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Der Hals als Bioinspiration für technische Innovationen [The neck as bioinspiration for technical innovations]

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Der Hals ist eine biomechanische Innovation, die entscheidend zur Diversifizierung der Wirbeltiere beigetragen hat. Erkenntnisse aus der funktionellen Morphologie des Halses können dazu beitragen, Designprinzipien für technische Anwendungen zu entwickeln. Der Einsatzbereich der Bionik ist dabei sehr vielfältig und kann neben Konstruktionsprinzipien auch Materialeigenschaften und Verhaltensweisen betreffen. Die vorliegende Arbeit stellt beispielhaft vor, wie der Hals der Vögel für bioinspiriertes Design dienen kann. [The neck is a biomechanical innovation that contributed to the diversification of vertebrates. A better understanding of the functional morphology of the neck can help to develop design principles for technical applications. The range of application is versatile and can concern constructional principles as well as material properties and behaviors. The present work illustrates how the neck of birds can be serve for bioinspired design.]
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Aus: Werneburg I., Betz O. (xxxx). Phylogenie, Funktionsmorphologie und Bionik. Texte
zum 60. Phylogenetischen Symposium in Tübingen. Scidinge Hall Verlag Tübingen, xxx
Seiten. ISBN: 978-3-947020-xx-x
Der Hals als Bioinspiration für
technische Innovationen
Christine Böhmer1,*
Biologie und Technik - Bionik
Die Evolution des Lebens auf der Erde hat eine enorme Diversität an
Tieren hervorgebracht. Dies beinhaltet nicht nur die Entstehung einer
Vielzahl von verschiedenen Arten (Biodiversität), sondern auch die Ent-
wicklung einer großen morphologischen Vielfalt (Biodisparität). Physika-
lisch unterschiedliche Habitate - wie zum Beispiel der Übergang von ei-
nem Leben im Wasser zu einem Leben an Land - stellten Organismen
vor vielfältige Herausforderungen. Folglich fordern die dramatischen Un-
terschiede der jeweiligen Umweltbedingungen Anpassungen hinsichtlich
der Anatomie und Physiologie der Tiere. Im Laufe der Evolution haben
Lebewesen verschiedenste strukturelle Lösungen entwickelt, um unter
herausfordernden Umweltbedingungen zu überleben. Eines der wohl
bekanntesten Beispiele sind die Flügel der Vögel, die es den Tieren in
Kombination mit anderen anatomischen Anpassungen ermöglichten, ei-
nen vollkommen neuen Lebensraum (den Luftraum) zu erobern (Abb. 1).
Diese technischen „Erfindungen“ der Natur sind für Wissenschaftler und
Ingenieure höchst interessant, da sie als Vorbilder für innovative Lösun-
gen in der Architektur, Industrie, Medizin und Wirtschaft dienen können.
Der Verein Dt. Ingenieure (VDI) definiert den Begriff Bionik als Wis-
senschaftsbereich, der in interdisziplinärer Zusammenarbeit Biologie und
Technik mit dem Ziel verbindet, durch Abstraktion, Übertragung und
Anwendung von Erkenntnissen, die an biologischen Vorbildern gewon-
nen werden, technische Fragestellungen zu lösen (VDI-Richtlinie 6220).
Bionisches Vorgehen umfaßt dabei drei wesentliche Schritte: (1) das Er-
kennen einer biologischen Besonderheit, (2) die Abstraktion des biologi-
schen Befundes sowie die entsprechende Ausarbeitung eines allgemeinen
Prinzips und (3) dessen technische Umsetzung (Nachtigall 2010; 2020).
