams (2008) stellen eine (übrigens präskriptive) The-
orie eines wissenschaftlichen Arguments auf (siehe Abbildung 2). Ein wissen-
schaftliches Argument beginnt mit einer präzisen und eindeutigen Behauptung
(Claim), die theoretisch begründet wird (Reason). Diese theoretische Begrün-
dung wird auf Evidenz2 gestützt (Evidence). Um das wissenschaftliche Ar-
gument möglichst überzeugend zu gestalten, werden antizipierte Rückfragen,
Einsprüche oder weitere Erklärungsansätze diskutiert und nach Möglichkeit
zurückgewiesen (Acknowledge). Beispielsweise kann behauptet werden, dass
Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen häuger
durch ihre Klassenkameradinnen und Klassenkameraden abgelehnt werden
(Claim), weil in unserem gegenwärtigen Schulsystem viele Lehrkräfte Anders-
artigkeit und geringe Leistungen eher negativ bewerten, ihre Lernenden diese
negative Bewertung übernehmen und daher Kinder mit Beeinträchtigungen
eher ablehnen (Reason). Diese Vermutung wurde experimentell bestätigt, da
in einer Studie Schulkinder andere (in der Studie hypothetische) Kinder eher
negativ bewerteten, wenn ein Erwachsener ein negatives Feedback zu diesen
Kindern gab (Huber, Gebhardt & Schwab 2015) (Evidence). Sicherlich kann
die Ablehnung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischen För-
derbedarfen auch daran liegen, dass die Mittelschichtsinstitution Schule Kin-
2 Booth et al. (2008) beziehen sich, wie noch zu zeigen sein wird, mit dem Begriff Evidenz nicht
auf das Konzept der Evidenzbasierung.
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der aus soziokulturell und sozioökonomisch schwachen Familien systematisch
benachteiligt, und viele Kinder mit Förderbedarfen (v. a. im Lernen) eben aus
solchen Familien stammen (Koch 2007). Wie groß die jeweiligen Einüsse
sind und wie sie sich gegenseitig beeinussen, ist jedoch noch unklar (Ack-
nowledge).
Abb. 2: Struktur eines wissenschaftlichen Arguments (Booth u. a. 2008).
In diesem präskriptiven Modell wird empirischen Ergebnissen die Rolle zu-
gewiesen, sie seien dann am überzeugendsten, wenn sie nicht als das wissen-
schaftliche Argument selbst gelten oder die wissenschaftliche Behauptung
direkt stützen, sondern wenn sie die theoretischen Begründungen für die wis-
senschaftliche Behauptung stützen. Diese Einordnung impliziert, dass quan-
titativ-empirische Daten an sich kein wissenschaftliches Argument sind. Sie
können jedoch Evidenz für eine theoretische Begründung sein, die in einem
wissenschaftlichen Argument verwendet wird. Daten stehen also nicht „für
sich selbst“, und sie überzeugen nur durch ihre Einbettung in wissenschaftli-
che Behauptungen und ihre theoretischen Begründungen.
3.2 Arten und Kriterien von Evidenz
Auf den ersten Blick (siehe Fußnote 2) könnten einige Leserinnen und Leser
vermuten, dass die sogenannte evidenzbasierte Sonderpädagogik (Hillenbrand
2015; Nußbeck 2014) unter den Begriff der Evidence aus dem Modell von
Booth u. a. (2008) fällt. Diese Vermutung ist jedoch falsch. Die Autoren zäh-
len folgende Arten von Evidenz auf, wobei ihre Aufzählung sicherlich nicht
erschöpfend gemeint ist: Wörtliche Zitate aus Briefen / Tagebüchern / Mo-
nograen / Gedichten etc., Anekdoten / Erzählungen / Beschreibungen von
Objekten / Abbildungen / Ereignissen, Photographien / Videograen / Filmen
/ Zeichnungen / Aufnahmen von Objekten / Ereignissen, Tabellen / Graphen /
Diagramme / verbale Beschreibungen von quantitativen Daten. Diese Auis-
tung kann beispielsweise durch Fallarbeiten, Gleichnisse oder Gedankenexpe-
rimente u. v. m.. ergänzt werden. Quantitativ-empirische Daten in Form von
Tabellen, Graphen, Diagrammen, Statistiken und Inferenztests sind nur eine
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einzige Art der Evidenz für eine theoretische Begründung eines wissenschaft-
lichen Arguments.
