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Zur Diskussion des Bedarfs psychosozialer Versorgung
in der Onkologie
Discussing the Need for Psychosocial Care in Oncology
Autor Anja Mehnert
Institut Sektion Psychosoziale Onkologie, Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie,
Universitätsklinikum Leipzig
Bibliografie
DOI http://dx.doi.org/
10.1055/s-0034-1370209
Psychother Psych Med 2014;
64: 251–252
© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York
ISSN 0937-2032
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. phil. Anja Mehnert
Leiterin Sektion Psychosoziale
Onkologie, Abteilung für
Medizinische Psychologie und
Medizinische Soziologie,
Universitätsklinikum Leipzig
Philipp-Rosenthal-Straße 55
04103 Leipzig
anja.mehnert@medizin.uni-
leipzig.de
Prof. Dr. phil.
Anja Mehnert
Editorial 251
Mit der Veröffentlichung der S3-Leitlinie Psycho-
onkologie [1] und der Frage ihrer Umsetzung in
der stationären und ambulanten Versorgung
rückt die Frage des Bedarfs psychosozialer Versor-
gung in der Onkologie und die Frage der Bedarfs-
gerechtigkeit in den Mittelpunkt aktueller Dis-
kussionen, vor allem bei politischen Entschei-
dungsträgern. Die psychosoziale Versorgung von
Krebspatienten (und ihrer Angehörigen) sollte –
wie auch die Versorgung anderer Patientengrup-
pen –qualitätsgesichert, geplant und rational
strukturiert sein! Der erste Schritt im Prozess re-
levanter Planungen ist die Analyse des Bedarfs.
Bedarf erfordert definitionsgemäß zum einen das
Vorhandensein eines relevanten Gesundheitspro-
blems bzw. einer krankheitswertigen Störung,
zum anderen die Verfügbarkeit wirksamer Inter-
ventionen zur Linderung oder Heilung dieser Stö-
rung bzw. zur Reduktion des gesundheitlichen
Problems [2].
Epidemiologische Studien zur Prävalenz psy-
chischer Komorbidität bei Krebspatienten zeigen,
dass durchschnittlich ein Drittel der Patienten an
einer psychischen Störung leidet, wobei eine
hohe Varianz zwischen den unterschiedlichen
Tumorentitäten zu beobachten ist [3, 4]. Etwa je-
der zweite Patient berichtet im Krankheitsverlauf
über eine hohe psychische Belastung. Etwa ein
Drittel aller Patienten äußert den Wunsch nach
psychosozialer Unterstützung –ein weitaus hö-
herer Anteil nach Information und Beratung. Dies
führt zu der Frage, ob Forderungen nach psycho-
sozialer Versorgung ausschließlich an psychische
Störungen gekoppelt werden oder auch an sub-
syndromale psychische Belastungen, emotionales
Leiden oder Dysfunktionen sowie an Informa-
tions- und Unterstützungsbedürfnisse der Patien-
ten. Dies bedeutet, dass –je nachdem welcher
Krankheits- oder Störungsbegriff und welche Per-
spektive zugrunde gelegt wird –ein unterschied-
lich hoher Bedarf resultiert. Die S3-Leitlinie ent-
spricht dieser Tatsache mit einem screeningba-
sierten gestuften Versorgungsmodell und dem
Vorhalten eines Spektrums an psychosozialen In-
terventionen, das von Information und Beratung
bis hin zu Psychotherapie reicht. Zukünftig bedarf
es jedoch einer stärkeren empirischen Daten-
grundlage, inwieweit durch solche Versorgungs-
modelle tatsächlich diejenigen Patienten erreicht
werden, die entsprechend belastet sind und von
psychosozialen Interventionen profitieren könn-
ten.
Zur Frage der Wirksamkeit von psychoonkologi-
schen Interventionen liegt eine umfassende, von
Faller et al. 2013 im Journal of Clinical Oncology
publizierte Metaanalyse vor [5]. Diese zeigt die
Evidenz aus randomisierten, kontrollierten Studi-
en (RCTs) für die Wirksamkeit psychoonkologi-
scher Interventionen (Einzel- und Gruppenthera-
pie, Psychoedukation und Entspannungsverfah-
ren) hinsichtlich der Reduktion emotionaler Be-
lastungen und der Verbesserung der Lebensquali-
tät. Diese Metaanalyse –so erfreulich ihre Ergeb-
nisse zunächst auch sind –zeigt aber noch etwas
anderes, nämlich den Bedarf an weiteren metho-
disch hochwertigen Psychotherapiestudien in der
Onkologie und in der (frühen) palliativen Versor-
gung.