_____________________________________________________________________
1 - UMR7179 Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS)/Muséum National
d’Histoire Naturelle (MNHN) Paris, 55 rue Buffon, F-75005 Paris, Frankreich;
*boehmer@vertevo.de
Christine Böhmer
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Funktionelle Anatomie der Wirbelsäule
Ein charakteristisches Konstruktionsmerkmal der Wirbeltiere ist die Wir-
belsäule. Zu ihren wichtigsten Funktionen zählt der Schutz des empfindli-
chen und lebenswichtigen Rückenmarks, das im Wirbelkanal verläuft. Sie
dient ebenfalls als Gerüst, das Stabilität gewährleistet und gleichzeitig Be-
wegung ermöglicht. Die Wirbelsäule ist daher eigentlich keine „Säule“,
sondern eine stabile und mobile Gliederkette (Slijper 1946). Sie ist aus
mehreren, einzelnen Elementen - den Wirbeln - zusammengesetzt, die
zwar einen gemeinsamen Grundaufbau haben, sich aber in ihrer speziel-
len Form je nach Position und Funktion unterscheiden (Abb. 2) (Hilde-
brand und Goslow 2004). Der relativ einheitlichen Wirbelsäule der Fi-
sche, die sich generell in zwei morphologische Regionen (präcaudal und
caudal) einteilen läßt, steht das hochspezialisierte Axialskelett der Säuge-
tiere mit fünf Wirbelregionen gegenüber (Jones et al. 2018): Hals-, Brust-
und Lendenwirbelsäule sowie Kreuz- und Steißbein bzw. Schwanzwirbel-
säule. Jeder dieser fünf Regionen kann eine bestimmte Wirbelform und
Funktion zugeordnet werden (Kummer 1960). Grundsätzlich unterschei-
Abbildung 1. Die Natur dient oft als Inspirationsquelle für Innovationen. Der Vogelflü-
gel als Beispiel von Bioinspiration für Flugzeugtragflächen.
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Der Hals als Bioinspiration für technische Innovationen
den sich die Regionen in Bezug auf den Grad der Beweglichkeit. Der
Hals (cervikale Wirbelregion) bildet die Verbindung zwischen dem Kopf
und dem Rumpf und ist einer der beweglichsten Teile der Wirbelsäule.
Im Gegensatz dazu stabilisiert die eher steife Brustwirbelsäule (thorakale
Wirbelregion) den Thorax und trägt mit den Rippen zum Schutz der in-
neren Organe bei. Die Lendenwirbelsäule (lumbale Wirbelregion) erlaubt
eine hohe dorsoventrale Beweglichkeit und spielt insbesondere bei Säuge-
tieren eine entscheidende Rolle bei der Fortbewegung. Das Kreuzbein
(sakrale Wirbelregion) besteht aus mehreren verwachsenen Wirbeln und
stellt die Verbindung der Wirbelsäule mit dem Becken dar. Das Ilio-Sa-
kral-Gelenk ist nur gering beweglich und ist bei der Übertragung der
Kräfte, die bei der Fortbewegung durch die hinteren Extremitäten entste-
hen, beteiligt. Die Schwanzwirbelsäule (caudale Wirbelregion; z.T. nur
mehr rudimentär als Steißbein) hat im Allgemeinen eine sehr große Be-
weglichkeit und kann zum Beispiel beim Greifen oder Schwimmen von
Bedeutung sein.
Abbildung 2. Grundaufbau eines Wirbels am Beispiel des Alligators (3D-rekonstruiertes
Modell aus einem Laserscan). Grundsätzlich besteht er immer aus dem Wirbelkörper,
dem Wirbelbogen (durch den das Rückenmark führt), zwei Querfortsätzen, einem Dorn-
fortsatz und vier Gelenkfortsätzen.
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Evolution und Entwicklung der Wirbelsäule
Bevor es zur evolutionären Entwicklung der knöchernen Wirbelsäule
kam, hat sich die sogenannte Chorda dorsalis als Stützelement und Mus-
kelansatzstelle entwickelt. Sie ist ein stabiler und elastischer Stab, der vom
Kopf bis zur Schwanzspitze verläuft. Als Beispiel unter den heute leben-
den Tieren ist das Lanzettfischchen (Gattung: Branchiostoma) zu nennen.