Verschiedene Disziplinen und Zugänge bevorzugen bestimmte Arten von Evi-
denz. Dieser Habitus erschwert natürlich die Kommunikation zwischen den
Disziplinen und Zugängen, denn jede Disziplin entscheidet für sich, welcher
Art von Evidenz sie „vertraut“. Booth u. a. (2008) postulieren, dass Evidenz in
ihrem disziplinübergreifenden Modell umso vertrauensvoller (und damit umso
überzeugender) zur Unterstützung einer theoretischen Behauptung ist, je mehr
spezische Kriterien sie erfüllt. Je akkurater, präziser, relevanter, genügender,
repräsentativer und authoritativer Evidenz ist, desto zuverlässiger ist sie zur
Unterstützung einer theoretischen Behauptung (Booth u. a. 2008). Das Kri-
terium Akkuratheit ist dann erfüllt, wenn Evidenz unverzerrt aus der Quel-
le berichtet wird. Präzision meint genaue und spezische Evidenz. Relevanz
meint, dass die Evidenz für die theoretische Begründung bedeutsam sein muss.
Genügend bezieht sich darauf, dass häug eine kleine Evidenz nicht ausreicht
(beispielsweise ein einzelnes Zitat aus einer einzigen Quelle). Repräsentativ
meint die nicht-selektive Auswahl der Evidenz, die die insgesamt vorhande-
ne Evidenz angemessen repräsentieren soll. Authoritativ bezieht sich auf die
Glaubwürdigkeit der Quelle.
Quantitativ-empirische Daten unterschieden sich nun von anderen Evidenz-
Arten v. a. durch eine sehr hohe Präzision. Präzision meint hier allerdings nicht
Messgenauigkeit, denn selbstverständlich können präzise Zahlen völlig feh-
lerbehaftet sein. Mit Präzision ist hier ausschließlich ihre Beschreibung durch
mathematische Zahlen gemeint, denn Zahlen sind viel präziser zu interpretie-
ren als beispielsweise Beschreibungen. Vergleichen wir die folgenden Aussa-
gen: „Lehrkräfte bewerten ihre diagnostische Kompetenz auf einer Skala von 1
(schlecht) bis 6 (sehr gut) im Mittel mit 5,72“ versus „Lehrkräfte bewerten ihre
diagnostische Kompetenz als sehr gut“. Wahrscheinlich werden verschiedene
Personen die erste Aussage ähnlicher beurteilen als die zweite Aussage. Aber
sind präzisere Evidenz-Arten auch automatisch akkurater, relevanter, genü-
gender, repräsentativer und authoritativer? Offensichtlich nicht, denn die Zahl
5,72 könnte z. B. völlig unrepräsentativ sein, weil dutzende andere Studien das
genaue Gegenteil gezeigt haben. Sie könnte auch wenig authoritativ sein, weil
ich bloß meine drei Nachbarinnen gefragt habe, die zufällig Lehrkräfte sind.
Eine präzise Zahl erfüllt damit nur eine Bedingung zur Unterstützung der theo-
retischen Begründung. Andere nicht-quantitative Evidenz-Arten könnten trotz
einer geringeren Präzision sehr viel relevanter oder repräsentativer als quan-
titativ-empirische Daten sein. Daraus folgt, dass quantitativ-empirische Daten
keine grundsätzliche Überlegenheit über andere Evidenz-Arten beanspruchen
können, weshalb Empirie und Theorie immer wechselseitig abhängig sind.
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Brücken bauen, statt einreißen!
3.3 Implikationen für die inter- und transdiskursive Zusammenarbeit
Es kann festgehalten werden, dass quantitative Daten (genauer gesagt Berichte
über quantitative Daten z. B. in Form von Tabellen, Statistiken, Graken oder
Diagrammen) lediglich eine Art eines Bausteins eines wissenschaftlichen Ar-
guments sind, nämlich eine Art der Evidenz als empirisches Argument für eine
theoretische Begründung für eine wissenschaftliche Behauptung in einem wis-
senschaftlichen Argument. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Neben dieser
Art von Evidenz gibt es zahlreiche weitere Evidenz-Arten. Die quantitativ-
empirische Sonderpädagogik hat damit keinen höheren Geltungsanspruch als
andere Zugänge zur Disziplin.