Bei näherer Betrachtung der in die Metaanalyse
eingegangenen Studien fällt auf, dass die Mehr-
zahl der Studien bei Patientinnen gemischter Di-
agnosen und Brustkrebs und überwiegend in frü-
hen Krankheitsphasen durchgeführt wurde. Bei
nur 10 % der Studien wurden Studienteilnehmer
mit einer erhöhten psychischen Belastung rekru-
tiert, was die Effekte insgesamt deutlich vermin-
dern dürfte. Viele RCTs haben kleine Fallzahlen
und beinhalten Vergleiche zwischen einer einzel-
nen aktiven Intervention und einer inaktiven
Kontrollbedingung, keiner Behandlung oder Rou-
tineversorgung, die in der Regel nicht definiert ist.
Insbesondere bei Einzelpsychotherapie und Ent-
spannungsverfahren scheint darüber hinaus ein
Publikationsbias vorzuliegen.
Mehnert A. Zur Diskussion des …Psychother Psych Med 2014; 64: 251–252
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Eine verbesserte Diagnostik und multimodale Behandlungsop-
tionen vor allem im Rahmen der Individualisierung onkologi-
scher Therapien führen dazu, dass immer mehr Patienten überle-
ben bzw. deutlich länger auch mit einer nicht kurativen Behand-
lungsperspektive leben. Trotz dieser hoffnungsvoll stimmenden
Entwicklung führt diese aber auch zu vielfältigen körperlichen
und psychosozialen Folgeproblemen für den einzelnen Patienten
und seine Angehörigen und stellt nicht zuletzt auch die psycho-
soziale Versorgung vor neue Herausforderungen [6] u.a. im Hin-
blick auf die Zunahme von älteren Patienten mit spezifischen Ge-
sundheits- und Versorgungsbedürfnissen.
Neben einer besseren Studienqualität insgesamt besteht ein drin-
gendes Forschungsdesiderat in der Entwicklung, Optimierung
und Überprüfung von manualisierten psychoonkologischen In-
terventionen für bislang kaum oder ungenügend untersuchte Pa-
tientengruppen mit unterschiedlichen Problemlagen im Rahmen
von RCTs. Dazu zählen unter anderem solche Patienten, die hohe
psychosoziale Belastungswerte aufweisen und körperlich wie
funktionell stark eingeschränkt sind wie bspw. Patienten mit
HNO-Tumoren, Lungenkrebs, hämatologischen Krebserkrankun-
gen oder Patienten in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien.
Psychotherapieforschung bei körperlich schwer kranken Patien-
ten ist aus methodischer wie auch aus konzeptueller Perspektive
mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden. Eine wichtige
Frage bezieht sich z.B. auf den zu erwartenden und realistischen
Outcome psychotherapeutischer Interventionen bei einem sich
verschlechternden körperlichen Zustand und entsprechend an-
gemessenen adaptiven Belastungsreaktionen im Verlauf der Er-
krankung. Der organisatorische Aufwand der Patientenrekrutie-
rung und der Therapieadhärenz ist bei fortschreitender Krank-
heit und einem ungewissen Krankheitsverlauf nicht unerheblich.
Auch sind inaktive Kontrollgruppendesigns (z.B. Wartegruppe)
aus ethischen Gründen kaum realisierbar.
Wenn die Ergebnisse von Psychotherapiestudien in der Onkolo-
gie einen zuverlässigen Leitfaden für politische Entscheidungs-
träger bieten sollen, die relativen Kosten und Nutzen der Wahl
einer bestimmten Therapie über andere (oder keine) zu beurtei-
len, muss sich die Evidenzlage weiter verbessern! Dies gilt nicht
nur für die Überprüfung der Wirksamkeit spezifischer psycho-
therapeutischer Interventionen, sondern auch für die Effektivität
von Beratungs- und psychosozialen Versorgungsmodellen.
Literatur
1 Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche
Krebshilfe, AWMF): Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Be-
handlung von erwachsenen Krebspatienten. Leitlinienreport 1.0,
AWMF-Registernummer: 032/051OL. 2014: http://leitlinienpro-
gramm-onkologie.de/Leitlinien.7.0.html [Stand: 16.6.2014]
2Sartorius N. Seelische Gesundheit: Standort und Perspektiven. Stutt-
gart: Schattauer; 2012
3Vehling S,Koch U,Ladehoff N et al. Prävalenz affektiver und Angststö-
rungen bei Krebs: systematischer Literaturreview und Metaanalyse.
Psychother Psychosom Med Psychol 2012; 62: 249–258
4Mehnert A,Vehling S,Scheffold K et al. Prävalenz von Anpassungsstö-
rung, Akuter und Posttraumatischer Belastungsstörung sowie somato-
formen Störungen bei Krebspatienten. Psychother Psychosom Med
Psychol 2013; 63: 466 –472
5Faller H,Schuler M,Richard M et al. Effects of Psycho-Oncologic Inter-
ventions on Emotional Distress and Quality of Life in Adult Patients
With Cancer: Systematic Reviewand Meta-Analysis. J Clin Oncol 2013;
31: 782–793
6Jung S,Wiedemann R,Höhl H-U et al. Zeit- und Personalaufwand für
stationäre psychoonkologisch-psychotherapeutische Versorgung. Psy-
chother Psychosom Med Psychol 2014; 64: 54–62
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