Im Laufe der Evolution wurde die Chorda dorsalis von knorpeligen und
später knöchernen Wirbelelementen unterbrochen und umschlossen.
Einhergehend mit der evolutionären Landbesiedelung entstand eine tra-
gende, knöcherne Wirbelsäule, die der zusätzlichen Einwirkung der
Schwerkraft entgegenwirkt. Die Wirbelsäule ist kein einheitliches Gebilde,
sondern zeigt eine große Variation sowohl zwischen den verschiedenen
Tierarten als auch innerhalb der Wirbelsäule. Dies beinhaltet zum einen
Unterschiede in der Form als auch in der Anzahl der Wirbel (Böhmer et
al. 2019b; Böhmer et al. 2015a; Müller et al. 2010). Letzteres hängt insbe-
sondere mit der sogenannten Somitogenese zusammen (Dequéant und
Pourquie 2008). Die Somitogenese ist ein Prozeß in der Embryonalent-
wicklung von Wirbeltieren, bei dem sich durch Segmentierung kleine
Zellpopulationen (Somiten) entlang der Körperlängsachse bilden (Abb.
3). Aus diesen Segmenten entwickeln sich nachfolgend unter anderem die
Wirbel. Die Anzahl der Wirbel hängt davon ab, wie viele Somiten im Em-
bryo angelegt werden. Dies kann je nach Tierart unterschiedlich sein.
Meerschweinchen beispielsweise haben 35 Wirbel vom Kopf bis zum
Schwanz (davon sind 7 Halswirbel und 13 Brustwirbel), während Kra-
niche insgesamt 47 Wirbel haben (davon sind 17 Halswirbel und 10
Brustwirbel) (Hiraga et al. 2014; Narita und Kuratani 2005). Die Untertei-
lung in verschiedene anatomische Regionen, wie zum Beispiel Hals- und
Brustwirbelsäule, und damit die Form der Wirbel wird durch die Aktivität
der Hox Gene während der Embryonalentwicklung bestimmt (Böhmer
2017; Böhmer et al. 2015b; Kessel und Gruss 1990; Mansfield und Ab-
zhanov 2010). Durch Verschiebungen im Expressionsmuster der Hox
Gene kann die Halswirbelsäule länger oder kürzer sein (Böhmer et al.
2015b; Burke et al. 1995).
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Der Hals als Bioinspiration für technische Innovationen
Der Hals als biomechanische Innovation
Die ältesten bekannten, fossilen Nachweise für den Hals stammen aus
dem Devon. Das 375 Millionen Jahre alte Skelett von Tiktaalik (Downs et
al. 2008) oder auch die fast komplett erhaltene Wirbelsäule von Ich-
thyostega, die in etwa 365 Millionen Jahre alten Sedimenten gefunden wor-
den ist (Ahlberg et al. 2005), zeigen eine deutliche Halsregion. Diesen
Fossilien ist gemeinsam, daß sie eines der bedeutsamsten Ereignisse in
der Evolution des Lebens markieren: den Übergang vom Leben im Was-
ser zum Leben an Land. Dieser evolutionäre Übergang war nur durch
eine Vielzahl an strukturellen und funktionellen Innovationen möglich.
Der Bauplan der Wirbeltiere hat sich radikal geändert, da durch die terre-
strische Lebensweise Elemente und Kräfte auf den Körper der Organis-
men wirkten, die im Wasser nicht oder nur in geringem Maße vorhanden
sind. Beispielsweise hat sich die Lungenatmung entwickelt. Im Gegensatz
zu den Kiemen ermöglicht die Lunge, daß der Körper Sauerstoff (O2) in
Abbildung 3. Somitogenese. Während der Embryonalentwicklung bilden sich vom mitt-
leren Keimblatt (Mesoderm) in craniocaudaler Richtung die Somiten. Diese Zellpopulatio-
nen entwickeln sich nachfolgend zu Wirbeln (aus Böhmer 2013).