Normativ arbeitende Gesellschaftskritikerinnen und –kritiker könnten nun die
theoretischen Begründungen ihrer wissenschaftlichen Behauptungen unter
anderem mit geeigneten Daten als empirisches Argument (Evidenz) stützen
und so ein überzeugendes wissenschaftliches Argument konstruieren. Hierbei
könnten quantitativ-arbeitende Kolleginnen und Kollegen unterstützen, um
die hohe Komplexität vieler inferenzstatistischer Analysen so aufzubereiten,
dass sie als überzeugende Evidence in einer normativen wissenschaftlichen
Behauptung überzeugen. Quantitative Empirikerinnen und Empiriker könnten
normative Aussagen als Evidenz für die Wichtigkeit ihrer Forschungsthemen
und Variablen verwenden oder versuchen, normativ aufgeladene Konstrukte
präziser zu beschreiben. Hierbei könnten normativ-arbeitende Kolleginnen
und Kollegen unterstützen, um die normativen Aussagen aus den sprachlich
häug hochkomplexen Texten so zu konkretisieren, dass die Aussagen für em-
pirische Forschung anknüpfungsfähig werden.
Zu einer inter- und transdiskursiven Zusammenarbeit gehört auch, dass die
immer komplexeren inferenzstatistischen Methoden, die für immer weniger
Personen selbst innerhalb der quantitativ-empirischen Sonderpädagogik ver-
ständlich sind, in Aussagen „übersetzt“ werden, die auch mit weniger Vorwis-
sen verständlich sind. Auf der anderen Seite könnten die häug umfangreichen
und extrem komplexen geisteswissenschaftlich geschriebenen Texte mindes-
tens in Fazitkapiteln so expliziert und präzisiert werden, dass ihre zentralen
Aussagen anknüpfungsfähig für die empirische Forschung werden. Ich be-
haupte, dass die für eine inter- und transdiskursive Zusammenarbeit verständ-
liche Aufbereitung quantitativ-empirischer Befunde bzw. komplexer dichter
geisteswissenschaftlicher Texte kein leichtes Unterfangen ist und daher eine
intra- und transdiskursive Kooperation indiziert ist.
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Michael Grosche
4 Methodologische Frage 3: Wie gelangt man von
sprachlich-formulierten Theorien zu quantitativen
Daten und wieder zurück?
4.1 Sechs Ebenen der quantitativ-empirischen Forschung und ihre
Eigenschaften
Theorien sind sprachlich formuliert, die quantitativen Daten bestehen jedoch
aus Zahlen. Welche Regeln sind zu befolgen, um aus einer Theorie abzuleiten,
welche quantitativen Daten zu erheben sind, und um von den quantitativen
Daten zurück auf die Theorie zu schließen? Zur Beantwortung dieser Fragen
eignet sich z. B. das wissenschaftstheoretische Modell der Ableitungen und
Rückschlüsse von Hager (2004). In diesem Modell werden sechs verschiedene
Ebenen unterschieden: (1) Theorie, (2) inhaltliche Hypothese, (3) inhaltliche
Vorhersage, (4) statistische Vorhersage, (5) statistische Hypothese, (6) quan-
titative Daten. Auf der allgemeinsten Ebene bendet sich die verbal formu-
lierte Theorie. Eine Theorie ist eine nicht-falsizierbare Entität und kann als
solche nicht empirisch geprüft werden (Hager 2004). Daher werden aus der
Theorie inhaltliche Hypothesen abgeleitet, die ebenfalls verbal und noch im-
mer allgemein formuliert sind und die Theorie nur noch in einem Ausschnitt
repräsentieren. Aus dieser inhaltlichen Hypothese werden konkrete inhaltliche
Vorhersagen abgeleitet, die sich auf die erwarteten Ergebnisse in einer konkre-
ten Untersuchungssituation beziehen, sollte die Theorie korrekt sein. Daraus
ergibt sich wiederum die statistische Vorhersage, die die erwarteten Ergebnisse
auf konkreter Variablenebene speziziert. Daraus kann dann eine statistische
Hypothese erzeugt werden, beispielsweise dass sich Mittelwerte zweier Vari-
ablen signikant unterscheiden oder dass zwei Variablen signikant zusam-
menhängen.