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Form von Gas aus der Atmosphäre aufnehmen kann. Als weiteres Bei-
spiel ist die Entwicklung der Beine zu nennen. Die Extremitäten von
aquatischen Tieren müssen das Gewicht des Körpers nicht tragen, da die
im Wasser herrschende Auftriebskraft der Schwerkraft entgegenwirkt. An
Land hingegen beeinflußt die Gravitation den Körper stärker und die
Gliedmaßen von terrestrischen Lebewesen müssen die Last des Körpers
aufnehmen. Die Wirkung der Schwerkraft führte aber nicht nur zur Evo-
lution stabiler Beine, sondern auch zur Entwicklung des Halses. Der Hals
der Wirbeltiere ist ein relativ eigenständiger, beweglicher Abschnitt der
Wirbelsäule, der den Kopf mit dem Rest des Körpers verbindet. Zum
einen ermöglicht er es, den Kopf gegen die Schwerkraft zu heben, was
wichtig für die Fortbewegung an Land ist. Zum anderen erlaubt der Hals
die unabhängige Bewegung des Kopfes vom restlichen Körper.
Beispiele für bioinspiriertes Design
Auf der Jagd nach Fischen tauchen Baßtölpel mit bis zu 24 m/s (umge-
rechnet rund 86 km/h) kopfüber in die Wasseroberfläche ein (Chang et
al. 2016). Doch wie ist es den relativ langhalsigen Wasservögeln möglich,
diese Kräfte unbeschadet zu überstehen, und wie können diese Erkennt-
nisse zur funktionellen Morphologie des Halses zu einer technischen In-
novation beitragen? Eine aktuelle Studie zeigt, daß mehrere anatomische
Anpassungen hierbei eine Rolle spielen. Zum einen verringert die speziel-
le, pfeilähnliche Kopfform den Reibungswiderstand beim Eindringen ins
Wasser sehr stark. Zum anderen reduzieren die Vögel insbesondere durch
die Abstimmung zwischen Anspannung der Halsmuskulatur und ange-
paßter Eintauchgeschwindigkeit das Risiko einer Halsverletzung. Basie-
rend auf diesen Ergebnissen können nun Objekte konstruiert werden, die
aus großer Höhe abgeworfen möglichst unbeschadet ins Wasser eintau-
chen können. Als Beispiel wären autonome Unterwassersensoren denk-
bar, die über dem Meer abgeworfen werden und nach erfolgreichem Ab-
tauchen unter Wasser Messungen vornehmen.
Der Hals der Vögel ist nicht nur bei extremem Verhalten - wie dem
oben erwähnten vertikalen Stoßtauchen - von entscheidender Bedeutung,
sondern sorgt auch während der horizontalen Fortbewegung für eine
Stabilisierung des Kopfes. Andernfalls würden die sensorischen Systeme
zum Sehen und Hören durch die Bewegung im Raum durcheinanderge-
bracht. Neben kompensatorischen Bewegungen der Augen, die das Bild
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auf der Retina für eine klare Sicht stabilisieren, trägt der Hals entschei-
dend zur Stabilisierung des Kopfes bei. Dies wurde bei Säugetieren wie
zum Beispiel bei Primaten oder Pferden untersucht (Dunbar et al. 2008;
Pozzo et al. 1990) und ist noch eindrucksvoller bei langhalsigen, fliegen-
den Vögeln zu erkennen (Pete et al. 2015). Schwäne fliegen durch teilwei-
se heftige Schläge ihrer ausgebreiteten Flügel, was zu Bewegungen im
ganzen Körper führt (Abb. 4). Der Kopf jedoch verharrt während des
Fluges nahezu regungslos in der gleichen Position. Dafür sorgen komple-
xe Ausgleichsbewegungen der Halswirbelsäule - ähnlich einer Federung
(Pete et al. 2015). Diese komplexen Bewegungen wurden erstmals mittels
Hochgeschwindigkeitsvideos von fliegenden Vögeln in Kombination mit
speziellen Computersimulationen untersucht. Die daraus gewonnenen
Erkenntnisse dienten als Grundlage für ein mechanisches Federungssy-
stem für Kamera-Drohnen, das für eine effektivere Stabilisierung von
Videoaufnahmen sorgte.