Die Eigenschaften der Ebenen sowie die Ableitungen zwischen den Ebenen
offenbaren die Grenzen quantitativen Forschens. Eine Theorie ist eine deskrip-
tive oder präskriptive allgemeingültige Gesetzesaussage. Inhaltliche Hypo-
thesen und Vorhersagen sind empirische Aussagen über eine Beziehung von
nicht-beobachtbaren Variablen. Statistische Vorhersagen und Hypothesen sind
empirische Aussagen über eine Beziehung von beobachtbaren Variablen. Jede
der Ebenen ist immer und ohne Ausnahmen probabilistisch formuliert und mit
einer sogenannten ceteris-paribus-distributionibus-Klausel (CPD-Klausel)
versehen (Hager 2004). Probabilistisch meint, dass die Aussagen nur im Mit-
tel und nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gelten. In der quantitativen
Forschung gibt es daher so gut wie keine deterministischen sondern immer
nur probabilistische Aussagen. Die CPD-Klausel meint, dass die Aussagen
der Theorien, Hypothesen und Vorhersagen nur gelten, wenn keine anderen
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Einüsse als die theoretisch betrachteten Einüsse auf die Situationen wir-
ken. Die CPD-Klausel ist in jeder quantitativen Aussage enthalten, wonach die
Aussage nur gilt, wenn alle anderen Einüsse gleichzeitig unwirksam sind. Da
ein solcher Fall niemals zutreffen wird, ist jede Aussage in der quantitativen
Forschung eine starke Vereinfachung der Realität. Daraus folgt auch, dass em-
pirische Daten und ihre darauf basierenden Theorien immer vorläug, unvoll-
ständig und teilweise falsch sind.
Beide Einschränkungen von empirischen Aussagen, also die probabilistische
Formulierung und die CPD-Klausel, könnten für einige Kritikerinnen und Kri-
tiker der quantitativ-empirischen Sonderpädagogik sehr ungewohnt klingen,
während sie in meinem eigenen Zugang vermutlich kein Erstaunen auslösen.
Häug sind die Aussagen der quantitativ-empirischen Forschung wie deter-
ministische Gesetzesaussagen formuliert, obwohl jede quantitative Forscherin
und jeder quantitative Forscher automatisch und ohne darüber nachdenken zu
müssen beide Einschränkungen gleich mitdenkt. In quantitativen Aussagen
drückt sich bereits auf der untersten Ebene immer ihre Wahrscheinlichkeit
(z. B. p = ,03) und ihr Ausmaß der Einschränkung der Realität (z. B. d = ,34
oder r = ,74) aus. Beispielsweise wird die quantitative Aussage, Schülerin-
nen und Schüler mit Verhaltensproblemen haben vermehrt Probleme mit der
Hausaufgabenerledigung, automatisch dadurch relativiert, dass die empirisch
ermittelte Effektstärke d = ,84 (Grosche, Hennemann & Grünke 2010) impli-
zit ausdrückt, dass diese Aussage nur im Mittel zutrifft, die Schülerinnen und
Schüler mit und ohne Verhaltensprobleme keine homogenen Gruppen darstel-
len und sich deutliche Überschneidungen zwischen beiden heterogenen Grup-
pen ergeben.
4.2 Ableitungen und Rückschlüsse zwischen den sechs Ebenen der
quantitativ-empirischen Sonderpädagogik
Die Ableitungen bzw. Rückschlüsse zwischen den sechs Ebenen sind eben-
falls voraussetzungsreich. In der folgenden Abbildung 3 nach Hager (2004)
ist abgetragen, wie viele von der zu prüfenden Theorie bzw. Hypothese unab-
hängige Zusatzannahmen und sogenannte Hilfshypothesen in die Ableitungen
eingehen. Für Rückschlüsse von Daten auf die Theorie gilt eine ähnlich hohe
Komplexität.
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Michael Grosche
Theorie
Hintergrundwissen und Hilfshypothesen
Inhaltliche Hypothese
Inhaltliche Vorhersage
Statistische Vorhersage
Statistische Hypothese
Empirische Daten
Hintergrundwissen und Hilfshypothesen
Anwendungsvoraussetzungen für Theorie & Hypothese
Konkretisierungen und Skalenniveau
Versuchsplan inklusive Art der Bedingungsvariation
Vollständige Spezifikation der Untersuchungssituation
Sicherung der Ableitungsvalidität
Hintergrundwissen und Hilfshypothesen
Anwendungsvoraussetzungen
Skalenniveau
Sicherung der Ableitungsvalidität
ggf. Festlegung der Entscheidungsregel
Planbarkeit der statistischen Tests
Hintergrundwissen und Hilfshypothesen
ggf. Zerlegung der statistischen Vorhersage
Entscheidungsregeln
Planbarkeit der statistischen Tests
Planung der statistischen Tests
Durchführen der Studie
Abb. 3: Ableitungskette von inhaltlichen Theorie zu empirischen Daten, modiziert nach Hager
(2004).
An dieser Stelle kann die Ableitungskette aus Platzgründen nicht vollständig
erklärt werden (siehe hierzu Hager 2004). Für mein Argument ist lediglich rele-
vant, dass weder die Theorien in empirische Daten noch die empirischen Daten
in Theorien logisch überführbar sind. Stattdessen können die Ableitungen und
Rückschlüsse nur durch ebenenfremdes Hintergrundwissen und Hilfshypothe-
sen, Anwendungsvoraussetzungen, Konkretisierungen, Untersuchungspläne,
vollständige Spezikationen der Untersuchungssituationen, Festlegungen von
Entscheidungsregeln etc. erfolgen.
Beispielsweise speziziert die Interaktionstheorie des funktionalen Analpha-
betismus (Grosche 2013), dass sich das Phänomen funktionalen Analphabe-
tismus im Erwachsenenalter trotz Schulbesuch im Kindes- und Jugendalters
weder durch soziale Bildungsbenachteiligungen noch durch spezielle Beein-
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trächtigungen im Schriftspracherwerb alleine ergibt, sondern dass beide Facet-
ten (Bildungsbenachteiligung und Beeinträchtigungen) auf vielfältige Weisen
interagieren und erst so Analphabetismus erklären können. Die Theorie als
nicht-falsizierbare Entität ist in ihrer Gesamtheit nicht prüfbar. Es soll daher
nur eine einzige Aussage aus der Theorie geprüft werden, nämlich dass funk-
tionale erwachsene Analphabetinnen und Analphabeten spezielle Beeinträch-
tigungen im Schriftspracherwerb haben. Mithilfe einiger Ableitungen (siehe
Grosche 2012) gelang folgende inhaltliche Vorhersage: Wenn die Theorie
korrekt ist, zeigen Analphabetinnen und Analphabeten in Tests zur phonologi-
schen Informationsverarbeitung geringere Leistungen als eine Kontrollgruppe
von Kindern im Grundschulalter. Durch weitere Ableitungen (Grosche 2012)
ergaben sich drei statistische Hypothesen, von denen empirisch eine falsiziert
und zwei bestätigt werden konnten.
Offensichtlich gibt es einen großen Unterschied zwischen der Theorie und den
statistischen Tests, und ihre Ableitungen sind nicht logisch sondern nur durch
viele (hoffentlich gut begründete) Zusatzannahmen möglich. Problematisch
ist, dass in kaum einem quantitativ-empirischen Artikel diese zahlreichen Zu-
satzannahmen der Ableitungen und Rückschlüsse expliziert werden. Dies hat
zum einen Platzgründe, denn empirische Forschungsbeiträge werden nur dann
zur Publikation angenommen, wenn sie ausgesprochen kurz sind. Zum ande-
ren nehmen zu viele empirische Studien diese Ableitungen bzw. Rückschlüsse
unzureichend vor. Hier ist für eine umfassendere Diskussion der Ableitungen
zu plädieren.
4.3 Implikationen für die inter- und transdiskursive Zusammenarbeit
In der Regel enthalten quantitativ-empirische Texte keine expliziten Ausführun-
gen zu den probabilistischen und CPD-Eigenschaften. Beide Einschränkungen
sind einfach zu trivial, um sie in jedem quantitativ-empirischen Text erneut zu
diskutieren. Es werden lediglich spezische Einschränkungen der jeweiligen
internen und externen Validität der Datenerhebungen diskutiert, die jedoch im-
mer konsistent mit den beiden generellen Einschränkungen sind. Mir scheint
als würde der gegenwärtige Diskurs dadurch angeheizt, dass quantitativ-empi-
rische Forscherinnen und Forscher ihre Aussagen vermeintlich deterministisch
formulieren, obwohl sie probabilistisch und CPD-konform gemeint sind, und
dass viele Nicht-Empirikerinnen und Nicht-Empiriker ihrer Gegenseite unter-
stellen, die Aussagen nicht probabilistisch und CPD-konform zu meinen. Auf
der einen Seite müssen Kritikerinnen und Kritiker der quantitativ-empirischen
Sonderpädagogik wissen und anerkennen, dass alle quantitativ-empirischen
Aussagen immer probabilistisch und CPD-konform gemeint sind, selbst wenn
sie so nicht formuliert sind. Und auf der anderen Seite müssen quantitativ-
empirische Forschende die Einschränkung explizieren. Problematischer ist es,
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wenn die Ableitungen aus der Theorie nicht gut begründet werden, wodurch
sich empirische Arbeiten immer angreifbar machen. Das ausdifferenzierte wis-
senschaftstheoretische Modell von Hager (2004) könnte daher zur Weiterent-
wicklung der quantitativ-empirischen Sonderpädagogik beitragen.