Im Verhältnis zu ihrer Körpergröße sind Vögel extrem leicht. Dies
wird durch hohle bzw. pneumatisierte Knochen erreicht und ist eine effi-
ziente Anpassung an das Fliegen. Mit der Evolution des aktiven Fluges
haben sich die Vordergliedmaßen der Vögel zu extrem spezialisierten
Strukturen - den Flügeln - entwickelt. Diese strukturelle Umwandlung
Abbildung 4. Während die Schwäne mit kräftigen Flügelschlägeln durch die Lüfte flie-
gen, gleichen sie die Bewegungen mit ihrem Hals aus. So bleiben der Kopf und damit die
sensorischen Organe in stabiler Position.
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limitiert erheblich die funktionale Vielseitigkeit der vorderen Extremitä-
ten. Dies steht im direkten Kontrast zu den Flügeln der Fledermäuse, die
die Tiere nicht nur zum Fliegen, sondern auch zum Greifen und Manipu-
lieren von Nahrung nutzen (Vaughan und Bateman 1970). Als Konse-
quenz der eingeschränkten Funktionalität der Vordergliedmaßen wurde
der Hals der Vögel zum funktionalen Äquivalent der Arme (Böhmer et al.
2019b). In Kombination mit dem Schnabel kann das Kopf-Hals-System
sogar als werkzeugtragendes Element angesehen werden. Somit ist der
Vogelhals nicht nur eine simple Verbindung zwischen Kopf und Körper,
sondern eine hoch komplexe Struktur, die vielseitige Aufgaben über-
nimmt; wie zum Beispiel bei der Nahrungsaufnahme, Manipulation, Ge-
fiederpflege, Balzverhalten, Nestbau und Kampfverhalten. Einige Vogel-
arten benutzen ihren Hals sogar für sehr spezielle Aktivitäten wie z.B.
Klettern unter Zuhilfenahme ihres Schnabels. Diese „dreibeinige“ Fort-
bewegungsweise kann bei vielen Papageienarten beobachtet werden
(Dilger 1960). Spechte sind für ihre außergewöhnliche Fähigkeit bekannt,
tiefe Löcher in Baumstämme zu meißeln (Puverel et al. 2019; Spring
1965). Die Leichtbauweise (pneumatisierte Wirbel), die funktionelle Viel-
seitigkeit sowie die Kombination aus präzisen und kraftvollen Bewegun-
gen machen den Vogelhals zu einem höchstinteressanten Vorbild für bio-
inspiriertes Design (Abourachid et al. 2018). Insbesondere die Idee, den
Hals der Vögel als Modell für einen Weichkörper-Roboter-Arm zu ver-
wenden, wird zur Zeit intensiv untersucht (Abb. 5) (Böhmer et al. 2019a;
Fasquelle et al. 2019; Furet et al. 2018a; Furet et al. 2018b; Furet und
Wenger 2018; Van Riesen et al. 2018). Das besondere Augenmerk liegt
hierbei sowohl auf einer Verbesserung der Funktion, aber auch der Si-
cherheit in Bezug auf die Mensch-Maschine-Interaktion. Die Mensch-
Roboter-Kollaboration (MRK; auf englisch: Human-Robot Collaborati-
on, HRC) bedeutet, daß sich Menschen und automatisierte Maschinen
den gleichen Arbeitsraum teilen und ohne trennende Schutzeinrichtung
gleichzeitig arbeiten (Villani et al. 2018). Sowohl Präzision in den Bewe-
gungen als auch das Konzept eines hybriden Weichkörper-Roboters sind
in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, da sie die Risiken
von Unfällen drastisch reduzieren können. Dem eigentlichen Design ei-
nes technischen Modells geht ein grundlegendes Verständnis der Form-
Funktions-Beziehungen im muskuloskeletalen System der Halswirbelsäu-
le voraus (Böhmer et al. 2018; Böhmer et al. 2019a). Die strukturelle Basis
für die vielseitigen Bewegungen des Halses liegt in der Muskulatur und
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den Knochen. Als Erstes müssen daher die anatomischen Parameter ex-
trahiert werden, die beispielsweise für die präzisen und kraftvollen Bewe-
gungen des Spechtes beim Hämmern essentiell sind (Böhmer et al.
2019a). Die Konzeptualisierung der extrem komplexen Muskulatur des
Vogelhalses zeigt die Spezialisierung in der Anatomie auf. Schließlich
können die aus der funktionell-morphologischen Untersuchung gewon-
nenen Erkenntnisse dazu genutzt werden, einen Prototypen des Specht-
halses zu entwickeln, der als Ausgangspunkt für weitere Erfindungen
dient.
Schlußbemerkungen
Effektive Konstruktionen in der Natur zu finden und darauf basierend
Strukturen zu entwerfen, wird als Bioinspiration bezeichnet und ist ein-
deutig von Biomimetik (direktes Nachahmen) zu unterscheiden. Im Ge-
gensatz zur Naturkopie, bedeutet die Naturabstraktion, daß die morpho-
logische Prinzipfunktion einer biologischen Struktur verstanden werden
Abbildung 5. Schematischer Vergleich der Eigenschaften von weichen, hybriden und
festen Roboterarmen. Hybride Roboter liegen in einem wenig erforschtem Design-Raum
(blau unterlegt) (verändert nach Culha et al. 2016).
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muß, um anschließend eine technische Realisation für das Prinzip zu fin-
den. Der Hals ist eine biomechanische Innovation, die entscheidend zur
Diversifizierung der Wirbeltiere beigetragen hat. Erkenntnisse aus der
funktionellen Morphologie des Halses können dazu beitragen, De-
signprinzipien für technische Anwendungen zu entwickeln. Der Einsatz-
bereich der Bionik ist dabei sehr vielfältig und kann neben Konstruk-
tionsprinzipien auch Materialeigenschaften und Verhaltensweisen betref-
fen (Nachtigall und Wisser 2013). Die Bionik ist eine etablierte Innovati-
onsmethode, die eine Vielzahl an Technologien, Produktoptimierungen
und Neuentwicklungen hervorgebracht hat.
Danksagungen
Ich möchte mich herzlich bei PD Dr. Ingmar Werneburg (Senckenberg Center for Hu-
man Evolution and Palaeoenvironment Tübingen) und Prof. Dr. Oliver Betz (Universität
Tübingen) dafür bedanken, daß sie mir die Möglichkeit gegeben haben, dieses kurze Essay
zu veröffentlichen. Die Wirbelsäule und insbesondere der Hals sind in meinen Augen eine
besonders faszinierende Struktur der Wirbeltiere, da sie aus zahlreichen Elementen (den
Wirbeln) bestehen, die durch ein komplexes System an Muskeln und Sehnen stabil und in
Bewegung gehalten werden. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Anick Abourachid
(Muséum National d’Histoire Naturelle Paris) für die Überlassung des Themas. Die vor-
liegende Arbeit wurde von der Agence National de la Recherche (ANR) im Rahmen des
Forschungsprojekts „AVINECK – The neck of birds, an arm for robots“ (#ANR-16-
CE33-0025, Projektkoordinatorin: A. Abourachid.) gefördert.