5 Schlussfolgerungen für die inter- und transdiskursive
Kooperation von beiden Zugängen
Der gegenwärtige Diskurs gegen die quantitativ-empirische Sonderpädagogik,
der vor allem wissenschaftsextern geführt wird, bedroht unsere Disziplin. Der
wissenschaftsinterne Diskurs ist hingegen zielführend und hat das Potential
unsere Disziplin insgesamt weiterzuentwickeln. Mit dem vorliegenden Beitrag
habe ich versucht, den Diskurs wissenschaftsintern zu versachlichen und zum
gegenseitigen Brückenbauen einzuladen. Dieses Brückenbauen wird nur funk-
tionieren, wenn die Brücke von beiden Seiten bzw. Zugängen gebaut wird. Ob
und wie dies gelingen wird, wird die Zukunft zeigen.
Bislang sind die Methoden einer solchen Inter- und Transdiskursivität nicht
geklärt. Hier hilft vielleicht ein Exkurs zur Theorie der kokonstruktiven Ko-
operation (Gräsel, Fußangel & Pröbstel 2006). Eine echte Weiterentwicklung
der eigenen Disziplin ist nach dieser Theorie nur dann erwartbar, wenn ver-
schiedene Personen aus verschiedenen Zugängen ihr individuelles Wissen auf-
einander beziehen, um neues Wissen gemeinsam zu konstruieren, das „besser“
ist als das individuelle Wissen zuvor. Nur so können wir unsere Disziplin wei-
terentwickeln und auf ein höheres Niveau heben, als es vorher möglich war.
Um miteinander kokonstruieren zu können, müssen die jeweiligen Handlungen
und Studien voneinander positiv abhängig sein (positive Interdependenz), es
muss ein sehr hohes Vertrauen in die Gegenseite gelegt werden, Fehler müssen
offen und unabhängig von persönlichen Zuschreibungen angesprochen werden
dürfen und man darf auch unsichere Vorschläge unterbreiten, ohne Angst vor
Abwertung der eigenen Person zu haben (Gräsel u. a. 2006). Damit ist die
Kokonstruktion enorm voraussetzungsreich, kognitiv und emotional heraus-
fordernd und sehr zeitintensiv sowie im gegenwärtigen Diskurs, der sich auch
durch gegenseitiges Misstrauen äußert, nicht ohne weiteres möglich. Dies gilt
sicherlich besonders für die hier gewählte inter- und transdiskursive Methode
der Introspektion, denn durch sie mache ich mich für beide Zugänge angreif-
bar. Ich möchte den vorliegenden Text aber als Versuch der Kokonstruktion
verstehen, nämlich als ersten Versuch, vom quantitativ-empirischen Zugang
eine Brücke zum anderen Zugang zu bauen. Als Vorschläge habe ich für mei-
nen eigenen Zugang der quantitativ-empirischen Sonderpädagogik erarbeitet:
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Brücken bauen, statt einreißen!
1. Wir müssen die drei wissenschaftstheoretischen Ebenen klarer voneinander
trennen. Quantitatives Forschen ist mitnichten frei von Werten, gleichwohl
unsere Sachaussagen trotzdem wertfrei sind und nicht normativ kritisiert
werden können. Jedoch muss die Wertgeleitetheit der eigenen Forschung
stärker expliziert werden, und diese Werte können normativ kritisiert wer-
den.
2. Wir müssen darauf achten, dass wir Behauptungen und theoretische Be-
gründungen durch empirische Daten stützen, und nicht etwa positive Ef-
fekte und Effektstärken als alleiniges Argument darstellen. Quantitative
Daten sind an sich kein wissenschaftliches Argument und die Daten spre-
chen nicht für sich selbst.
3. Wir müssen den probabilistischen und CPD-konformen Charakter unserer
Theorien und Hypothesen besser als bisher diskutieren, oder dürfen uns
andernfalls nicht wundern, wenn unsere Aussagen als deterministisch in-
terpretiert werden.
Hieraus ergeben sich auch (mindestens) drei Impulse für die Kritikerinnen und
Kritiker des quantitativ-empirischen Zugangs: Auch sie müssen die drei wis-
senschaftstheoretischen Ebenen trennen und zugestehen, dass sich deskripti-
ve oder präskriptive Aussagen nicht normativ kritisieren lassen. Sie müssen
anerkennen, dass normative Argumente durch quantitative Daten unterstützt
werden können und dass quantitative Aussagen immer Wahrscheinlichkeits-
aussagen sind, auch wenn diese so nicht formuliert sind.
Ich hoffe, dass dieser Text als erster Baustein von anderen produktiv und kon-
struktiv aufgegriffen wird, um eine Brücke aufeinander zuzubauen. Damit
plädiere ich auch zur Versachlichung des Diskurses, zur Rückbesinnung auf
wissenschaftsinterne statt wissenschaftsexterne Aspekte und zur Verwendung
vielfältiger inter- und transdiskursiver Methoden.
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Laubenstein Scheer - Zwischen Wirksamkeitsforschung und Gesellschaftskritik.indb 61 27.07.17 17:36
... Gemäß C. Lindmeier (2017) kann es bei einem solchen Streit nur noch Gewinner und Verlierer geben. Daher hat der vorliegende Artikel zum Ziel, einen konstruktiven Vorschlag zum Umgang mit den divergierenden Sichtweisen zu machen, in dem eine von drei Überlegungen erweitert und vertieft wird, die an anderer Stelle lediglich skizziert werden konnte (Grosche 2017). ...
... Demnach sind verschiedene Positionen nicht gegeneinander auszuspielen. Stattdessen sollte für einen verständigungsorientierten, gleichberechtigten, symmetrischen und herrschaftsfreien rationalen Diskurs (im Sinne von Habermas) über EbP geworben werden, der über folgende Methoden angebahnt werden könnte (Grosche 2017 ...
... As Grosche (2015) and Piezunka, Schaffus, and Grosche (2017) argue, no distinct, accurate, and overall valid definition of inclusion (or inclusive education) exists, especially in the German context, which leads to problems for practitioners and researchers when planning, coordinating, and discussing inclusion-oriented processes (see also Werning 2010). Furthermore, discussing inclusion from different perspectives of understanding without acknowledging the differences may lead to the depreciation of others' views (Grosche 2017a(Grosche , 2017b. Although numerous papers have tried to define inclusion systematically (Ainscow, Booth, and Dyson 2006;Farrell et al. 2007;Fuchs and Fuchs 1998;Göransson and Nilholm 2014;Kavale and Forness 2000;Loreman 2014), definitions remain diverse. ...
Article
Full-text available
Within educational and social discourses, the term ‘inclusion’ has various meanings. In both research and practice, there is no official definition of inclusion. Nevertheless, subjective definitions affect pedagogical acts. We developed the Definitions of Inclusion Questionnaire [Fragebogen zur Erfassung subjektiver Definitionen von Inklusion] (FEDI) as an economic instrument that takes subjective definitions of inclusion into account. This paper describes the construction and first psychometric evaluation of the questionnaire instrument that 513 participants with various professional backgrounds completed. We used exploratory and confirmatory factor analyses of two different subsamples to identify the measuring model. We found a three-factor structure with acceptable-to-good fit measures and an acceptable reliability (CR from .81 to .87). Small to medium correlations of the FEDI scales with attitudes towards inclusion and teachers’ sense of efficacy suggest that discriminant validity is given. Perspectives for further research and implications for practice are discussed.
... Dieser Artikel ist ein Beitrag zum aktuellen Dis kurs in der deutschsprachigen Sonderpädago gik, der z. B. in den Beiträgen von Dederich (2017) und Grosche (2017) seinen Niederschlag findet. Zu diesem Diskurs wird hier aus der Sicht eines Ansatzes Stellung bezogen werden, der als empirische Wirkungsforschung charakterisiert werden kann. ...
Book
Full-text available
Die wissenschaftliche Jahreszeitschrift ESE will Inhalte und aktuelle Entwicklungen des Faches Emotionale und Soziale Entwicklung (ESE) in der Pädagogik der Erziehungshilfe und bei Verhaltensstörungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Aufgrund der hohen gesellschaftlichen Relevanz ihrer Themen dient sie dem kritischen fachlichen Austausch, der Dokumentation der Jahrestagungen und als Informationsplattform der (Bildungs)Politik. "Reichweite einer Pädagogik sozio-emotionaler Entwicklungsförderung" Die fünfte Ausgabe der ESE überlegt, ob und wie Prävention und Evidenz im 21. Jahrhundert zu sogenannten „Paradigmen“ der Heilpädagogik werden (sollen). Zum Ziel der Heilpädagogik gehört demnach, das Innovieren im Theorie-Praxis-Gefüge. Ein zentrales Anliegen schulischer Bildung wird somit die Sicherstellung der Lern-, Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Mit dieser normativen Setzung einer Zuständigkeit und Anwaltschaft der Heilpädagogik für alle Kinder und Jugendlichen – im Sinne von Prävention z. B. bei auffälligem Verhalten – geht ein Perspektivwechsel pädagogischer Disziplin einher. Ergänzend zu einer evidenzbasierten Wissenschaft und Praxis sind Aspekte der Ethik und der normativen Einbettung einer solchen präventiven Zuwendung zu diskutieren. Ethische Überlegungen veranlassen diese Ausgabe, Prävention und Evidenz – innerhalb einer immer wieder zu bestimmenden Reichweite von Disziplin und Profession – als wünschenswerte Forschungsprogramme der Heilpädagogik mit Risiken und Nebenwirkungen, aber auch mit Möglichkeiten und Chancen zu diskutieren