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Article
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Background: The importance of the cervical vertebrae as part of the skull–neck system in facilitating the success and diversity of tetrapods is clear. The reconstruction of its evolution, however, is problematic because of the variation in the number of vertebrae, making it difficult to identify homologous elements. Quantification of the morphological differentiation in the neck of diverse archosaurs established homologous units of vertebrae (i.e. modules) resulting from Hox gene expression patterns within the cervical vertebral column. The present study aims to investigate the modularity of the cervical vertebral column in the mouse and to reveal the genetic patterns and changes underlying the evolution of the neck of modern mammals and their extinct relatives. In contrast to modern mammals, non-mammalian synapsids are characterized by a variable cervical count, the presence of free cervical ribs and the presence of a separate CV1 centrum. How might these evolutionary modifications be associated with changes in the Hox code? Results: In combination with up-to-date information on cervical Hox gene expression including description of the vertebral phenotype of Hox knock-out mutants, the 3D landmark-based geometric morphometric approach demonstrates a correlation between Hox code and vertebral morphology in the mouse. There is evidence that the modularity of the neck of the mouse had already been established in the last common ancestor of mammals, but differed from that of non-mammalian synapsids. The differences that likely occurred during the evolution of synapsids include an anterior shift in HoxA-5 expression in relation to the reduction of cervical ribs and an anterior shift in HoxD-4 expression linked to the development of the highly differentiated atlas-axis complex, whereas the remaining Hox genes may have displayed a pattern similar to that in mammals on the basis of the high level of conservatism in the axial skeleton of this lineage. Conclusion: Thus, the mouse Hox code provides a model for understanding the evolutionary mechanisms responsible for the great morphological adaptability of the cervical vertebral column in Synapsida. However, more studies in non-model organisms are required to further elucidate the evolutionary role of Hox genes in axial patterning of the unique mammalian body plan.
Conference Paper
This paper analyzes the workspace of a planar 2-X manipulator, i.e. made of two crossed four-bar mechanisms in series. This architecture has some advantages over classical 2-R manipulators such as its ability to be driven with tendons, but its kinematics is more challenging because of a variable instantaneous center of rotation of the X-mechanisms. The workspace boundaries are determined algebraically and its accessibility is analyzed. In the absence of joint limits, the workspace has regions with two and four inverse kinematic solutions. Depending on the values of its geometric parameters, the manipulator at hand may be cuspidal, i.e. it can change its posture without meeting a singularity. A necessary and sufficient condition is stated for the manipulator to be cuspidal. The effect of joint limits is analyzed and the accessibility regions are further classified according to the reachable configurations of each X-mechanism in these regions.
Conference Paper
This paper analyses the dynamics of an antagonistically actuated tensegrity mechanism. The mechanism is subject to gravity effects, which produce both stable and unstable equilibrium configurations. The workspace is shown to be not necessarily connected and its size depends on both the geometric, spring and actuator parameters of the mechanism. The antagonistic actuation forces, which are bounded, enable controlling both the stiffness and the position within certain limits. A computed torque control law is applied and simulations show interesting behaviors of the mechanism when the desired motion makes the mechanism jump between two connected components of the workspace.
Article
Easy-to-use collaborative robotics solutions, where human workers and robots share their skills, are entering the market, thus becoming the new frontier in industrial robotics. They allow to combine the advantages of robots, which enjoy high levels of accuracy, speed and repeatability, with the flexibility and cognitive skills of human workers. However, to achieve an efficient human-robot collaboration, several challenges need to be tackled. First, a safe interaction must be guaranteed to prevent harming humans having a direct contact with the moving robot. Additionally, to take full advantage of human skills, it is important that intuitive user interfaces are properly designed, so that human operators can easily program and interact with the robot. In this survey paper, an extensive review on human-robot collaboration in industrial environment is provided, with specific focus on issues related to physical and cognitive interaction. The commercially available solutions are also presented and the main industrial applications where collaborative robotic is advantageous are discussed, highlighting how collaborative solutions are intended to improve the efficiency of the system and which the open issue are.