Article
Full-text available
In der deutschsprachigen Bildungsforschung gibt es seit einigen Jahren vermehrt Studien, die sich mit der Umsetzung von Inklusion auseinandersetzen. Es gibt jedoch bislang sowohl in Forschung als auch in Praxis keinen Konsens darüber, was man unter schulischer Inklusion versteht. Beispielsweise fehlen präzise und eindeutige Definitionen von Inklusion. Daher explizieren wir durch qualitative Experteninterviews mit elf Inklusionsforschenden vier Definitionen von schulischer Inklusion, die den wissenschaftlichen Diskurs in Deutschland gegenwärtig prägen: Unter Inklusion kann man die Realisierung des Rechtsanspruchs für Schülerinnen und Schüler mit diagnostizierter Behinderung verstehen (Verständnis 1), die bestmögliche Leistungsförderung von einzelnen Schülergruppen (Verständnis 2), Teilhabe, Anerkennung und Wohlbefinden aller Schülerinnen und Schüler (Verständnis 3) oder das Überwinden von sozial konstruierten Differenzlinien im Denken und Handeln als Utopie (Verständnis 4). Der konsensuelle Kern dieser vier Definitionen ist die Überwindung von Diskriminierung aufgrund sozial konstruierter Differenzlinien. Dieser konsensuelle Kern ist hierarchisch organisiert und kann in der Inklusionsforschung erstmalig als theoretischer Bezugspunkt genutzt werden, um die jeweiligen Erträge und Grenzen projekt- oder disziplinübergreifend zu kommunizieren.
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Many students with learning and behaviour problems are routinely excluded from regular education. Although calls have been made to educate students with these problems in the same settings as their typically developing peers, it remains unclear how best to support their needs for academic and behavioural support. We address this question first by describing response-to-intervention (RTI), a specific model of prevention and early intervention for learning and behaviour problems. A comprehensive summary of the RTI literature is provided. Second, we will discuss the feasibility and applicability of RTI as one approach to facilitate inclusion of students with learning and behaviour problems. Specifically, we will demonstrate how RTI can be used to address at least four barriers to inclusion by (1) providing a clear implementation strategy for inclusion practices; (2) clearly defining the roles, responsibilities and collaboration of general and special education teachers; (3) enabling the allocation of resources for instruction and intervention; and (4) avoiding early and unnecessary labelling of students with learning and behaviour problems. Third, limitations of RTI as a model to facilitate inclusion will be discussed.
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Das provokative Essay nimmt die aktuellen Auseinandersetzungen uber eine evidenzbasierte Sonderpadagogik zum Anlass, einige kritische Uberlegungen zum aktuellen Stand der Theoriebildung in der Sonderpadagogik anzustellen. Diese Uberlegungen orientieren sich an der allgemein erziehungswissenschaftlichen Debatte uber die Pluralisierung der Formen erziehungswissenschaftlichen Wissens. Es wird fur die Starkung der Wissensform des reflexiven Wissens pladiert. Abschliesend werden Herausforderungen der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin Sonderpadagogik benannt, die es mithilfe dieser Wissensform zu bearbeiten gilt.
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Die Metaanalyse von Klauer und Phye (2008) über den Effekt des induktiven Trainings von Klauer basierte auf 74 experimentellen Studien mit 3.595 Probanden und belegte, (a) dass das induktive Training die fluide Intelligenz substantiell verbessert, (b) dass sich der Fördereffekt mittelfristig nicht vermindert und (c) dass Lernen im Unterricht von dem Training mindestens ebenso stark wie die fluide Intelligenz profitiert. Inzwischen wurden weitere 35 experimentelle Studien mit 1.325 Probanden veröffentlicht, wobei das Spektrum der Trainingsprogramme so erweitert worden ist, dass Förderungen fast über die ganze Lebensspanne hinweg möglich wurden. In diesem Beitrag werden zunächst die Ergebnisse der neuen Studien Metaanalysen unterzogen, dann aber auch der Gesamtbestand der vorliegenden Daten (n = 109 Studien, N = 4.668). Über alle Fälle resultieren positive Ergebnisse auf die fluide Intelligenz (d = 0.60), auf Lernen in Unterrichtslektionen (d = 0.68) und auf weitere kognitive Variablen (d = 0.65).